Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Berufung - Berufungsbeschränkung - Untätigkeitsklage - Wert des Beschwerdegegenstandes - Sachentscheidung - Prozessurteil - Zurückverweisung - Durchentscheidung
Leitsatz
1. Von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 Alt 2 SGG werden auch Untätigkeitsklagen erfasst, die auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet sind, der Geld-, Dienst- oder Sachleistungen betrifft, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen.
2. Hat das LSG über eine zulassungsbedürftige, aber nicht zugelassene Berufung in der Sache entschieden, kann das BSG auf Nichtzulassungsbeschwerde die Berufung als unzulässig verwerfen.
Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 Alt 2 SGG vom , § 88 Abs 1 SGG, § 88 Abs 2 SGG
Instanzenzug: Az: S 12 SB 189 /10 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 5 SB 203/10 Urteil
Gründe
1I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage.
2Nachdem das Sozialgericht Hildesheim (SG) mit Beschluss vom die Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss zurückgewiesen hatte, beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am beim beklagten Land, die Gebühren für ihre Tätigkeit im Erinnerungsverfahren auf 124,95 Euro festzusetzen. Dieses teilte daraufhin mit Schreiben vom den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass es nicht bereit sei, Gebühren für das Erinnerungsverfahren zu erstatten. Das SG habe mit Beschluss vom entschieden, dass im Erinnerungsverfahren keine Kostenentscheidung ergehe und insofern auch kein Kostenerstattungsanspruch bestehe. Hiergegen legten die Prozessbevollmächtigten am Widerspruch ein.
3Nachdem der Beklagte daraufhin mit Schreiben vom und die Auffassung geäußert hatte, bei dem Schreiben vom habe es sich nicht um einen Bescheid, sondern nur um eine Mitteilung gehandelt, sodass der Erlass eines Widerspruchsbescheids nicht in Betracht komme, erhoben die Prozessbevollmächtigten am (Untätigkeits-)Klage zum SG mit dem Ziel, den Beklagten zur Bescheidung des Widerspruchs zu verpflichten. Das der Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Widerspruch zu bescheiden. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) mit Urteil vom die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die (Untätigkeits-)Klage abgewiesen, weil diese unzulässig sei.
4Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt, die sie mit grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), dem Vorliegen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet. Das LSG hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des beklagten Landes als unzulässig verwerfen müssen.
5II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist unter Verstoß gegen Verfahrensrecht ergangen. Das LSG hätte die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Der von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt entsprechend § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Abänderung des Urteils des LSG und zur Verwerfung der Berufung des Beklagten.
6Die Klägerin hat den als Zulassungsgrund geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt. Mit ihrer Rüge, das LSG hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des Beklagten als unzulässig verwerfen müssen, macht die Klägerin sinngemäß geltend, dass statt der Entscheidung in der Sache ein Prozessurteil hätte ergehen müssen. Damit hat sie einen Verfahrensmangel bezeichnet (vgl BSGE 34, 236, 237 = SozR Nr 57 zu § 51 SGG; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 16; BSG SozR 4-1750 § 174 Nr 1 RdNr 4).
7Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor, denn das LSG hat zu Unrecht in der Sache entschieden. Die Berufung des Beklagten gegen den war nicht zulässig, sie hätte gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung bedurft.
8Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG (in der hier anwendbaren Fassung des Art 1 Nr 24 Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes <SGGArbGGÄndG> vom - BGBl I 444) bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt.
9Verschiedene Senate der Landessozialgerichte (vgl etwa SO NZB - RdNr 2; NZB - RdNr 8; - RdNr 23, 27; - RdNr 15) sind zwar der Auffassung, dass die Wertgrenze des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht für Untätigkeitsklagen gelte, weil mit diesen nur der Erlass eines beantragten, aber bisher nicht ergangenen Verwaltungsakts oder die Bescheidung eines Widerspruchs begehrt werden könne; eine Untätigkeitsklage sei demnach nicht auf eine Geld- oder Sachleistung gerichtet. Diese Auffassung übersieht jedoch, dass der Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG zwei Alternativen enthält, zum einen Klagen, "die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung" betreffen (1. Alt), zum anderen Klagen, die "einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt" betreffen (2. Alt).
10Von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG werden auch Untätigkeitsklagen erfasst, denn diese sind entweder auf die Vornahme eines beantragten, aber ohne zureichenden Grund innerhalb von sechs Monaten nicht erlassenen Verwaltungsakts gerichtet (§ 88 Abs 1 SGG), oder sie haben den Erlass eines Widerspruchsbescheides zum Gegenstand, wenn ohne zureichenden Grund innerhalb von drei Monaten über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist (§ 88 Abs 2 SGG). Betreffen die zu erlassenden Verwaltungsakte Geld-, Dienst- oder Sachleistungen, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen, unterliegt auch die Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung.
11Diese sich aus dem Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG ergebende Auslegung wird auch vom Sinn und Zweck der durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom (BGBl I 50) eingeführten Regelung gestützt. Danach sollen die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sog Bagatellfälle) entlastet werden (vgl BT-Drucks 12/1217, S 52, 71; BT-Drucks 16/7716, S 21; BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 16 S 45; BSG SozR 3-2500 § 81 Nr 8 S 40). Die gewählte Klageart ist mithin für die Anwendung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedeutungslos (so bereits Kummer, NZS 1993, 285, 288; vgl auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 144 RdNr 8). Entscheidend ist, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betrifft. Demnach kann auch eine Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG unterliegen, etwa wenn die Untätigkeit der Verwaltung darin besteht, dass sie über einen geltend gemachten Leistungsanspruch von geringem Wert nicht entscheidet oder einen Widerspruch, der einen sog Bagatellfall betrifft, nicht bescheidet (im Ergebnis ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom - L 1 KR 13/08 NZB - RdNr 11; - Breith 2010, 877, 879 = NZS 2011, 77, 78). So liegt der Fall hier.
12Die Klägerin hat, nachdem der Beklagte mit Schreiben vom mitgeteilt hatte, es bestehe kein Kostenerstattungsanspruch (in Höhe der von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin geltend gemachten 124,95 Euro), Widerspruch eingelegt und, nachdem dieser nach Ablauf von drei Monaten nicht beschieden worden war, Untätigkeitsklage nach § 88 Abs 2 SGG erhoben. Die Berufung des Beklagten gegen den der Untätigkeitsklage stattgebenden Gerichtsbescheid hätte mithin im Hinblick auf den Rechtsmittelstreitwert von 124,95 Euro nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung im Gerichtsbescheid des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG bedurft. Eine solche Zulassung liegt nicht vor. Eine Entscheidung über die Zulassung ist weder dem Tenor noch den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides zu entnehmen. Das SG hat dem Gerichtsbescheid lediglich die bei zulässiger Berufung übliche Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Diese genügt jedoch nicht den Anforderungen an eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung (vgl etwa BSGE 5, 92, 95; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 5; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 3 S 13). Das LSG hätte deshalb die Berufung des Beklagten nach § 158 SGG als unzulässig verwerfen müssen. Zugleich hätte es diesen darauf hinweisen können, dass innerhalb der noch offenen Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 SGG) eingelegt werden kann.
13Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit insoweit Gebrauch, als er das in der Sache entscheidende Urteil des LSG abändert. Von einer Zurückverweisung sieht er deshalb ab, weil das LSG - wie ausgeführt - die Berufung nur als unzulässig verwerfen könnte. Unter diesen Umständen kann der Senat die gebotene Entscheidung auch selbst treffen (zum ausnahmsweise zulässigen Durchentscheiden bei unzulässiger Klage: BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 22 f; B 9a VJ 7/05 B - RdNr 18).
14Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:061011BB9SB4511B0
Fundstelle(n):
NJW 2012 S. 10 Nr. 4
KAAAD-95522