EuGH Urteil v. - C-151/94

Steuerliche Diskriminierung wegen ausländischen Wohnsitzes

Leitsatz

1. Ein Mitgliedstaat verstösst gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 Absatz 2 des Vertrages und aus Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, wenn er nationale Rechtsvorschriften aufrechterhält, denen zufolge die zuviel einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der nur während eines Teils des Jahres im Inland niedergelassen oder dort im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt war, der Staatskasse verfallen und nicht erstattet werden können.

Die besondere Situation der zeitweise Gebietsansässigen kann es nämlich zwar objektiv rechtfertigen, daß spezifische Verfahrensregeln erlassen werden, um es den zuständigen Finanzbehörden zu ermöglichen, den auf die inländischen Einkünfte anzuwendenden Steuersatz zu bestimmen; sie kann jedoch nicht rechtfertigen, daß diese Gruppe von Steuerpflichtigen von der Erstattung von Steuern ° ausser im Rahmen eines Einspruchsverfahrens ° ausgeschlossen wird, während die zuviel einbehaltenen Steuern den ständig Gebietsansässigen von Rechts wegen erstattet werden.

2. Die Unvereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit Bestimmungen des Vertrages, selbst wenn diese unmittelbar anwendbar sind, kann abschließend nur durch zwingende innerstaatliche Bestimmungen behoben werden, die dieselbe rechtliche Wirkung besitzen wie die zu ändernden Bestimmungen.

Eine blosse Verwaltungspraxis, die die Verwaltung naturgemäß beliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt ist, kann nicht als eine rechtswirksame Erfuellung der Verpflichtungen aus dem Vertrag angesehen werden, da die betroffenen Rechtssubjekte bezueglich des Umfangs der ihnen vom Vertrag garantierten Rechte in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden.

Instanzenzug:

Gründe

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Großherzogtum Luxemburg dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und aus Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) verstossen hat, daß es Rechtsvorschriften aufrechterhält, denen zufolge die zuviel einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der nur während eines Teils des Steuerjahrs im Inland niedergelassen und/oder dort im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt war, der Staatskasse verfallen und nicht erstattet oder berichtigt werden können.

2 Nach luxemburgischen Steuerrecht erfolgt die Erstattung der zuviel einbehaltenen Einkommensteuer unterschiedlich, je nachdem, ob der Steuerpflichtige im Wege der Veranlagung besteuert wird oder nicht.

3 Der erste Fall betrifft den Steuerpflichtigen, der Löhne oder Gehälter bezieht, die einen bestimmten Betrag überschreiten, oder der erhebliche Einkünfte hat, die keinem Abzug an der Quelle unterliegen, und der daher zur Abgabe einer jährlichen Einkommensteuererklärung gegenüber der zuständigen Verwaltung verpflichtet ist, die auf dieser Grundlage einen Steuerbescheid erlässt. Nach Artikel 154 Absatz 5 der Loi sur l' imp_t sur le revenu (Einkommensteuergesetz, im folgenden: LIR; M+morial A Nr. 79 vom ) wird die zuviel gezahlte Steuer auf andere Steuerforderungen angerechnet oder anderenfalls dem Steuerpflichtigen von Amts wegen erstattet.

4 Der zweite Fall betrifft den Steuerpflichtigen, der im wesentlichen Einkünfte hat, die einem Abzug an der Quelle unterliegen und einen bestimmten Betrag nicht überschreiten. Nach Artikel 145 Absatz 1 LIR kommt er in den Genuß eines Lohnsteuerjahresausgleichs.

5 Allerdings muß der Steuerpflichtige, um in den Genuß der Erstattung der zuviel gezahlten Steuer nach Artikel 154 Absatz 5 LIR oder des Jahresausgleichs nach Artikel 145 Absatz 1 LIR zu kommen, während des Steuerjahrs mindestens neun Monate in Luxemburg ansässig bzw. im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt gewesen sein.

6 Artikel 154 Absatz 6 LIR bestimmt nämlich:

"Die einbehaltenen Steuern auf Löhne und Gehälter werden nicht erstattet, wenn sie bei Arbeitnehmern einbehalten wurden, die nur während eines Teils des Jahres gebietsansässige Steuerpflichtige sind, weil sie sich im Laufe des Jahres im Lande niederlassen oder das Land verlassen."

7 Ferner bestimmt Artikel 145 Absatz 1 LIR:

"Auf den Jahresausgleich hat nur der Steuerpflichtige Anspruch, der seinen steuerlichen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt während des ganzen Steuerjahrs im Großherzogtum hatte, sowie der Steuerpflichtige, der diese Voraussetzung nicht erfuellt, aber während mindestens neun Monaten des Steuerjahrs dort als Arbeitnehmer beschäftigt war und seine Tätigkeit dort während dieser Zeit ununterbrochen ausgeuebt hat."

8 Damit die Steuerpflichtigen, die die vorstehenden Voraussetzungen nicht erfuellen, gleichwohl in den Genuß einer Erstattung der zuviel gezahlten Steuer aus Billigkeitsgründen gelangen können, müssen sie beim Direktor der Steuerbehörde nach Artikel 131 Absatz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch erheben und eine im Hinblick auf ihre in diesem Jahr erzielten Einkünfte unverhältnismässige Belastung geltend machen.

9 Die Kommission trägt unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofes vom in der Rechtssache C-175/88 (Biehl, Slg. 1990, I-1779) vor, die Artikel 145 und 154 Absatz 6 LIR nähmen den Arbeitnehmern, die im Laufe des Steuerjahrs das Land verließen oder sich dort niederließen, das Recht auf Erstattung der zuviel gezahlten Steuer, wie es den ständig Gebietsansässigen zustehe. Diese Vorschriften beründeten somit gegenüber den Steuerpflichtigen, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machten, eine gegen Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 verstossende Diskriminierung.

10 Im übrigen stelle die Möglichkeit, Einspruch zu erheben, um eine erneute Prüfung der Verhältnisse der Steuerpflichtigen zu erreichen, keine ausreichende Garantie für den Schutz der unmittelbar durch den Vertrag eingeräumten Rechte dar, wenn keine ausdrückliche Änderung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften erfolge.

11 Die luxemburgische Regierung hält dem entgegen, die Artikel 145 und 154 Absatz 6 LIR sollten nicht die zeitweise gebietsansässigen Steuerpflichtigen um eine Erstattung bringen, auf die die ständig gebietsansässigen Steuerpflichtigen Anspruch hätten, sondern die Anwendung des Grundsatzes der Steuerprogression gewährleisten, indem sie verhinderten, daß das von den Finanzämtern üblicherweise befolgte Verfahren den zeitweise Gebietsansässigen aufgrund fehlender Informationen über die Jahreseinkünfte des Steuerpflichtigen ungerechtfertigte Erstattungen verschaffe. Die streitigen Vorschriften müssten im übrigen im Zusammenhang mit Artikel 131 Absatz 1 AO gesehen werden, wonach der Direktor der Steuerbehörde im Einzelfall Steuern, deren Einziehung unbillig wäre, ganz oder teilweise erlassen oder in solchen Fällen die Erstattung bereits entrichteter Steuern verfügen könne. Zudem würden die Steuerpflichtigen speziell über das Verfahren für eine zweckmässige Stellung eines Antrags auf Billigkeitserlaß unterrichtet.

12 Nach Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag umfasst die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten, u. a. in bezug auf die Entlohnung.

13 Insoweit hat der Gerichtshof im Urteil Biehl (a. a. O., Randnr. 12) für Recht erkannt, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung auf dem Gebiet der Entlohnung seiner Wirkung beraubt wäre, wenn er durch diskriminierende nationale Vorschriften über die Einkommensteuer beeinträchtigt werden könnte. Deshalb hat der Rat in Artikel 7 Absatz 2 seiner Verordnung Nr. 1612/68 vorgesehen, daß ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen steuerlichen Vergünstigungen genießt wie die inländischen Arbeitnehmer.

14 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (Urteil vom in der Rechtssache 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153, Randnr. 11).

15 In seinem Urteil Biehl (a. a. O.) ist der Gerichtshof aufgrund dessen zu dem Ergebnis gelangt, daß es Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag verbietet, daß nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats, wie z. B. nach Artikel 154 Absatz 6 LIR, die einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter zu Lasten eines Arbeitnehmers aus einem Mitgliedstaat, der nur während eines Teils des Jahres gebietsansässiger Steuerpflichtiger ist, weil er sich im Laufe des Steuerjahrs im Lande niederlässt oder das Land verlässt, der Staatskasse verfallen und nicht erstattet werden können. Das Kriterium der ständigen Ansässigkeit im Inland für eine mögliche Erstattung zuviel einbehaltener Steuern birgt nämlich, obwohl es unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betroffenen Steuerpflichtigen angewandt wird, die Gefahr, daß es sich besonders zum Nachteil der Steuerpflichtigen auswirkt, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten sind, da oft sie es sind, die das Land im Laufe des Jahres verlassen oder sich dort niederlassen.

16 Dasselbe gilt, aus den gleichen Gründen, für Rechtsvorschriften, nach denen der Steuerpflichtige, der nicht im Wege der Veranlagung besteuert wird, während des Steuerjahrs mindestens neun Monate im Inland beschäftigt gewesen sein muß, um in den Genuß des Jahresausgleichs nach Artikel 145 LIR zu kommen.

17 Der Umstand, daß es im luxemburgischen Recht ein Einspruchsverfahren gibt, das es den zeitweise gebietsansässigen Steuerpflichtigen erlaubt, zuviel gezahlte Steuern erstattet zu erhalten, wenn sie darlegen, daß die Anwendung von Artikel 154 Absatz 6 oder von Artikel 145 LIR für sie unbillige Folgen zeitigt, ist, wie der Gerichtshof bereits in seinem Urteil Biehl (a. a. O., Randnrn. 17 f.) festgestellt hat, nicht geeignet, in jedem Fall die diskriminierenden Folgen zu beseitigen, die aus der Anwendung der in Rede stehenden nationalen Vorschriften erwachsen (siehe auch Urteil vom in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Randnrn. 56 f.).

18 Nach ständiger Rechtsprechung kann die Unvereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit Bestimmungen des Vertrages, selbst wenn diese unmittelbar anwendbar sind, nämlich abschließend nur durch zwingende innerstaatliche Bestimmungen behoben werden, die dieselbe rechtliche Wirkung besitzen wie die zu ändernden Bestimmungen. Eine blosse Verwaltungspraxis, die die Verwaltung naturgemäß beliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt ist, kann nicht als eine rechtswirksame Erfuellung der Verpflichtungen aus dem Vertrag angesehen werden, da die betroffenen Rechtssubjekte bezueglich des Umfangs der ihnen vom Vertrag garantierten Rechte in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden (siehe u. a. Urteile vom in der Rechtssache C-80/92, Kommission/Belgien, Slg. 1994, I-1019, Randnr. 20, und vom in der Rechtssache C-307/89, Kommission/Frankreich, Slg. 1991, I-2903, Randnr. 13).

19 Im vorliegenden Fall hat die luxemburgische Regierung weder die Artikel 145 Absatz 1 und 154 Absatz 6 LIR abgeändert, um ihre Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht, wie sie sich aus dem Urteil Biehl entnehmen ließ, abzustellen, noch hat sie das Bestehen einer klaren und spezifischen nationalen Vorschrift nachgewiesen, die den zeitweise Gebietsansässigen nach dem Vorbild der in der fraglichen nationalen Regelung zugunsten der ständig Gebietsansässigen getroffenen Bestimmungen das Recht auf Erstattung der zuviel einbehaltenen Steuern einräumen würde.

20 Die luxemburgische Regierung hat geltend gemacht, die Berechnung der Steuererstattungen zugunsten eines zeitweise Gebietsansässigen setze voraus, daß die Finanzverwaltung über die ausländischen Einkünfte, die dieser Steuerpflichtige erzielt habe, bevor er sich im Großherzogtum niedergelassen oder nachdem er das Land verlassen habe, informiert werde, um den entsprechenden Steuersatz zu bestimmen, der im Rahmen des luxemburgischen Progressionssystems auf die luxemburgischen Einkünfte anzuwenden sei.

21 Hierzu ist festzustellen, daß die besondere Situation der zeitweise Gebietsansässigen es zwar objektiv rechtfertigen kann, daß spezifische Verfahrensregeln erlassen werden, um es den zuständigen Finanzbehörden zu ermöglichen, den auf die inländischen Einkünfte anzuwendenden Steuersatz zu bestimmen; sie kann jedoch nicht rechtfertigen, daß diese Gruppe von Steuerpflichtigen von der Erstattung von Steuern ° ausser im Rahmen eines Einspruchsverfahrens ° ausgeschlossen wird, während die zuviel einbehaltenen Steuern den ständig Gebietsansässigen von Rechts wegen erstattet werden.

22 Aus alledem folgt, daß das Großherzogtum Luxemburg dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag und aus Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 verstossen hat, daß es nationale Rechtsvorschriften aufrechterhält, denen zufolge die zuviel einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der nur während eines Teils des Jahres im Inland niedergelassen oder dort im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt war, der Staatskasse verfallen und nicht erstattet werden können.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Großherzogtum Luxemburg mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
UAAAD-91505