Strafverfahren: Belastende Verwertung einer widerlegten Einlassung; Voraussetzungen eines minder schweren Falls des Totschlags
Gesetze: § 261 StPO, § 212 StGB, § 213 StGB
Instanzenzug: Az: 604 Ks 25/10 Urteil
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die mit der Sachrüge geführte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
21. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3a) Der Angeklagte wurde am Abend des von dem später geschädigten Zeugen Ö. unter Verwendung eines Mobiltelefons der S. – einer gemeinsamen Bekannten – fünfmal beleidigend und bedrohend angerufen. Der Angeklagte nahm die Bedrohungen ernst und verließ die elterliche Wohnung, um Hilfe bei seinem Bruder zu suchen. Er traf auf Ö. , der von der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnenden Zeugin S. kam. Nach einer aggressiv geführten, hinsichtlich der Einzelheiten nicht aufklärbaren Unterhaltung (UA S. 14) kam es zu einer Schlägerei zwischen dem Angeklagten und Ö. , der schließlich obsiegte. Der Angeklagte ging in die elterliche Wohnung zurück, zog eine Jogginghose und feste Turnschuhe an und steckte ein kleines Klappmesser mit einer Klingenlänge von 5,5 cm ein. Er verließ die Wohnung, um Ö. erneut aufzusuchen und diesem die Urheberschaft der Anrufe nachzuweisen. Der Angeklagte traf auf ihn, als er gerade S. telefonisch von der für ihn erfolgreichen Auseinandersetzung berichtete. „Der Angeklagte forderte den Geschädigten erregt auf, die Anrufliste seines Handys zu zeigen. Damit wollte er den Nachweis erbringen, dass dieser bei ihm angerufen hatte. Der Geschädigte folgte dieser Aufforderung in dem Wissen, dass sein Handy keine Anrufe ausweisen würde, da er dazu das Handy der Zeugin S. benutzt hatte. Der Angeklagte war daraufhin enttäuscht und wütend, dass es ihm nicht gelungen war, dem Geschädigten die Anrufe nachzuweisen. Er forderte den Geschädigten auf, mit ihm zu der Zeugin S. zu kommen, um die Geschehnisse aufzuklären. Der Geschädigte lehnte dies ab. Dem Angeklagten wurde nunmehr klar, dass es ihm nicht gelingen würde, den Nachweis zu erbringen, dass und warum der Geschädigte bei ihm angerufen hatte. Wütend griff er mit seiner Hand in die Hosentasche, zog sein Messer hervor und öffnete dieses mit dem Klappmechanismus. Der Geschädigte, der gerade sein Handy einsteckte, bemerkte dies nicht. Der Angeklagte hielt das Messer in der rechten Hand, trat rechts an dem Geschädigten vorbei und stach diesem das Messer mit einer Schwungbewegung über die Schulter gezielt viermal in den oberen, linken Rücken. In der Rückwärtsbewegung stach er ein weiteres Mal von vorne links in den Oberbauch“ (UA S. 16 f.).
4b) Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten, er habe in Notwehr gehandelt, um einem Messerangriff des Ö. zuvorzukommen (UA S. 20), beweiswürdigend widerlegt. Es hat bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten aufgrund der Empfindlichkeit der getroffenen Körperregion und der Anzahl der Stiche angenommen (UA S. 34) und auf Folgendes abgestellt:
5„Vorliegend stach der Angeklagte mit seinem Messer mit einer Klingenlänge von 5,5 cm viermal in den oberen Rücken und einmal in den Bauch des Geschädigten. Der Angeklagte hat glaubhaft angegeben, dass er auch diese Körperregionen anvisiert hat, da er aufgrund der Körperhaltung des Geschädigten keine Chance sah, in dessen Beine zu stechen, was er Stichen in den Rücken vorgezogen hätte“ (UA S. 33).
62. Der so begründete Tötungsvorsatz hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat maßgeblich neben dem konkreten Einsatz des verhältnismäßig kleinen Messers Vorstellungen des Angeklagten während der Stichabgabe zu seinen Lasten herangezogen, die dieser ausschließlich zum Zweck seiner Verteidigung, zur Begründung der Notwehrlage angegeben hat. Nachdem das Landgericht diese Einlassung gänzlich widerlegt hat, durfte es nicht mehr vom Vorliegen eines Geständnisses hinsichtlich einer beabsichtigten Beibringung erheblicher Verletzungen ausgehen und dieses zum Nachteil des Angeklagten verwenden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. und – 5 StR 65/11 und 161/11; vgl. auch ).
73. Die Sache bedarf neuer Aufklärung und Bewertung mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tathergang und zum Tatvorgeschehen, die aufrechterhalten bleiben können. Diese umfassen auch den Ausschluss von Notwehr.
8Der Senat weist für den Fall einer erneut notwendig werdenden mittelbaren Heranziehung der Voraussetzungen der Vorschrift des § 213 Alternative 1 StGB darauf hin, dass maßgebend nicht ist, ob sich die Tat als Spontantat darstellt. Es kommt vielmehr darauf an, ob die in den Beleidigungen, den Bedrohungen und dem weiteren Verhalten des Opfers liegende Kränkung einen noch anhaltenden Zorn des Angeklagten hervorgerufen und den Angeklagten zu seiner Tat hingerissen hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 467/90, BGHR StGB § 213 Alternative 1 Hingerissen 1, und vom – 5 StR 358/10). Schon die bisherige Erwägung des Landgerichts, dass das bei der Vernehmung des Opfers in der Hauptverhandlung provokant zur Schau getragene Selbstbewusstsein die Kammer nachvollziehen lasse, dass sich durch dessen Auftreten gegenüber dem Angeklagten dessen Wut und Frustration weiter gesteigert und schließlich in den Messerstichen entladen hätte (UA S. 31), deutet auf einen solchen Zusammenhang hin. Dieser steht in einem Spannungsverhältnis zur festgestellten – zudem gar nicht maßgeblichen – „objektiven Entschärfung der Provokationslage“ (UA S. 47).
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JAAAD-88387