BGH Beschluss v. - V ZB 230/10

Verlängerung von Abschiebungshaft: Anforderungen an einen der Rechtsbeschwerde unterliegenden Beschluss

Gesetze: § 74 Abs 3 S 4 FamFG, § 559 Abs 2 ZPO, § 62 AufenthG

Instanzenzug: LG Kempten Az: 43 T 1273/10 Beschlussvorgehend AG Kempten Az: 2 XIV 26/10 Beschluss

Gründe

I.

1Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das gegen den aus der Türkei stammenden Betroffenen, der bereits aufgrund der Haftanordnung vom zur Sicherung der Abschiebung inhaftiert war, die Haftanordnung für die Dauer von höchstens drei Monaten verlängert. Nach Einlegung der Beschwerde gegen die erneute Haftanordnung ist der Betroffene am in die Türkei abgeschoben worden. Seitdem beantragt er die Feststellung, dass er in seinen Rechten verletzt worden ist. Das Landgericht hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Antrag weiter. Für die Durchführung des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat er Verfahrenskostenhilfe beantragt.

II.

2Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungshaft hätten vorgelegen. Insbesondere sei die Abschiebung auch mit dem notwendigen Nachdruck betrieben worden.

III.

31. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist ohne Zulassung statthaft, auch wenn das Beschwerdegericht bereits über den Feststellungsantrag nach § 62 FamFG entschieden hat (Senat, Beschluss vom - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 4). Das auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel (§ 71 FamFG) ist begründet.

4a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Entscheidungen der Vorinstanzen den Betroffenen schon deshalb in seinen Rechten verletzen, weil keine ausreichenden Feststellungen zur Verhältnismäßigkeit der Haftverlängerung getroffen worden sind.

5aa) Die Regelung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG lässt erkennen, dass im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine darüber hinausgehende Haftdauer nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf (Senat, Beschluss vom - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 19). Daraus folgt, dass die Verlängerung einer auf drei Monate befristeten Haftanordnung unzulässig ist, wenn die Abschiebung aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind (Senat, Beschluss vom - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 19; Beschluss vom - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 238 f. zu § 57 Abs. 2 AuslG). Dies erfordert eine Prognose, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt der (ersten) Haftanordnung (Senat, Beschluss vom - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1173 Rn. 18; Beschluss vom - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 18), überhaupt - also ohne Berücksichtigung der von dem Ausländer zurechenbar veranlassten Verzögerungen - hätte durchgeführt werden können (Senat, Beschluss vom - V ZB 76/11, juris Rn. 7).

6Diese Prognose hat der Haftrichter grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können, zu erstrecken (Senat, Beschluss vom - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 17; Senat, Beschluss vom - V ZB 76/11, juris Rn. 8). Hierzu sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können, erforderlich (Senat, Beschluss vom - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 17: Senat, Beschluss vom - V ZB 76/11, aaO). Der Tatrichter darf sich insoweit nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde beschränken, die Abschiebung werde voraussichtlich innerhalb von drei Monaten stattfinden können. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschluss vom - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 363).

7bb) Diesen Grundsätzen werden die Entscheidungen der Vorinstanzen schon deshalb nicht gerecht, weil keine Feststellungen dazu getroffen worden sind, dass ein türkischer Staatsangehöriger üblicherweise innerhalb von drei Monaten (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG) abgeschoben werden kann. Nur dann aber hätte ein verzögerndes Verhalten des Betroffenen ursächlich dafür sein können, dass die Abschiebung nicht innerhalb des genannten Zeitraums durchgeführt worden ist. Hinzu kommt, dass auch unter dem Blickwinkel des Beschleunigungsgebots (vgl. nur Senat, Beschluss vom - V ZB 111/10, juris Rn. 12), das mit zunehmender Haftdauer verstärkte Anstrengungen der Behörde bei der Beseitigung von nicht in der Person des Betroffenen liegenden Hindernissen verlangt, keine subsumtionsfähigen Tatsachen festgestellt worden sind. Die floskelhafte Wendung, die Abschiebung sei mit dem notwendigen Nachdruck betrieben worden, ersetzt nicht die erforderliche Feststellung der dieser Wertung zugrunde liegenden Tatsachen.

8b) Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Denn selbst wenn man unterstellt, dass die Abschiebung ohne ein schuldhaft verzögerndes Verhalten des Betroffenen innerhalb von drei Monaten hätte durchgeführt werden können und mit der erforderlichen Zügigkeit betrieben worden ist, hätte der - mittlerweile abgeschobene - Betroffene persönlich auch zu dem Ausmaß der ihm vorwerfbaren zeitlichen Verzögerungen angehört werden müssen. Eine inhaltlich unzureichende persönliche Anhörung des Betroffenen führt dazu, dass der Sachverhalt nicht in dem gebotenen Umfang aufgeklärt ist und die Haftanordnung nicht hätte ergehen dürfen (Senat, Beschluss vom - V ZB 3/10, FGPrax 2010, 261, 262 Rn. 22).

9c) Im Übrigen gibt die Beschwerdeentscheidung Anlass zu dem Hinweis, dass nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 113/10, juris Rn. 3; Senat, Beschluss vom - V ZB 95/10, juris Rn. 3; Senat, Beschluss vom - V ZB 119/10, juris Rn. 7; Senat, Beschluss vom - V ZB 180/08, juris Rn. 5; , NJW 2002, 2648, 2649; , NJW-RR 2002, 1571; , NJW-RR 2005, 78; , NJW-RR 2005, 916) Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt wiedergeben müssen. Eine Bezugnahme auf Aktenbestandteile oder auf Feststellungen des ersten Rechtszuges ist dabei nicht ausgeschlossen, setzt aber voraus, dass ihr Umfang zweifelsfrei gekennzeichnet ist und die Entscheidung des Beschwerdegerichts verständlich bleibt (BayObLG NJW-RR 1997, 396, 397; Bork/Jacoby/Schwab-Müther, FamFG, § 69 Rn. 5). Denn nach § 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, § 559 ZPO Abs. 2 Satz 4, § 559 ZPO hat das Rechtsbeschwerdegericht grundsätzlich von dem Sachverhalt auszugehen, den das Beschwerdegericht festgestellt hat (vgl. Senat, Beschluss vom aaO; Senat, Beschluss vom - V ZB 172/08, NJW 2009, 2135). Wird diesen Anforderungen nicht genügt, liegt ein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel vor, der die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung nach sich zieht (vgl. Senat, Beschluss vom aaO; Senat, Beschluss vom - V ZB 70/05, FamRZ 2006, 1030; Senat, Beschluss vom - V ZB 95/10, juris Rn. 3 f.; ,  aaO). Hier liegt es nur deshalb anders, weil der Sachverhalt, der für die Beurteilung der von dem Senat für entscheidungserheblich erachteten Rügen maßgeblich ist, in gerade noch ausreichender Weise den Gründen der Beschwerdeentscheidung in Verbindung mit den darin enthaltenen Bezugnahmen zu entnehmen ist. So liegt es hier.

102. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO; die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO (Senat, Beschluss vom - V ZB 218/09, juris, Rn. 27 f.).

IV.

11Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe liegen nicht vor. Die Bezugnahme des Betroffenen auf seine Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vom ist nicht ausreichend. Hat ein Betroffener in der Beschwerdeinstanz das nach § 117 Abs. 4 ZPO, § 1 i.V.m. Anlage 1 PKHVV vorgeschriebene Formular vollständig ausgefüllt zu den Akten gereicht, genügt in der Rechtsbeschwerdeinstanz eine Bezugnahme auf die vorliegende Erklärung, wenn sie unmissverständlich ist und Veränderungen seitdem nicht eingetreten sind (Senat, Beschluss vom - V ZB 214/10, juris Rn. 4; Senat, Beschluss vom - V ZB 8/04, FamRZ 2004, 1961). Dies gilt auch, wenn auf eine Erklärung in einem Parallelverfahren Bezug genommen wird (, BGHZ 148, 66; , FamRZ 1997, 546; Zöller/Geimer, ZPO, 28. Aufl., § 119 Rn. 53 mwN). So verhält es sich hier jedoch nicht. Aufgrund der Abschiebung in die Türkei am haben sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen vor Erhebung der Rechtsbeschwerde grundlegend verändert. Eine Erklärung des Betroffenen hierzu, von der auch unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes zumindest grundsätzlich nicht abzusehen ist (Senat, Beschluss vom aaO Rn. 10 f), liegt nicht vor.

Krüger                                                   Schmidt-Räntsch                                             Roth

                           Brückner                                                             Weinland

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 3450 Nr. 47
UAAAD-87021