Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Notwendigkeit einer Anknüpfung an das Unionsrecht – Offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofs
Instanzenzug: Tribunal de première instance de Liège (Belgien) vom ,
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 EU in seiner vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung und von Art. 234 EG.
Es ergeht in einem Steuerrechtsstreit zwischen Herrn Chatry und dem belgischen Staat.
Rechtlicher Rahmen
Art. 26 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Schiedshof (Moniteur belge vom ) in der insbesondere durch das Sondergesetz vom (Moniteur belge vom 31. Juli 2009) geänderten Fassung bestimmt:
"§ 1 Der Schiedshof trifft durch Entscheid Vorabentscheidungen zu Fragen betreffend:
...
3. die Verletzung durch ein Gesetz, ein Dekret oder eine in Artikel 134 der Verfassung erwähnten Regel der Artikel von Titel II 'Die Belgier und ihre Rechte' und der Art. 170, 172 und 191 der Verfassung,
...
§ 2 Wird eine solche Frage vor einem Gericht aufgeworfen, muss dieses den Schiedshof ersuchen, über diese Frage zu befinden.
Das Gericht ist dazu jedoch nicht verpflichtet:
...
2. wenn der Schiedshof bereits über eine Frage oder eine Klage mit identischem Gegenstand befunden hat.
...
§ 4 Wird vor einem Gericht hervorgehoben, dass ein Grundrecht, das auf ganz oder zum Teil ähnliche Weise durch eine Bestimmung von Titel II der Verfassung sowie durch eine Bestimmung des europäischen oder Völkerrechts gewährleistet ist, durch ein Gesetz, ein Dekret oder eine in Artikel 134 der Verfassung erwähnte Regel verletzt wird, ist das Gericht verpflichtet, dem Schiedshof zuerst die Vorabentscheidungsfrage betreffend die Vereinbarkeit mit der Bestimmung von Titel II der Verfassung zu stellen.
In Abweichung von Absatz 1 gilt die Verpflichtung, dem Schiedshof eine Vorabentscheidungsfrage zu stellen, nicht:
1. in den in den Paragraphen 2 und 3 erwähnten Fällen,
..."
Art. 28 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Schiedshof lautet:
"Das Gericht, das die Vorabentscheidungsfrage gestellt hat, und jegliches andere Gericht, das in derselben Sache zu befinden hat, müssen für die Lösung der Streitsache, anlässlich deren die in Artikel 26 erwähnten Fragen gestellt worden sind, den vom Schiedshof erlassenen Entscheid einhalten."
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorabentscheidungsfrage
Herr Chatry, der in Belgien wohnt, arbeitete als Informationsbeschaffer für eine auf die Verteidigung von Versicherten spezialisierte Gesellschaft mit Sitz in Belgien.
Nach einer Überprüfung berichtigte die belgische Steuerverwaltung die von Herrn Chatry für die Steuerjahre 1994, 1995 und 1996 erklärten Gewinne und berechnete die von ihm für diese Jahre geschuldeten direkten Steuern neu. Die Steuernachzahlung für das Jahr 1994 war am , die für das Jahr 1995 am und die für das Jahr 1996 am 25. August 1997 fällig.
Herr Chatry legte am 11. Februar und Einsprüche gegen die Steuernachzahlungsbescheide ein.
Am 30. November und wurden Herrn Chatry verjährungsunterbrechende Zahlungsaufforderungen zugestellt.
Die Einsprüche von Herrn Chatry wurden mit Bescheid der Steuerverwaltung vom größtenteils zurückgewiesen.
Am erhob Herr Chatry Klage beim Tribunal de première instance de Liège. Er machte geltend, dass direkte Steuern nach belgischem Recht fünf Jahre nach dem Fälligkeitstag verjährten und dass in den fünf Jahren nach dem jeweiligen Fälligkeitstermin der ihm auferlegten Steuernachzahlungen keine Verjährungsunterbrechung im Sinne des Art. 2244 des belgischen Zivilgesetzbuchs eingetreten sei. Bezüglich der beiden Zahlungsaufforderungen, die ihm 2001 zugestellt worden waren, beruft er sich auf die Rechtsprechung der belgischen Cour de cassation, nach der eine Zahlungsaufforderung, die für eine bestrittene Steuerschuld zugestellt werde, keine Verjährungsunterbrechung im Sinne dieses Art. 2244 bewirke.
Dagegen bekräftigte der belgische Staat, dass eine Zahlungsaufforderung nach Art. 49 des Programmgesetzes vom (Moniteur belge vom ) auch dann als eine die Verjährung unterbrechende Handlung im Sinne des Art. 2244 des belgischen Zivilgesetzbuches auszulegen sei, wenn die Steuerschuld bestritten sei.
Das vorlegende Gericht führt aus, der Schiedshof habe mit Urteilen vom und entschieden, dass Art. 49 des Programmgesetzes vom Rückwirkung habe, die die zugunsten der Bürger bestehenden Rechtsschutzgarantien beeinträchtige, dass er aber durch außergewöhnliche Umstände gerechtfertigt und aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses geboten sei.
Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts stellt Art. 49 des Programmgesetzes vom wegen seiner Rückwirkung einen Eingriff des Gesetzgebers in ein laufendes Gerichtsverfahren dar, der - im Fall von Herrn Chartry - nicht durch ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses und dem Schutz der Grundrechte des Betroffenen gerechtfertigt sei.
Das vorlegende Gericht meint jedoch, durch Art. 26 des Sondergesetzes vom über den Schiedshof, der das Gericht, vor dem geltend gemacht wird, dass eine Rechtsnorm ein sowohl durch eine Bestimmung der belgischen Verfassung als auch durch eine Bestimmung des europäischen oder Völkerrechts garantiertes Grundrecht verletzt, verpflichtet, die Frage der Verfassungsmäßigkeit der fraglichen Norm dem Schiedshof zur Vorabentscheidung vorzulegen, daran gehindert zu sein, die Konsequenzen aus dieser Feststellung zu ziehen. Nach Art. 26 § 4 Abs. 2 Nr. 1 und § 2 Abs. 2 Nr. 2 sei es im vorliegenden Fall zwar nicht zur Vorlage verpflichtet, weil der Schiedshof bereits zweimal die Vereinbarkeit von Art. 49 des Programmgesetzes vom mit der belgischen Verfassung bestätigt habe. Diese Entscheidungen des Schiedshofs hinderten es jedoch daran, eine auf die Umstände des konkreten Falls, mit dem es befasst sei, abstellende Kontrolle vorzunehmen.
Das Tribunal de première instance de Liège hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen Art. 6 EU und Art. 234 EG dem entgegen, dass ein innerstaatliches Gesetz, wie das vom zur Änderung von Art. 26 des Sondergesetzes über den Schiedshof, dem innerstaatlichen Gericht die Verpflichtung auferlegt, zunächst den Verfassungsgerichtshof zu befassen, wenn es feststellt, dass einem steuerpflichtigen Bürger durch eine andere innerstaatliche Gesetzesnorm, nämlich Art. 49 des Programmgesetzes vom , der effektive gerichtliche Schutz, der durch Art. 6 der am in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleistet wird und in das Gemeinschaftsrecht aufgenommen worden ist, genommen wird, ohne dass dieses Gericht die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbar gewährleisten und noch eine Prüfung der Vereinbarkeit mit internationalen Verträgen vornehmen kann, wenn der Verfassungsgerichtshof auf die Vereinbarkeit des innerstaatlichen Gesetzes mit den durch Titel II der belgischen Verfassung gewährleisteten Grundrechten erkannt hat?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
Die belgische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission, die schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind der Ansicht, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage nicht zuständig sei.
Zur Prüfung der Zuständigkeit des Gerichtshofs ist der Gegenstand der Vorlagefrage zu untersuchen.
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 234 EG Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, die zum einen den Gerichten dieses Mitgliedstaats vorschreiben, zunächst das mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen betraute nationale Gericht mit einer Frage nach der Vereinbarkeit einer Bestimmung des innerstaatlichen Rechts mit einem durch die Verfassung garantierten Grundrecht zu befassen, wenn zugleich die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit einem durch das Unionsrecht ganz oder teilweise garantierten Grundrecht fraglich ist, und zum anderen die Gerichte dieses Mitgliedstaats bezüglich der rechtlichen Würdigung des mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen betrauten nationalen Gerichts bindet.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Sicherstellung des Vorrangs des Unionsrechts Voraussetzung für das Funktionieren des Systems der Zusammenarbeit ist, dass es dem nationalen Gericht freisteht, in jedem Moment des Verfahrens, den es für geeignet hält, dem Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die es für erforderlich hält (vgl. Urteil vom , Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 52).
Im Einzelnen hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 234 EG Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit denen ein Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nationaler Gesetze eingeführt wird, soweit die Vorrangigkeit dieses Verfahrens zur Folge hat, dass sowohl vor der Übermittlung einer Frage der Verfassungsmäßigkeit an das mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen betraute nationale Gericht als auch gegebenenfalls nach Erlass der Entscheidung dieses Gerichts zu der betreffenden Frage alle anderen nationalen Gerichte an der Wahrnehmung ihrer Befugnis oder der Erfüllung ihrer Verpflichtung gehindert sind, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen (Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 57).
Es ist jedoch ebenfalls darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 234 EG für die Entscheidung über die Auslegung des EG-Vertrags sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union zuständig ist. Dabei beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die Prüfung der Bestimmungen des Unionsrechts (vgl. insbesondere Beschlüsse vom , Polier, C-361/07, Slg. 2008, I-6, Randnr. 9, und vom , Asparuhov Estov u. a., C-339/10, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 11).
Bei der Anwendung des Unionsrechts haben die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes zu beachten (vgl. Beschluss Asparuhov Estov u. a., Randnr. 13).
Ferner bestimmt Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), dass diese "für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union" gilt.
An dieser Einschränkung hat im Übrigen auch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am , mit dem die Charta und die Verträge gemäß dem neuen Art. 6 Abs. 1 EU rechtlich gleichrangig geworden sind, nichts geändert. Dieser Artikel stellt nämlich klar, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner Weise erweitert werden.
Das in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, auf das sich das vorlegende Gericht bezieht, ist zwar ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. u. a. Urteil vom , Der Grüne Punkt Duales System Deutschland/Kommission, C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Randnrn. 177 und 178) und in Art. 47 der Charta bestätigt worden, doch enthält die Vorlageentscheidung keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits eine Anknüpfung an das Unionsrecht aufweist. Der Ausgangsrechtsstreit, in dem ein belgischer Staatsangehöriger und der belgische Staat über die Besteuerung von Tätigkeiten streiten, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausgeübt wurden, weist keinerlei Bezug zu einem der durch die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit, den freien Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr geregelten Sachverhalte auf. Er betrifft auch nicht die Anwendung nationaler Maßnahmen, mit denen der betreffende Mitgliedstaat Unionsrecht durchführt.
Daraus folgt, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht dargetan ist.
Unter diesen Umständen ist auf der Grundlage von Art. 92 § 1 der Verfahrensordnung festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vom Tribunal de première instance de Liège vorgelegten Frage offensichtlich unzuständig ist.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) beschlossen:
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Tribunal de première instance de Liège (Belgien) vorgelegten Frage offensichtlich unzuständig.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
QAAAD-86555