Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - Ermessensentscheidung - Ermessensfehler - grobe Fehleinschätzung - Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention - fehlerhafte Gerichtsbesetzung - Richterbank - absoluter Revisionsgrund
Gesetze: § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 33 SGG, § 202 SGG, § 547 Nr 1 ZPO, Art 6 Abs 1 MRK
Instanzenzug: Az: S 15 AS 1899/09 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 1 AS 3893/10 Beschluss
Gründe
1I. Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen eines von dem Kläger geltend gemachten Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung für die Zeit vom bis .
2Der Beklagte bewilligte dem Kläger für diesen Zeitraum weiterhin die Regelleistung sowie Kosten für Unterkunft und Heizung; die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung lehnte er jedoch ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Nachdem der Kläger auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt hatte, dass er wegen der Kosten und "eindeutiger miserabler Verfassung seiner Gesundheit" auf eine mündliche Verhandlung verzichte, hat das SG die Klage ohne mündliche Verhandlung abgewiesen (Urteil vom ). Im Berufungsverfahren hat die zuständige Berichterstatterin den Kläger mit Schreiben vom darauf hingewiesen, dass der Senat nach den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen keinen Anlass zu weiteren Beweiserhebungen von Amts wegen sehe. Nach § 153 Abs 4 SGG könne er die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Diese Verfahrensweise sei aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt. Der Kläger hat daraufhin unter Hinweis auf die beim BSG anhängigen Verfahren B 4 AS 100/10 R und B 4 AS 138/10 R angeregt, die Entscheidung zurückzustellen (Schreiben vom ). Mit Beschluss vom hat das LSG Baden-Württemberg die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
3Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Mit Schreiben vom habe er sich hiermit einverstanden erklärt, sei aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwaltlich vertreten gewesen. Wäre er darüber belehrt worden, dass eine mündliche Verhandlung für ihn nicht mit Kosten verbunden sei, hätte er auf deren Durchführung bestanden. Seine Prozessbevollmächtigte habe gegenüber dem SG mit Schriftsatz vom angezeigt, dass er nunmehr anwaltlich vertreten sei. Ausweislich der richterlichen Verfügung vom sei diese Vertretungsanzeige jedoch erst zu den Akten gelangt, als der Rechtsstreit erstinstanzlich bereits entschieden worden sei. Auch der sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Nachdem er mit Schriftsatz vom angeregt habe, die beabsichtigte Entscheidung wegen anhängiger Verfahren beim BSG zurückzustellen, habe das LSG hierzu keine Stellung mehr genommen, sondern durch den streitgegenständlichen Beschluss entschieden. Er habe aber darauf vertrauen dürfen, dass es zu einem weiteren richterlichen Hinweis kommen würde, falls das LSG an der angekündigten Verfahrensweise festhalte. Die Entscheidung des LSG beruhe auf diesem Verfahrensfehler.
4II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor, weil der Beschluss des LSG unter Verletzung des § 153 Abs 4 SGG und damit in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung (§ 33 SGG) ergangen ist. Das LSG durfte nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne ehrenamtliche Richter entscheiden, sondern hätte aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden müssen.
5Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG, außer in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Voraussetzung für ein Vorgehen des LSG nach § 153 Abs 4 SGG ist also neben den Erfordernissen der Einstimmigkeit und der Ausübung des eingeräumten Ermessens, dass die Tatbestandsvoraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" erfüllt ist. Zwar steht die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zurückzuweisen, im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung überprüft werden (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; - SozR 4-1500 § 153 Nr 7; ). Insofern kann allein der Vortrag des Klägers, er habe auf das Schreiben der Berichterstatterin beim LSG angeregt, wegen der beim BSG anhängigen Verfahren zum ernährungsbedingten Mehrbedarf die Entscheidung zurückzustellen, die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung nicht begründen. Die Einschätzung des LSG, nach § 153 Abs 4 SGG entscheiden zu können, beruht jedoch deshalb auf einer groben Fehleinschätzung, weil es nicht ausreichend beachtet hat, dass (bereits) das SG ohne mündliche Verhandlung entschieden hatte, obwohl dies nicht zulässig war. Es liegt daher eine Konstellation vor, in der ausnahmsweise ein Verfahrensmangel des sozialgerichtlichen Klageverfahrens für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG bedeutsam bleibt.
6Bei der Beurteilung, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, ist zu beachten, dass diese das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ist (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33) und den Zweck verfolgt, dem Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihm den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Unter Beachtung der prozessrechtlichen Garantie des Art 6 Abs 1 EMRK (vgl hierzu auch Hauck in Hennig, SGG, § 124 RdNr 6, Stand September 2010) ist die Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Entsprechend gilt der Grundsatz, dass von einer Verfahrensweise nach § 153 Abs 4 SGG in Fallgestaltungen abzusehen ist, in denen ein Verfahrensbeteiligter noch nicht die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen (Beschluss vom - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7; - RdNr 6).
7Zwar ist eine Ausnahme von diesem Grundsatz für möglich gehalten worden, wenn in erster Instanz ein Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorliegt und ein Widerruf der Erklärung mangels wesentlicher Änderung der Verfahrenslage nicht in Betracht kommt (vgl B 11a AL 45/05 B; - RdNr 10). Es ist bereits zweifelhaft, ob die Mitteilung des Klägers gegenüber dem nach Eingang des Schreibens der neu beauftragten Bevollmächtigten des Klägers vom am noch als wirksame Einverständniserklärung angesehen werden konnte (vgl zum "Verbrauch" einer Einverständniserklärung bei einer Änderung der Prozess-, Beweis- oder Rechtslage - SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8; - RdNr 13), weil die Bevollmächtigte mit diesem Schreiben ihre Interessenvertretung des Klägers unter Beifügung einer Originalvollmacht angezeigt und eine weitere Begründung der Klage angekündigt hat. Gleichzeitig bat sie um Akteneinsicht in die Verwaltungs- sowie die Gerichtsakte.
8Das SG hat aber jedenfalls ermessenswidrig gehandelt, indem es am durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, weil es auch bei Vorliegen einer Einverständniserklärung der Beteiligten im Ermessen des Gerichts liegt, ob es dennoch eine mündliche Verhandlung durchführt ( - SozSich 1989, 313; BSGE 44, 292, 294 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Das Gericht muss sein Ermessen dahin ausüben, trotz vorliegender Einverständniserklärung aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, wenn eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach der Verfahrenslage höherrangige Prozessgrundrechte (zB den Anspruch auf rechtliches Gehör) verletzen würde (Hauck in Hennig, SGG, § 124 RdNr 43, Stand September 2010). Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Umstand, dass das Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers vom trotz Eingang am nach dem Inhalt des Vermerks des Kammervorsitzenden in erster Instanz vom erst nach der Entscheidung vom gleichen Tag zu den Akten gelangte, begründet ein Organisationsverschulden des Gerichts. Bei ordnungsgemäßer Prozessführung hätte das SG der Prozessbevollmächtigen Akteneinsicht gewähren und ausreichend Zeit zur Einarbeitung in den Sach- und Streitstand sowie für den bereits angekündigten ergänzenden Sachvortrag einräumen müssen. Mit der - ohne weiteren Hinweis an die Bevollmächtigte - erfolgten Entscheidung ohne mündliche Verhandlung hat das SG pflichtwidrig gehandelt. Unter Berücksichtigung dieses Verfahrensverstoßes des SG durfte das LSG nicht von dem Grundsatz, dass im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens zumindest eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist, abweichen.
9Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, bei einem Verstoß gegen § 153 Abs 4 SGG wegen der fehlerhaften Besetzung der Richterbank einen absoluten Revisionsgrund (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO) anzunehmen, bei dem nähere Ausführungen zur Kausalität entbehrlich sind (vgl - SozR 3-1500 § 153 Nr 13; - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 10 mwN; - RdNr 17). Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
10Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:060411BB4AS18810B0
Fundstelle(n):
YAAAD-86013