BGH Beschluss v. - 5 StR 394/10

Leitsatz

Leitsatz:

In Fällen, in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen Taten angeordnet wurde, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom (BGBl I 160) begangen worden waren, darf die Fortdauer der Maßregelvollstreckung über zehn Jahre hinaus auf der Grundlage der bis zu einer Neuregelung, längstens bis weiter anwendbaren Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB i.V.m. § 2 Abs. 6 StGB nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewaltoder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet; andernfalls ist die Maßregel - spätestens mit Wirkung zum - für erledigt zu erklären ( u.a.).

Gesetze: StGB § 2 Abs. 6, § 67d Abs. 3 Satz 1; Veröffentlichungen: Nachschlagewerk: ja

Gründe

Die verbundenen Vorlegungsverfahren (§ 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG) betreffen die Frage der Fortgeltung der bis gültigen Höchstdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren (§ 67d Abs. 1 Satz 1 StGB aF) in "Altfällen". Der Senat war berufen, darüber zu entscheiden, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom (NJW 2010, 2495) und entsprechende Folgeentscheidungen die deutschen Gerichte dazu zwingen, in Fällen, in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen Taten angeordnet wurde, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom (BGBl I 160) begangen worden waren, die Maßregel nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären.

1. Die vorlegenden Oberlandesgerichte Stuttgart, Celle und Koblenz möchten sofortige Beschwerden von Untergebrachten gegen landgerichtliche Fortdauerbeschlüsse verwerfen. Sie vertreten die Auffassung, dass auch unter Zugrundelegung der Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Erledigterklärung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in Altfällen nach Vollzug von zehn Jahren trotz fortbestehender Gefährlichkeit des Verurteilten nicht geboten sei. Vielmehr richte sich die Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung allein nach der gegenwärtigen Regelung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB. An der beabsichtigten Entscheidung sehen sie sich jedoch durch Beschlüsse anderer Oberlandesgerichte gehindert. Sie haben deshalb die jeweilige Sache zur Entscheidung der Rechtsfrage gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt.

2. Der Senat hat sich durch entgegenstehende Rechtsprechung des 4. Strafsenats (Beschluss vom - 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567) an der Entscheidung gehindert gesehen, dass sich aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine die Rückwirkung hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB ergibt; er hat die somit anzuwendende Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB allerdings einschränkend dahin ausgelegt, dass in Altfällen die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären ist, sofern nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Wegen der Einzelheiten wird auf den Anfragebeschluss vom in dieser Sache (NJW 2011, 240; zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt) Bezug genommen. Im Wesentlichen im Sinne des anfragenden Senats haben der 1. und der 2. Strafsenat (Beschlüsse vom - 1 ARs 22/10 - und vom - 2 ARs 456/10), im Sinne der entgegenstehenden Rechtsprechung des 4. Strafsenats der 3. und der 4. Strafsenat (Beschlüsse vom - 3 ARs 35/10 - und vom - 4 ARs 27/10) geantwortet.

3. Nunmehr hat das u.a. - die Regelungen des Strafgesetzbuchs über die Sicherungsverwahrung mangels ausreichender Wahrung des "Abstandsgebots" für unvereinbar mit dem - auch im Blick der Wertungen des Art. 7 Abs. 1 MRK auszulegenden - Freiheitsgrundrecht erklärt und eine gesetzliche Neuregelung bis verlangt. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht - neben der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - die rückwirkende unbefristete Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einer an den Wertungen des Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 MRK orientierten Auslegung für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht in seiner Ausprägung durch den rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutz erklärt; in solchen Altfällen hat es die Anordnung fortdauernder Unterbringung nur bei einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten des Untergebrachten, die aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten abzuleiten ist, und unter der weiteren Voraussetzung einer psychischen Störung des Verurteilten im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) für zulässig befunden; andernfalls sei spätestens mit Wirkung zum die Freilassung anzuordnen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Blick auf die eindeutig entgegenstehende Gesetzeslage eine Auslegung verworfen, nach der die Art. 5 und Art. 7 MRK als andere gesetzliche Bestimmungen im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB die Rückwirkung ausschließen (BVerfG aaO Rn. 164 f.). Infolge dieser mit Wirkkraft des § 31 BVerfGG ergangenen Entscheidung ist eine Bindung des Senats an die dahingehende Rechtsprechung des 4. Strafsenats entfallen, die noch Anlass für das Anfrageverfahren nach § 132 GVG gegeben hatte; einer Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen bedarf es nicht mehr (vgl. , BGHSt 46, 17, 20 f.; Hannich in KK-StPO, 6. Aufl., § 132 GVG Rn. 8).

4. Der Senat entscheidet danach in den Vorlageverfahren umfassend im Sinne der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. In Übereinstimmung mit den vorlegenden Oberlandesgerichten und mit der Stellungnahme des Generalbundesanwalts ist danach nicht etwa eine sofortige Entlassung der rückwirkend über zehn Jahre hinaus Untergebrachten wegen aus § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 5 und 7 MRK herzuleitenden gesetzlichen Ausschlusses der Rückwirkung geboten. Es bedarf indes in jedem Fall neuer vollstreckungsgerichtlicher Überprüfung anhand des durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Gefährlichkeitsmaßstabs, der mit dem durch den Senat entwickelten im Einklang steht (BVerfG aaO Rn. 156). Hinzu kommt das Erfordernis einer psychischen Störung, das sich an Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e MRK orientiert.

Der Senat merkt an, dass eine derartige psychische Störung, die - klar abweichend von den Voraussetzungen für eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB - nicht zu einer Einschränkung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB geführt haben muss (vgl. BVerfG aaO Rn. 152, 173), nach den Erkenntnissen aus den Vorlegungsbeschlüssen der Oberlandesgerichte in allen drei verbundenen Sachen im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen der betroffenen Sicherungsverwahrten vorliegen dürfte (vgl. Anfragebeschluss aaO Rn. 6, 14, 22). Er weist ferner darauf hin, dass eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung nach § 67d Abs. 2 StGB (Anfragebeschluss aaO Rn. 47) nur bei Erfüllung der einschränkenden Vorgaben für die Maßregelfortdauer möglich, bejahendenfalls indes aus den im Anfragebeschluss (aaO) angeführten Gründen unter den dort genannten Voraussetzungen auch nicht schlechthin ausgeschlossen ist.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
LAAAD-84646