Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Verletzung des Gehörsanspruchs bei Entscheidung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist
Leitsatz
Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darf das Gericht nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. Eine vorzeitige Entscheidung kann den Anspruch des Antragsstellers auf rechtliches Gehör verletzen und die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen .
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 85 Abs 2 ZPO, § 234 Abs 1 ZPO, § 236 Abs 2 ZPO, § 520 ZPO, § 574 Abs 2 Nr 2 ZPO
Instanzenzug: OLG Frankfurt Az: 4 U 170/10 Beschlussvorgehend LG Frankfurt Az: 2-7 O 374/08
Gründe
I.
1Die Kläger haben gegen ein Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main, das ihnen am zugestellt worden ist, rechtzeitig Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ist am bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main eingegangen. Die Kläger haben am gleichen Tag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und folgendes ausgeführt: Der Kläger zu 1 habe als Prozessbevollmächtigter der Kläger die Berufungsbegründung am mit der Anschrift: "Postfach 100 101, 60001 Frankfurt am Main" versehen abgesendet. Die Anschrift habe er dem Werk "NOMOS Taschenjurist 2008" entnommen. Der Brief sei am als unzustellbar zurückgekommen. Vom bis zum seien die Kläger urlaubsbedingt in Kanada gewesen und hätten erst bei ihrer Rückkehr von der fehlgeschlagenen Zustellung Kenntnis erhalten. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wenden sich die Kläger mit der Rechtsbeschwerde.
II.
2Das Berufungsgericht meint, der Kläger zu 1 habe es zu vertreten, dass die am versandte Berufungsbegründungsschrift nicht zugestellt werden konnte. Denn er habe eine seit Jahren nicht mehr existierende Postfachanschrift des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main verwendet, die er ungeprüft einem älteren Handbuch entnommen habe. Auch die urlaubsbedingte Abwesenheit könne die Kläger nicht entlasten, weil es der Kläger zu 1 als Rechtsanwalt fahrlässig unterlassen habe, während seiner Abwesenheit für eine tägliche Postkontrolle zu sorgen. Sein Verschulden müsse sich die Klägerin zu 2 gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.
III.
3Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Indem das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen hat, hat es den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt. Aus diesem Grund erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
41. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung jedes Schriftsatzes, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht (BVerfG, BVerfGE 53, 219, 222; vgl. auch Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 128 Rn. 6 jeweils mwN). Danach darf das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. Es ist unerheblich, ob es die Sache für entscheidungsreif hält, weil der Antragssteller innerhalb der Frist zu den Wiedereinsetzungsgründen ergänzend vortragen kann und darf.
52. Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen.
6Die Kläger haben in ihrem Wiedereinsetzungsantrag durch Vorlage von Unterlagen sowohl die Versendung der Berufungsbegründungsschrift am als auch ihre Rücksendung am und ihre Urlaubsreise vom bis glaubhaft gemacht. Davon ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Damit entfiel das Hindernis im Sinne von § 234 Abs. 2 ZPO am , als der Kläger zu 1 nach Urlaubsrückkehr von der fehlgeschlagenen Postzustellung Kenntnis erhielt. Gemäß § 187 Abs. 1 BGB begann der Lauf der Frist am und endete gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO und § 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB am . Die Verwerfung der Berufung schon am hatte zur Folge, dass sowohl die am bei Gericht eingegangene ergänzende Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs als auch der am eingegangene Schriftsatz bei der Entscheidung unberücksichtigt blieben. Unerheblich ist insoweit, dass der Schriftsatz vom eine Reaktion auf die Entscheidung des Berufungsgerichts darstellte.
73. Der Senat kann über den Wiedereinsetzungsantrag und damit über die Zulässigkeit der Berufung gemäß § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO abschließend entscheiden, da weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind. Die Verwerfung der Berufung erweist sich als rechtsfehlerhaft, weil die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen.
8a) Der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag ist auch der nicht berücksichtigte Vortrag der Kläger aus den Schriftsätzen vom und vom zugrunde zu legen. Beide Schriftsätze sind vor Ablauf der Antragsfrist am eingegangen.
9b) Danach haben die Kläger glaubhaft gemacht, dass die Verwendung der falschen Anschrift nicht auf einem Verschulden ihrerseits beruhte. Der Kläger zu 1 hatte keine Veranlassung, die dem "NOMOS Taschenjuristen" entnommene Anschrift anhand weiterer Quellen zu überprüfen. Insbesondere hat sich nicht ausgewirkt, dass er die Ausgabe aus dem Jahr 2008 verwendete, weil die Ausgabe von 2010 unverändert die offenbar bereits seit längerem nicht mehr gültige Postfachanschrift enthält. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat die Richtigkeit der in dem Werk wiedergegebenen Anschrift ausweislich des vorgelegten Schreibens sogar noch am gegenüber dem Verlag bestätigt. Darauf kommt es allerdings nicht entscheidend an, weil auch ein redaktioneller Fehler des Verlags nicht den Klägern zugerechnet werden könnte.
10c) Ein Verschulden fällt dem Kläger zu 1 auch nicht deshalb zur Last, weil er während seines Urlaubs nicht für eine Postkontrolle sorgte. Grundsätzlich muss ein Rechtsanwalt zwar eine berufsbedingt strenge Sorgfalt auch in eigenen Angelegenheiten walten lassen. Auch muss er gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 2 BRAO für eine Vertretung sorgen, wenn er sich länger als eine Woche von seiner Kanzlei entfernen will. Gleichwohl trifft den Kläger zu 1 kein Verschulden, weil eine Postkontrolle ohne die unverschuldete Verwendung einer falschen Anschrift nicht erforderlich gewesen wäre. Er hat durch seine als anwaltliche Versicherung zu wertende Erklärung glaubhaft gemacht, dass seine berufliche Tätigkeit ausschließlich in der außergerichtlichen Beratung von Steuerberatern besteht und unter normalen Umständen eine Postkontrolle nicht erfordert, weil seine Mandanten Zustellungen selbst entgegennehmen. In der fraglichen Zeit vertrat er als Anwalt bei Gericht nur dieses Verfahren, bei dem es sich um eine Privatangelegenheit handelt. Insoweit durfte er auf den üblichen Postlauf vertrauen und konnte aus seiner Sicht mit der Absendung der Berufungsbegründung fast einen Monat vor Fristablauf davon ausgehen, alles Notwendige veranlasst zu haben. Mit weiteren fristgebundenen Schreiben oder Rückfragen des Gerichts musste er für die Zeit seiner Abwesenheit nicht rechnen und hatte keine Veranlassung, für eine Vertretung zum Zwecke der Postkontrolle zu sorgen.
IV.
11Danach kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Die beantragte Wiedereinsetzung ist zu gewähren mit der Folge, dass das Berufungsgericht in der Sache über die Berufung zu befinden hat. Über die Gerichtskosten für das Rechtsbeschwerdeverfahren hat der Senat gemäß § 21 GKG entschieden.
Krüger Stresemann Czub
Brückner Weinland
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 1363 Nr. 19
NJW 2011 S. 8 Nr. 16
WAAAD-80095