BSG Urteil v. - B 14 AS 15/09 R

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Angemessenheitsprüfung - Ermittlung der Angemessenheitsgrenze - schlüssiges Konzept - Datenerhebung und -auswertung nach mathematisch-statistischen Grundsätzen - bei fehlenden Erkenntnismöglichkeiten Anwendung der Wohngeldtabelle - getrennte Angemessenheitsprüfungen - Unzulässigkeit der Pauschalierung von Heizkosten

Gesetze: § 22 Abs 1 S 1 SGB 2, § 10 WoFG, VVND-23400-MS-20030627-SF

Instanzenzug: SG Oldenburg (Oldenburg) Az: S 49 AS 1002/06 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 13 AS 128/07 Urteil

Tatbestand

1Streitig ist, ob den Klägern für den Zeitraum vom 1.6. bis höhere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung zustehen.

2Der 1959 geborene Kläger zu 1, die 1962 geborene Klägerin zu 2 und die 1998 geborene Klägerin zu 3 bewohnten eine 88,59 qm große Drei-Zimmer-Wohnung in W zur Miete. Seit Januar 2005 ist eine monatliche Brutto-Kaltmiete von 412 Euro zu entrichten (und ein Heizkostenabschlag von 120 Euro monatlich). Bereits mit Schreiben vom wurden die Kläger vom Beklagten aufgefordert, die Unterkunftskosten zu senken. Nachdem der Beklagte dann die Unterkunftskosten zunächst weiter übernahm, forderte er mit Schreiben vom die Kläger erneut zur Senkung der Unterkunftskosten bis zum auf. Die Miethöchstgrenze betrage 372 Euro monatlich (kalt).

3Der Beklagte bewilligte den Klägern sodann für den Zeitraum vom 1.6. bis lediglich Leistungen, die eine Brutto-Kaltmiete von 372 Euro (nebst Heizkosten von monatlich 96,73 Euro) berücksichtigten. Zur Begründung führte der Beklagte aus, es hätten nur noch angemessene Kosten der Unterkunft in der bewilligten Höhe übernommen werden können (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ).

4Das Sozialgericht (SG) hat auf die Klage durch Urteil vom den Beklagten verurteilt, den Klägern Kosten der Unterkunft in Höhe der rechten Spalte der Tabelle nach § 8 Wohngeldgesetz (WoGG) zuzüglich eines Zuschlags von 10 vH (451 Euro monatlich ohne Heizkosten) zu gewähren. Die vom Beklagten vorgelegten Tabellen gäben die tatsächlichen Mietpreise in W nicht wieder. Dementsprechend seien Unterkunftskosten zwar nicht in tatsächlicher, sondern in Höhe der Tabelle nach § 8 WoGG nebst eines Zuschlags von 10 vH zu gewähren.

5Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom den Beklagten auf dessen Berufung hin unter Änderung des Urteils des SG verurteilt, den Klägern für den Zeitraum vom 1.6. bis Leistungen unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 412 Euro sowie unter Berücksichtigung von Heizkosten in Höhe von 120 Euro im Monat zu gewähren. Im Übrigen hat es die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

6Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 22 Abs 1 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II). Er habe für die Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten nicht nur ein schlüssiges Konzept angewandt, sondern hieraus auch zutreffende Schlüsse gezogen.

7Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,die Urteile des Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen vom und des Sozialgerichts Oldenburg vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8Die Kläger beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,die Revision zurückzuweisen.

9Sie halten die Ausführungen des LSG für zutreffend.

10Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) erklärt.

Gründe

11Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann auf Grund der vom LSG festgestellten Tatsachen nicht abschließend beurteilen, ob der beklagte Grundsicherungsträger zur Feststellung der Angemessenheitsgrenze von einem schlüssigen Konzept ausgegangen ist und die Angemessenheitsgrenze ohne Rechtsfehler festgesetzt hat.

12Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom nur noch insoweit, als mit diesem Bescheid Leistungen für Kosten der Unterkunft für den Zeitraum vom 1.6. bis geregelt werden.

13Die Beteiligten haben den Streitgegenstand zulässigerweise auf die Kosten der Unterkunft beschränkt (ständige Rechtsprechung des BSG seit BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 18 ff). Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des Bundessozialgerichts (BSG) rechtlich zulässig. Eine weitere Begrenzung des Streitgegenstandes nur auf die Unterkunftskosten, ohne Berücksichtigung der Heizkosten, ist jedoch nicht möglich (vgl BSG aaO, RdNr 22).

14Das LSG hat den Beklagten verurteilt, den Klägern für den streitigen Zeitraum vom 1.6. bis Kosten der Unterkunft in Höhe von 412 Euro und Heizkosten in Höhe von 120 Euro monatlich zu bewilligen. Da die Kläger selbst keine Revision eingelegt haben, ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom bestandskräftig geworden, soweit mit diesem Bescheid höhere Leistungen abgelehnt worden sind.

15Die Kläger erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 SGB II bzw § 28 SGB II für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ihr Anspruch umfasst dem Grunde nach auch Leistungen für Kosten der Unterkunft. Diese werden gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Damit lässt sich der Gesetzgeber - anders als bei der pauschalierten Regelleistung - bei den Unterkunftskosten zunächst vom Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit leiten, indem er anordnet, auf die tatsächlichen Unterkunftskosten abzustellen. Diese sind im Grundsatz zu erstatten. Allerdings sind die tatsächlichen Kosten nicht in beliebiger Höhe erstattungsfähig, sondern nur insoweit, als sie angemessen sind. Die Angemessenheitsprüfung limitiert somit die erstattungsfähigen Kosten der Höhe nach. Die Angemessenheitsprüfung ist nicht ins Belieben der Verwaltung gestellt. Vielmehr sind weitere Konkretisierungen erforderlich, die schon auf Grund des allgemeinen Gleichheitssatzes nach einheitlichen Kriterien erfolgen müssen. Zum anderen fordert das Rechtsstaatsprinzip die Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der Begrenzung (vgl hierzu BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30, RdNr 12).

16Zur Konkretisierung der Angemessenheitsgrenze wird nach der Rechtsprechung des BSG in einem ersten Schritt die abstrakt angemessene Wohnungsgröße und der Wohnungsstandard bestimmt sowie in einem zweiten Schritt festgelegt, auf welchen räumlichen Vergleichsmaßstab für die weiteren Prüfungsschritte abzustellen ist. Insoweit ist das Vorgehen des LSG nicht zu beanstanden. Das LSG hat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG zur Bestimmung der Angemessenheit der Wohnungsgröße auf die Werte zurückgegriffen, welche die Länder auf Grund des § 10 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung (WoFG) festgesetzt haben (vgl BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3 RdNr 19). Insoweit ist das LSG unter Berücksichtigung der Wohnraumförderbestimmungen nach Nr 11 der Richtlinie über die soziale Wohnraumförderung in Niedersachsen (Wohnraumförderungsbestimmungen vom , NdsMinBl 2003, 580, zuletzt geändert durch Runderlass vom , NdsMinBl 2006, 973) von einer für die Kläger abstrakt angemessenen Wohnungsgröße von 75 qm ausgegangen. Auch bestehen keine Bedenken dagegen, die gesamte Fläche der Stadt W als maßgeblichen Vergleichsraum zu berücksichtigen (vgl hierzu bereits BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30, RdNr 15).

17Der Senat kann indessen auf Grund der bisherigen Feststellungen des LSG nicht beurteilen, welche Wohnungsmieten im maßgeblichen Vergleichszeitraum in W zu zahlen und welche davon als angemessen anzusehen sind.

18Stehen die abstrakt angemessene Wohnungsgröße und der maßgebliche Vergleichszeitraum fest, ist nach der Rechtsprechung des BSG in einem dritten Schritt nach Maßgabe der Produkttheorie zu ermitteln, wie viel auf diesem Wohnungsmarkt für eine einfache Wohnung aufzuwenden ist, dh, Ziel der Ermittlung des Grundsicherungsträgers ist es, einen Quadratmeterpreis für Wohnungen einfachen Standards zu ermitteln, um diesen nach Maßgabe der Produkttheorie mit der dem Hilfeempfänger zugestandenen Quadratmeterzahl zu multiplizieren und so die angemessene Miete feststellen zu können. Entscheidend ist hierbei, dass den Feststellungen des Grundsicherungsträgers ein Konzept zu Grunde liegt, das im Interesse der Überprüfbarkeit des Ergebnisses schlüssig ist. Die Begrenzung der tatsächlichen Unterkunftskosten auf ein "angemessenes Maß" soll auf diese Weise hinreichend nachvollziehbar gemacht werden.

19Der 4. Senat des BSG hat das dem vorliegenden Rechtsstreit zu Grunde liegende Konzept des Beklagten, der sich nicht auf einen qualifizierten Mietspiegel stützen kann (vgl zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts auf der Basis der Daten eines Mietspiegels die ; B 14 AS 2/10 R; B 14 AS 50/10 R), bereits einer eingehenden rechtlichen Überprüfung unterzogen (Urteil vom - B 4 AS 18/09 R = BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30 RdNr 19 ff). Der erkennende Senat macht sich insoweit für den vorliegenden Parallelfall die Rechtsauffassung des 4. Senats des BSG zum sog schlüssigen Konzept zu Eigen und verweist insoweit auf dessen Ausführungen unter RdNr 19 ff des zitierten Urteils vom .

20Der erkennende Senat teilt auch die Rechtsauffassung des 4. Senats hinsichtlich der Rechtsfolgen aus dem Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts seitens der beklagten Stadt W Diese hat zwar Daten über Mietpreise und den Wohnungsbestand erhoben, es kann jedoch nicht beurteilt werden, ob aus diesem Datenbestand zutreffende Schlüsse auf die Angemessenheitsgrenze gezogen werden können. Solche Rückschlüsse setzen voraus, dass nachvollziehbar ist, welche Wohnungen in die Datenerhebung einbezogen wurden. Schon hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Das LSG wird daher prüfen müssen, nach welchen Kriterien der beklagte Grundsicherungsträger die von ihm ausgewerteten Daten erhoben hat, insbesondere welche Wohnungen dabei berücksichtigt wurden. Ergeben diese Ermittlungen eine brauchbare Datengrundlage, wird das LSG möglicherweise in die Lage versetzt, eine Angemessenheitsgrenze selbst zu bestimmen. Ist dies nicht möglich, so ist nach der Rechtsprechung des BSG auf die Werte der Wohngeldtabelle (rechte Spalte) zu § 8 WoGG zuzüglich eines Zuschlags abzustellen (grundlegend = SozR 4-4200 § 22 Nr 29; vgl auch Urteil des Senats vom - B 14 AS 65/08 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 26, insbesondere RdNr 21).

21Das LSG wird auch unabhängig vom Vorliegen eines schlüssigen Konzepts hinsichtlich der Kosten der Unterkunft eine abschließende Entscheidung über die Angemessenheit der Höhe der Heizkosten zu treffen haben (grundlegend Urteil des Senats vom - B 14 AS 36/06 R = BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23). Das LSG hat - soweit ersichtlich - den Beklagten verurteilt, die tatsächlich monatlich anfallenden Heizkosten in Höhe von 120 Euro zu übernehmen. Dies entspricht vom Ansatzpunkt her der Rechtslage und der Rechtsprechung des BSG (BSG aaO). Der Anspruch auf Heizkosten gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II besteht zunächst jeweils in Höhe der konkret individuell geltend gemachten Aufwendungen. Eine Pauschalierung ist unzulässig. Nur wenn die Heizkosten über einem aus einem bundesweiten oder kommunalen Heizspiegel zu ermittelnden Grenzbetrag liegen, sind sie im Regelfall nicht mehr als angemessen zu betrachten (zur Ermittlung des Wertes aus diesem sog bundesweiten Heizspiegel vgl BSG aaO, RdNr 22 ff).

22Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:191010UB14AS1509R0

Fundstelle(n):
DAAAD-79090