NWB Nr. 4 vom Seite 249

Rechtsprechungsstetigkeit ist ein Rechtsgut von hohem Rang

Professor Dr. Hans-Joachim Kanzler | Vors. Richter des VI. Senats des BFH

Die außergewöhnlichen Belastungen in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung

Dass die Rechtsprechung zu den außergewöhnlichen Belastungen in jüngster Zeit in Fluss geraten ist, konnte kaum unbemerkt bleiben (s. etwa Editorial zu NWB 1/2011). Dies wird nicht ganz zu Unrecht auf einen Zuständigkeitswechsel zurückgeführt. Denn seit 2009 sind dem vor allem für die Lohnsteuer zuständigen VI. Senat des BFH wieder die außergewöhnlichen Belastungen übertragen, die er 1985 vorübergehend an den III. Senat des BFH abgegeben hatte. Es liegt daher auf der Hand, dass es zu Rechtsprechungsänderungen kommen kann, wenn sich andere Richter mit einer jahrzehntealten Rechtsprechung auseinandersetzen. Kaum bestreiten lässt sich auch, dass die Alleinzuständigkeit eines Senats für eine Materie einen Rechtsprechungswandel schon deshalb erleichtert, weil Divergenzanrufungen entbehrlich sind. Die neuere Entwicklung jedoch allein auf den „New Broom-Effect” zurückzuführen, wäre allerdings gar zu leichtfertig. Auch die Mitglieder des VI. Senats sind sich der Bedeutung der Rechts- und Rechtsprechungskontinuität durchaus bewusst. Der Große Senat des BFH hat die „Stetigkeit der Rechtsprechung des obersten Steuergerichts” als „Rechtsgut von hohem Rang” bezeichnet … „Trotzdem muss eine andere und bessere Rechtserkenntnis zur Änderung einer solchen Rechtsprechung dann führen, wenn schwerwiegende sachliche Erwägungen dafür sprechen” (, BStBl 1964 III S. 124, 126). Da die Urteile, die Aufmerksamkeit erregt haben, zugunsten der jeweiligen Kläger ergangen sind, entfällt auch die Grundsatzfrage des Vertrauensschutzes, auf den sich der Fiskus nicht berufen kann. Ihm stehen andere Mittel der Reaktion zu Gebote: Das Nichtanwendungsschreiben des BMF, das in letzter Zeit auch immer häufiger den Gesetzgeber zu einem „Nichtanwendungsgesetz” angeregt hat (s. nur Spindler, Gast-Editorial NWB 49/2010).

Wenn der VI. Senat des BFH zu einigen Problemen des Abzugs außergewöhnlicher Belastungen andere Lösungen gefunden hat, so geschah dies meist in Auseinandersetzung mit der eigenen, älteren Senatsrechtsprechung vor 1985. Diese Rechtsprechung hat der III. Senat zwar fortgeführt; er hat in besonderen Härtefällen aber bereits auch Ausnahmen zugelassen. Als Beispiele hierfür seien die Urteile des III. Senats zur Gegenwertlehre (, BFH/NV 2009 S. 728 „Treppenlift”) und zum Verzicht auf den Nachweis von Krankheitskosten durch amtsärztliches Attest genannt (, BStBl 1995 II S. 614, und v. - III R 54/98, BStBl 2001 II S. 94). Der VI. Senat des BFH geht hier vielleicht einen Schritt weiter, indem er diese Ausnahmen zur Regel macht und anders als nach seiner älteren Rechtsprechung den Tatbestand der außergewöhnlichen Belastungen nicht mehr als Billigkeitsregelung, sondern als Steuerermäßigung begreift, auf die der Steuerpflichtige – ungeachtet der unbestimmten Rechtsbegriffe – einen Anspruch hat.

Hans-Joachim Kanzler

Fundstelle(n):
NWB 2011 Seite 249
GAAAD-63705