BSG Urteil v. - B 1 KR 8/10 R

Krankenversicherung - Kostenübernahme von ärztlich verordnetem medizinisch notwendigen Rehabilitationssport in Gruppen

Leitsatz

Ein behinderter Versicherter kann ärztlich verordneten medizinisch notwendigen Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung von seiner Krankenkasse auch dann längerfristig beanspruchen, wenn er bezogen auf diesen Sport über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt.

Gesetze: § 11 Abs 1 Nr 4 SGB 5, § 11 Abs 2 S 1 SGB 5, § 11 Abs 2 S 3 SGB 5, § 12 Abs 1 SGB 5, § 27 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB 5, § 43 Abs 1 Nr 1 SGB 5, § 7 SGB 9, § 44 Abs 1 Nr 3 SGB 9

Instanzenzug: SG Regensburg Az: S 2 KR 258/07 Urteilvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 4 KR 156/08 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten über Leistungen für ärztlich verordneten Rehabilitationssport (Reha-Sport) in Gruppen.

2Der 1975 geborene Kläger leidet nach Frakturen der Brustwirbelkörper an einer Querschnittslähmung mit Spastik der unteren Extremitäten. Er wird krankengymnastisch behandelt und nimmt seit 1998 auf Kosten der Beklagten an den Übungsstunden einer Selbsthilfegruppe körperbehinderter Menschen teil. Am erhielt er vom Deutschen Rollstuhl-Sportverband die Lizenz zum Fachübungsleiter C Rehabilitationssport "Peripheres und zentrales Nervensystem".

3Am 27.11./ verordnete der Allgemeinmediziner Dr. P. dem Kläger - einen Leistungsantrag unterstützend - in einer Folgeverordnung weiteren Reha-Sport in der Form "Bewegungsspiele in Gruppen" mit dem Ziel des Erhalts der Selbstständigkeit und der Erweiterung der verbliebenen Funktionen. Der Arzt bestätigte die Notwendigkeit von 120 Übungseinheiten innerhalb eines Blocks von 36 Monaten wegen einer psychischen Belastungsreaktion des Klägers, um einer psychischen Dekompensation entgegenzuwirken. Die Ärztinnen Dr. L. und Dr. S. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) betonten jeweils in Stellungnahmen die Wichtigkeit der Übungsteilnahme für den Kläger bzw hielten eine ständige Bewegungstherapie für "zwingend erforderlich" und ein "angemessenes, regelmäßiges Sport- und Bewegungsprogramm" für ihn für "grundsätzlich … medizinisch sinnvoll". Beide sahen sich aber an der Befürwortung der Leistungsgewährung gehindert durch die in der "Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining" (vom ; Rahmenvereinbarung 2003) festgelegte Leistungshöchstdauer, die nur bei krankheits-/behinderungsbedingt fehlender Motivation überschritten werden dürfe. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme für weiteren Reha-Sport ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).

4Das SG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Er habe keinen Anspruch auf Reha-Sport in Gruppen gemäß § 27 Abs 1 Nr 6, § 40 SGB V iVm § 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX, weil derartige Aktivitäten nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 4-2500 § 43 Nr 1 - Funktionstraining) "Hilfe zur Selbsthilfe" bezweckten und nicht auf Dauer angelegt seien. Zwar sei der Reha-Sport beim Kläger medizinisch notwendig. Das allgemein auf die Steigerung oder Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit gerichtete Ziel des Reha-Sports könne der Kläger jedoch auch allein außerhalb seiner Gruppe erreichen; denn er verfüge mit seinen Kenntnissen als Übungsleiter über bessere Kenntnisse und höhere Motivation als "einfache" Teilnehmer solcher Veranstaltungen (Urteil vom ).

5Mit seiner Revision rügt der Kläger sinngemäß die Verletzung von § 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX iVm § 43 SGB V. Das LSG-Urteil lasse außer Acht lasse, dass der Anspruch auf Funktionstraining nicht mengenmäßig oder temporär beschränkt werden dürfe. Ähnlich wie beim Funktionstraining komme es für die Leistungspflicht für den Reha-Sport allein auf die medizinische Notwendigkeit an, die das LSG ausdrücklich bejaht habe. Der Betroffene dürfe dann nicht darauf verwiesen werden, den Reha-Sport eigenständig durchzuführen.

6In der mündlichen Verhandlung vom haben die Beteiligten in Bezug auf die begehrte Kostenerstattung für die Zeit von Dezember 2006 bis einen - an das Ergebnis des Revisionsverfahrens über den Naturalleistungsanspruch ab anknüpfenden - Teilvergleich geschlossen.

7Der Kläger beantragt,die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom und des Sozialgerichts Regensburg vom aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom zu verurteilen, ihn ab mit ärztlich verordnetem Rehabilitationssport in Gruppen zu versorgen,hilfsweise,das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

8Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

9Sie hält das LSG-Urteil für zutreffend.

Gründe

10Die zulässige Revision des Klägers ist begründet.

11Die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen Bescheide der beklagten Krankenkasse sind rechtswidrig und aufzuheben. Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten ärztlich verordneten Reha-Sport in Gruppen auch auf seinen Antrag von November 2006 hin für die Zeit ab .

12Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) - wie der Kläger - haben gemäß § 11 Abs 2 Satz 1 SGB V "Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehahabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung … abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern." Diese Leistungen werden unter Beachtung des SGB IX erbracht, soweit im SGB V nichts anderes bestimmt ist (§ 11 Abs 2 Satz 3 SGB V; vgl BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 § 40 Nr 4, RdNr 18 mwN). § 43 Abs 1 Nr 1 SGB V regelt, dass die Krankenkasse neben den Leistungen, die nach § 44 Abs 1 Nr 2 bis 6 SGB IX sowie nach §§ 53 und 54 SGB IX als ergänzende Leistungen zu erbringen sind, weitere Leistungen zur Reha ganz oder teilweise erbringen oder fördern kann, wenn sie zuletzt Krankenbehandlung gewährt hat oder leistet. § 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX sieht als ergänzende Leistung ua zur medizinischen Reha, welche die in § 6 Abs 1 Nr 1 bis 5 SGB IX genannten Reha-Träger (ua die Beklagte, § 6 Abs 1 Nr 1 SGB IX) zu erbringen haben, "ärztlich verordneten Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" vor.

13Aus dem Wortlaut des § 43 Abs 1 SGB V ("zu erbringen ... sind") folgt, dass ein Rechtsanspruch auf die ergänzende Leistung "Reha-Sport in Gruppen" besteht, wenn die in der Regelung genannten Voraussetzungen vorliegen. Die Verweisung des § 43 Abs 1 SGB V auf die darin angesprochenen Regelungen des SGB IX über die Erbringung ergänzender Leistungen zur Reha bewirkt, dass diese Regelungen im Bereich der GKV Anwendung finden, weil das SGB V für den in § 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX geregelten Reha-Sport nichts Abweichendes iS von § 11 Abs 2 Satz 3 SGB V und § 7 SGB IX bestimmt (vgl bereits BSG SozR 4-2500 § 43 Nr 1 RdNr 20 mwN in Bezug auf die parallele Situation beim Funktionstraining).

14Wie der Senat bereits für das "Funktionstraining" am entschieden hat, ist die Rahmenvereinbarung 2003 grundsätzlich nicht geeignet, eigenständig und gegen die gesetzlichen Vorgaben einen höchstzulässigen Leistungsumfang für reha-bedürftige Leistungsberechtigte in Bezug auf ergänzende Leistungen zu begründen (BSG SozR 4-2500 § 43 Nr 1 RdNr 31 ff). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Auch im vorliegenden Fall ist die Rahmenvereinbarung noch in der bis geltenden Fassung anzuwenden, da sich die zum geänderte Neufassung nur auf ärztliche Verordnungen vom an bezieht (Nr 20.3 Rahmenvereinbarung 2007). Diese Rechtslage gilt entsprechend für die ergänzende Leistung "Reha-Sport in Gruppen". Dem folgt inzwischen auch die Beklagte. Auf die von der Beklagten ursprünglich hervorgehobenen, vermeintlich leistungsausschließenden Umstände kommt es damit nicht an.

15Wie der Senat in seinem oa Urteil (aaO RdNr 18 ff) im Einzelnen dargelegt hat, geben die maßgeblichen gesetzlichen Rechtsgrundlagen für eine Höchstdauer der Gewährung von ergänzenden Leistungen nach § 43 Abs 1 Nr 1 SGB V iVm § 44 Abs 1 Nr 2 bis 6 SGB IX für Versicherte der GKV nichts her. Eine Einschränkung der Anspruchsdauer kann sich vielmehr allein dadurch ergeben, dass die Leistungen jeweils individuell im Einzelfall geeignet, notwendig und wirtschaftlich sein müssen (vgl § 11 Abs 2 Satz 1 SGB V, § 43 Abs 1 SGB V iVm § 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX, § 12 Abs 1 SGB V). Dementsprechend hatte der Senat in seinem oa Urteil die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen, um noch feststellen zu lassen, ob die begehrten (ärztlich zu verordnenden) Leistungen im dortigen Fall akzessorisch zu einer zuvor oder gleichzeitig zu gewährenden Hauptleistung (Maßnahme der Krankenbehandlung einschließlich medizinischer Reha) waren - solche Leistungen ergänzten -, und ob sie "notwendig" iS der genannten Regelungen des SGB V und SGB IX waren. Derartiges ist vorliegend indessen auf der Grundlage der für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG zu bejahen.

16Im Fall des Klägers hat das LSG festgestellt, dass die ihm ärztlich verordneten ergänzenden Leistungen die ihm ebenfalls gewährte Krankengymnastik - ein Heilmittel - ergänzten. Es ist ferner gestützt auf die Beurteilung von MDK-Ärztinnen davon ausgegangen, dass der Reha-Sport bei dem querschnittsgelähmten und daher in besonderer Weise gesundheitlich beeinträchtigten Kläger medizinisch notwendig ist, weil die in der Rahmenvereinbarung aufgelisteten Vorgaben erfüllt sind. Soweit das LSG allerdings angenommen hat, auch der hier begehrte Reha-Sport bezwecke bloße "Hilfe zur Selbsthilfe" und sei nicht auf Dauer angelegt, kann ihm nicht gefolgt werden. Das lässt bezogen auf die hier betroffene GKV § 2a SGB V außer Betracht, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist. Die Auffassung misst ferner dem besonderen Anliegen, behinderten Menschen zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe besondere Rechte zu gewähren (§ 10 SGB I, § 1 SGB IX) und dem auch ihnen im Rahmen der Rechtsvorschriften eingeräumten Wunsch- und Wahlrecht (§ 33 SGB I) zu geringe Bedeutung bei.

17Zu Unrecht stützt sich das LSG zum Beleg für seine Auffassung auf das zum Funktionstraining (vgl BSG SozR 4-2500 § 43 Nr 1 RdNr 36). Während beim "Funktionstraining in Gruppen unter fachkundiger Anleitung und Überwachung" in Betracht kommt, dass der Betroffene nach Erlernen von Übungen in der Gruppe (zB Wassergymnastik) nach bestimmter Zeit der fachkundigen Anleitung und Überwachung in der Lage ist, derartige Übungen auch eigenständig durchzuführen und einer gruppenweise durchgeführten Maßnahme nicht mehr bedarf, gilt das nicht in gleicher Weise für den Reha-Sport in Gruppen.

18Die Sachlage bei der vom Gesetz von vornherein nicht nur als "Reha-Sport", sondern ausdrücklich als Reha-Sport "in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" bezeichneten ergänzenden Leistung unterscheidet sich von derjenigen des Funktionstrainings in wesentlicher Hinsicht und kann folglich auch unterschiedlich geartete Ansprüche auslösen und in Bezug auf die "Notwendigkeit" anders beurteilt werden. Das Gesetz misst bereits durch die Leistungskennzeichnung der Betätigung behinderter Menschen gerade in einer rehabilitationsorientierten Sportgruppe einen besonderen Stellenwert im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit bei, der über denjenigen des gesundheitlichen Nutzens allgemeinen Sporttreibens und sinnvoller regelmäßiger körperteilbezogener gymnastischer Übungen hinausgeht. Die Hervorhebung des Sports "in Gruppen" beruht hier offensichtlich auf der Erkenntnis, dass für behinderte Menschen - zumal für Menschen, die wie der Kläger in jungen Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen sind - häufig nur eine begrenzte Zahl von Sportarten in Betracht kommen wird (vgl hierzu allgemein die in Nr 5 bis 5.3 Rahmenvereinbarung 2003 hervorgehobenen Reha-Sportarten). Insoweit wirkt gerade das Gemeinschaftserlebnis, mit anderen vergleichbar Betroffenen Sportliches leisten zu können, in besonderer Weise rehabilitativ. Selbst die Rahmenvereinbarung 2003 enthält teilweise bereichsspezifische Regelungen für "Reha-Sport" einerseits (Nr 2 bis 2.5, 4, 4.2, 4.4.2, 4.4.3, 4.6, 5 bis 5.3, 8 bis 8.8, 10 bis 10.3, 12 bis 12.2, 13 bis 13.3) und "Funktionstraining" andererseits (Nr 3 bis 3.4, 4.4.4, 6, 9 bis 9.8, 11 bis 11.4, 14 bis 14.4). Entsprechend wäre im Falle des Klägers auch gar nicht einmal erkennbar, auf welche von ihm nur als Einzelperson zu betreibende und dem Reha-Sport in einer Gruppe gleichwertige sportliche Alternative - zumal "unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" - er zumutbar verwiesen werden könnte, insbesondere dann, wenn sein Revisionsvorbringen zutreffen sollte, dass es bislang wesentlich auch um die Teilnahme am Rollstuhlbasketballsport ging.

19Nach der dargestellten Zielrichtung des Reha-Sports in Gruppen ist die Notwendigkeit demnach auch unabhängig davon zu beurteilen, über welche individuellen Vorkenntnisse der jeweilige Leistungsberechtigte bereits verfügt. Nach Sinn und Zweck der ergänzenden Maßnahme, Betroffenen im Rahmen ihrer medizinisch notwendigen Reha und Krankenbehandlung auch sportliche Gruppenaktivitäten auf Kosten der GKV zu ermöglichen, kommt es damit nicht darauf an, dass der Kläger die formelle Befähigung zum Fachübungsleiter für Reha-Sport besitzt.

20Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:021110UB1KR810R0

Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 10 Nr. 8
WAAAD-59460