Leitsatz
Leitsatz:
Beantragt ein Beteiligter unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung die Verlegung eines Verhandlungstermins und entscheidet das LSG trotz erneuter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über eine nicht vorhandene Reisefähigkeit auf Grund einer neu anberaumten mündlichen Verhandlung ohne Teilnahme des Beteiligten durch Urteil, so sind der Anspruch auf rechtliches Gehör und auf Durchführung eines fairen Verfahrens verletzt.
Instanzenzug: LSG Baden-Württemberg, L 12 AL 2615/06 vom SG Karlsruhe, S 11 AL 686/01
Gründe
I
Streitig sind die Rücknahme der Bewilligung und Erstattung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom bis in Höhe von 171.146,60 DM und der Ersatz von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung für diese Zeit in Höhe von 38.097,04 DM (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ) und die Zahlung von Alhi ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom ; Urteil des Landessozialgerichts [LSG] Baden-Württemberg vom ).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger das Vorliegen von Verfahrensmängeln geltend. Das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sowie gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens und die Sachaufklärungspflicht verstoßen. Er habe um Verlegung des vorangegangenen Verhandlungstermins vom unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung gebeten, weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht an dem Gerichtstermin habe teilnehmen können. Das LSG habe diesen Termin dann aufgehoben und ihm nach Rückfrage bei dem behandelnden Arzt mit Schreiben vom mitgeteilt, dass der Rechtsstreit Mitte Dezember des Jahres erneut terminiert werde, weil bis dahin Reisefähigkeit wieder vorliegen dürfe. Eine erneute Verlegung komme - so das LSG - nur in Betracht, wenn er (noch) nicht reisefähig sei oder sich in stationärer Behandlung befinde. Nach Anberaumung des neuen Termins zur mündlichen Verhandlung auf den habe Dr. N allerdings gegenüber dem LSG mit Fax vom bestätigt, dass er (der Kläger) aus gesundheitlichen Gründen nicht reisefähig sei und daher nicht an der Verhandlung teilnehmen könne. Dennoch habe das LSG auf Grund mündlicher Verhandlung vom durch Urteil entschieden. Mit dem Fax vom sei jedenfalls konkludent ein Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung am gestellt worden. Auf Grund des gerichtlichen Anschreibens vom habe er davon ausgehen können, dass die rechtzeitig vor dem Termin übersandte ärztliche Bescheinigung über eine nicht vorhandene Reisefähigkeit zu einer (erneuten) Verlegung des Termins führen werde.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Der Kläger macht zu Recht eine Verletzung seines Anspruchs auf Durchführung eines fairen Verfahrens bzw seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend. Er hat - zutreffend - gerügt, ihm sei die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vom durch das Verhalten des LSG verwehrt worden. Dem LSG sind insofern Verfahrensfehler (Verletzung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahrens; Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach § 62 Sozialgerichtsgesetz [SGG], Art 103 Abs 1 Grundgesetz [GG]) unterlaufen, auf denen sein Urteil beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
Das aus Art 2 Abs 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl hierzu etwa: Bundessozialgericht [BSG] SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6 mwN; -, NJW 2004, 2149, 2150) beinhaltet eine Fürsorgepflicht des Gerichts ( -, juris RdNr 6) und die Rücksichtnahme auf Verfahrensbeteiligte in ihrer konkreten Situation (BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 4). Diese Grundsätze hätten es geboten, dass das LSG nach Übersendung der ärztlichen Bescheinigung des Dr. N vom in gleicher Weise wie bei dem vorangegangenen Verhandlungstermin vom durch Nachfrage bei diesem Arzt oder dem Kläger abklärt, welche Erkrankungen vorliegen. Aus den Vorgängen um die Verlegung des vorangegangenen Verhandlungstermins vom war dem LSG bekannt, dass der Kläger in jedem Fall an einer mündlichen Verhandlung teilnehmen wollte. Dies hatte der Kläger ausdrücklich erklärt, indem er im Zusammenhang mit der vormaligen Übersendung der ärztlichen Bescheinigung des Dr. N die Verlegung dieses Verhandlungstermins beantragt hatte (Schreiben des Klägers vom ). Das LSG durfte auch nicht ohne weitere Nachfrage bei dem nicht rechtskundig vertretenen Kläger davon ausgehen, dass er mit der Übersendung der ärztlichen Bescheinigung lediglich seine Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung entschuldigen, nicht jedoch an dem Termin teilnehmen wollte. Schließlich konnte der Kläger dem Schreiben des entnehmen, dass ein Verhandlungstermin nur stattfinden sollte, wenn seine Reisefähigkeit gegeben war.
Hierdurch hat das LSG gleichzeitig den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) verletzt. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet, dass die Beteiligten ua auch in der mündlichen Verhandlung als dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (BSGE 44, 292, 292f = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57) ausreichend Gelegenheit zu sachgemäßen Erklärungen haben müssen. Wird auf Grund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Zwar kann nach entsprechenden Hinweisen in der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch bei Ausbleiben eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden ( -, juris RdNr 11; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 110 RdNr 11). Hieran ist das Gericht jedoch gehindert, wenn erhebliche Gründe für eine Terminsverlegung oder -vertagung vorliegen (Leitherer, aaO, § 110 RdNr 4b) und ein Beteiligter wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen ( -, juris RdNr 7). Ein erheblicher Grund für die Verlegung eines Termins kann die durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesene Erkrankung eines nicht vertretenen Beteiligten sein ( -, juris RdNr 2; -, juris RdNr 17). Unter Beachtung dieser Grundsätze hätte das LSG auf die rechtzeitig vor dem Termin übersandte ärztliche Bescheinigung des Dr. N vom reagieren müssen. Es hätte nicht ohne nähere Erkundigungen über Ausmaß und Umstände seiner Erkrankung die ärztliche Bescheinigung als nicht ausreichend ansehen dürfen ( -, juris RdNr 17).
Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (§ 202 SGG iVm § 551 Zivilprozessordnung [ZPO]), ist doch "wegen des Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten - wie hier den Kläger - daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung beeinflusst hat (BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; -, juris RdNr 15). Näherer Darlegungen des Klägers dazu, inwiefern das Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann, sind daher nicht erforderlich.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das Revisionsgericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen. Hiervon hat der Senat Gebrauch gemacht.
Das LSG wird im Berufungsverfahren ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
HAAAD-59452