BGH Beschluss v. - VI ZB 30/10

Zurückweisung des Prozesskostenhilfeantrags wegen fehlender Erfolgsaussicht: Verwirkung des Beschwerderechts

Leitsatz

Zur Frage der Verwirkung des Beschwerderechts gegen die Zurückweisung des Antrags auf Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung .

Gesetze: § 242 BGB, § 127 Abs 2 S 2 ZPO

Instanzenzug: OLG Frankfurt Az: 8 W 8/10 Beschlussvorgehend LG Frankfurt Az: 2-18 O 115/06 Beschluss

Gründe

I.

1Der Antragsteller begehrt Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Schadensersatz für die Folgen des am von der Fahrerin des bei der Antragsgegnerin versicherten Pkw verursachten Auffahrunfalls.

2Nach Eingang des Prozesskostenhilfeantrags und Klageentwurfs des Antragstellers am wies die Einzelrichterin am Landgericht in der Verfügung vom auf die Verjährungseinrede der Beklagten hin. Sie setzte Frist zur Stellungnahme bis und gab den Parteien auf, vorprozessualen Schriftverkehr vorzulegen. Die Parteien äußerten sich dazu schriftsätzlich am 26. Oktober, 8. November und . Durch Beschluss vom wies das Landgericht das Prozesskostenhilfegesuch mit der Begründung zurück, dass die Rechtsverfolgung keine Erfolgsaussicht habe, weil die Ansprüche verjährt seien. Der Beschluss ging der Antragsgegnerin am zu. Eine Zustellung an die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers erfolgte nicht. Mit Schriftsatz vom bat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers um Mitteilung des Sachstandes. Daraufhin wurde ihr der Beschluss vom am zugestellt. Dagegen legte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers am sofortige Beschwerde ein. Sie beantragte ferner am Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist.

3Das die sofortige Beschwerde als unzulässig verworfen und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen. Es hat die Rechtsbeschwerde zur Klärung der Voraussetzungen der Verwirkung eines fristgebundenen Rechtsmittels zugelassen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Antragsteller die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Gewährung der beantragten Prozesskostenhilfe. Er begehrt außerdem Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren.

II.

41. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 ZPO zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht. Zutreffend weist die Rechtsbeschwerde darauf hin, dass im Verfahren der Prozesskostenhilfe grundsätzlich eine Zulassung der Rechtsbeschwerde nur in Betracht kommt, wenn es um Fragen des Verfahrens der Prozesskostenhilfe oder der persönlichen Voraussetzungen ihrer Bewilligung geht (vgl. , NJW 2003, 1126 und Beschluss vom - III ZB 29/02, AGS 2003, 213). Im vorliegenden Fall geht es um eine Frage des Verfahrens der Prozesskostenhilfe, weil das Beschwerdegericht die sofortige Beschwerde gegen den die Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss des Landgerichts aufgrund der Verwirkung des Beschwerderechts durch den Antragsteller für unzulässig erachtet hat.

52. Das Oberlandesgericht hat ausgeführt, dass zwar die Regelung der Fünf-Monats-Frist in § 569 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. ZPO für den Beginn des Laufs der Beschwerdefrist nicht zur Anwendung kommen könne, weil der nicht verkündet und der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers nicht zugestellt worden sei. Eine analoge Anwendung der Bestimmung komme auch nicht in Betracht, weil sich nicht feststellen lasse, dass dem Antragsteller vor der Sachstandsanfrage seiner Prozessbevollmächtigten vom die ablehnende Entscheidung bekannt gewesen wäre. Unabhängig davon sei jedoch in Rechtsprechung und Literatur seit langem anerkannt, dass bei fristgebundenen Beschwerden der von Amts wegen zu berücksichtigende Einwand der Verwirkung zum Tragen kommen könne. Dem Antragsteller sei vorzuwerfen, dass er das Prozesskostenhilfeverfahren in erheblichem Maße verzögert betrieben und Umstände offenbart habe, nach denen die Antragsgegnerin habe annehmen können, dass er die ablehnende Entscheidung des Landgerichts hinnehmen würde. Der Antragsteller habe im Laufe des ersten Quartals 2007 mit einer Prozesskostenhilfeentscheidung des Landgerichts rechnen können und müssen, nachdem das Prozesskostenhilfeverfahren bereits Ende des Jahres 2006 "ausgeschrieben" gewesen sei. Dennoch habe er 2 ½ Jahre verstreichen lassen, ohne den Sachstand beim Landgericht zu erfragen. Ein solcher Zeitablauf sei in der Rechtsprechung als erheblicher Gesichtspunkt für die Verwirkung des Rechtsmittels angesehen worden. Einen Grund für die erheblich verzögerte Sachstandsanfrage und das darin zum Ausdruck kommende Desinteresse an dem Verfahren habe der Antragsteller nicht angegeben. Auch lägen weitere Umstände vor, aufgrund derer sich die Antragsgegnerin berechtigterweise auf den durch die angefochtene Entscheidung geschaffenen Zustand habe einrichten dürfen. Der Antragsteller habe bereits in der vorgerichtlichen Auseinandersetzung über ein Jahr zugewartet, um auf einen befristeten Verzicht auf die Einrede der Verjährung hinzuwirken, nachdem ihm das weitere Ansprüche ablehnende Schreiben der Antragsgegnerin vom zugegangen sei. Nach Ablauf der Frist für den Einredeverzicht seien wieder 21 Monate verstrichen, bis der Prozesskostenhilfeantrag eingereicht worden sei. Vor diesem Hintergrund habe die Antragsgegnerin nach Zugang der ablehnenden Prozesskostenhilfeentscheidung am und einem Zeitablauf von rund 2 ½ Jahren darauf vertrauen dürfen, dass der Antragsteller die Rechtsauffassung des Landgerichts akzeptiert und seine Rechtsverfolgungsbemühungen eingestellt habe.

63. Dieser Beurteilung des Beschwerdegerichts vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

7a) Die Rechtsbeschwerde wendet sich - als ihr günstig - nicht gegen die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts, dass die Fünf-Monats-Frist des § 569 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. ZPO unter den Umständen des Falles nicht entsprechend anwendbar ist, weil sich nicht feststellen lässt, dass dem Antragsteller vor der Beantwortung der Sachstandsanfrage seiner Prozessbevollmächtigten die ablehnende Prozesskostenhilfeentscheidung bekannt geworden wäre. Im Hinblick auf den grundgesetzlich geschützten Anspruch auf rechtliches Gehör folgt der Senat der insoweit zutreffenden Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts. Danach kommt die analoge Anwendung der Regelung in § 569 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. ZPO nur dann in Betracht, wenn der Zugang der Entscheidung feststeht und es nur an der Wahrung oder am Nachweis von Zustellungsförmlichkeiten fehlt (vgl. Musielak/Ball, ZPO, 7. Aufl., § 569 Rn. 4; MünchKomm/Lipp, ZPO, 3. Aufl., § 569 Rn. 5).

8b) Die Rechtsbeschwerde rügt jedoch mit Recht, dass das Oberlandesgericht angenommen hat, dem Antragsteller sei vorzuwerfen, dass er das Prozesskostenhilfeverfahren in erheblichem Maße verzögert betrieben und Umstände offenbart habe, nach denen die Antragsgegnerin habe annehmen können, dass er die ablehnende Entscheidung des Landgerichts hinnehmen würde. Davon kann nach den Umständen des Streitfalles nicht ausgegangen werden.

9aa) Zwar ist die Verwirkung auch eines fristgebundenen Rechtsmittels dann möglich, wenn der Rechtsmittelberechtigte über eine längere, nach den Umständen des Einzelfalles zu bemessende Zeitspanne hinweg sein Recht nicht geltend macht und Umstände hinzutreten, aus denen darauf geschlossen werden kann, dass die Beteiligten den durch die angefochtene Entscheidung geschaffenen Zustand als endgültig angesehen haben und ansehen durften (vgl. , BGHZ 43, 289, 292; Beschluss vom - III ZB 21/88, BGH-DAT Zivil juris Rn. 2; Beschluss vom - BLw 11/88, NJW-RR 1989, 768 Rn. 19; OLG Frankfurt, MDR 1977, 586; OLG Koblenz, MDR 1997, 498; Musielak/Fischer aaO, § 127 Rn. 17 f.). So kann sich die Frage der Verwirkung stellen, wenn die Zustellung wegen eines Mangels unwirksam war und deshalb die Beschwerdefrist nicht in Lauf gesetzt wurde, der Beschwerdeführer aber von der Entscheidung Kenntnis erlangt und die Einlegung eines Rechtsmittels solange hinausgezögert hat, dass sie nach Lage der Sache gegen Treu und Glauben verstößt. Der Ablauf eines langen Zeitraumes allein genügt indessen für die Verwirkung noch nicht. Ein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass die Anfechtbarkeit einer Entscheidung nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne, unabhängig davon, ob eine Zustellung erfolgt ist oder nicht, stets ihr Ende findet, hat in der Gesetzgebung keinen Ausdruck gefunden. Eine zeitliche Beschränkung der Anfechtbarkeit von gerichtlichen Entscheidungen bedürfte aber im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit einer positiven gesetzlichen Regelung (vgl. , BGHZ 14, 179, 187).

10bb) Entscheidend für die Beurteilung des vorliegenden Falles ist, dass der Antragsteller über seine Prozessbevollmächtigte erst durch die Zustellung am Kenntnis vom Beschluss des Landgerichts erlangt und die Beschwerdefrist damit zu laufen begonnen hat. Schon aus diesem Grunde kann die innerhalb der Beschwerdefrist eingelegte sofortige Beschwerde, obwohl seit dem Erlass der Entscheidung 2 ½ Jahre vergangen waren, keine unzulässige Rechtsausübung darstellen. Der Antragsteller muss sich nicht so behandeln lassen, als ob ihm der schon längst bekannt gewesen wäre. Er war auch nicht rechtlich verpflichtet, Ermittlungen darüber anzustellen, ob bereits eine Entscheidung, die ihm hätte zugestellt werden müssen, zwischenzeitlich ergangen ist. Das Oberlandesgericht übersieht bei seiner Beurteilung, dass die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen Aufgabe des Gerichts ist. Auch obliegt die Feststellung der Rechtskraft einer Entscheidung aufgrund Ablaufs der Rechtsmittelfrist grundsätzlich dem Gericht, weshalb dieses gehalten ist, den Rücklauf der Zustellungsnachweise - etwa des anwaltlichen Empfangsbekenntnisses - im Blick zu behalten.

11cc) Für die Frage der Verwirkung kann keine Rolle spielen, dass die Antragsgegnerin den Beschluss am erhalten hat. Dass die Antragsgegnerin mit dem Antragsteller in der Folgezeit in Kontakt getreten und diesem der ablehnende Beschluss auf diese Weise bekannt geworden wäre, ist weder vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich. Bei dem Rechtsgedanken der Verwirkung kommt es aber in erster Linie auf das Verhalten des Berechtigten an. Mit der Verwirkung soll die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten gegenüber dem Verpflichteten ausgeschlossen werden. Dabei ist das Verhalten des Berechtigten nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Maßgebend ist insoweit, ob bei objektiver Beurteilung der Verpflichtete aus dem Verhalten des Berechtigten entnehmen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, ob er sich also darauf einrichten durfte, dass er mit einer Rechtsausübung durch den Berechtigten nicht mehr zu rechnen braucht (RGZ 155, 148, 152; , BGHZ 25, 47, 51 f.). Die Verwirkung kann zwar gegen den Willen des Berechtigten eintreten, da insoweit die an Treu und Glauben ausgerichtete objektive Bewertung nicht aber der subjektive Willensentschluss des Berechtigten entscheidend ist. In dieser Hinsicht kommt der rechtliche Unterschied zwischen der Verwirkung und einem stillschweigenden Verzicht zum Ausdruck (RGZ 134, 262, 270). Für die Annahme einer Verwirkung ist es jedoch des Weiteren erforderlich, dass sich der Verpflichtete mit Rücksicht auf das Verhalten des Berechtigten darauf eingerichtet hat, dass dieser das ihm zustehende Recht nicht mehr geltend machen werde, und dass es gerade deshalb mit den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht zu vereinbaren ist, dass der Berechtigte später doch noch mit der Geltendmachung des ihm zustehenden Rechts hervortritt (RGZ 158, 100, 108).

12Eine infolge Unkenntnis verspätete Geltendmachung eines Rechtsmittels kann aber bei objektiver Beurteilung nicht als ein Verstoß gegen Treu und Glauben betrachtet werden und daher auch nicht den Einwand der Verwirkung rechtfertigen.

13dd) Mit Recht weist die Rechtsbeschwerde darauf hin, dass dem Antragsteller außerdem nicht angelastet werden könne, er habe schon das vorgerichtliche Verfahren bis zur Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags "schleppend" betrieben. Dass der Antragsteller nach Zugang des Schreibens vom , in dem die Antragsgegnerin weitere Schadensersatzansprüche ablehnte, über ein Jahr zugewartet hat, bis er auf einen befristeten Verzicht auf die Einrede der Verjährung hingewirkt hat, besagt nicht, dass er auf etwaige Ansprüche verzichten werde. Die Herbeiführung des Verzichts auf die Einrede der Verjährung ließ im Gegenteil eher vermuten, dass der Antragsteller die von ihm behaupteten Ansprüche weiter verfolgen wolle. Hierfür sprach auch der Antrag auf Prozesskostenhilfe für die klageweise Durchsetzung der Ansprüche.

14c) Ist die sofortige Beschwerde somit zulässig, ist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Die Frage, ob hinsichtlich der vom Antragsteller geltend gemachten Ansprüche die Einrede der Verjährung durch die Antragsgegnerin begründet ist, kann der Senat aufgrund fehlender tatsächlicher Feststellungen nicht selbst beurteilen. Insoweit wird das Beschwerdegericht die erforderlichen Feststellungen zu treffen und unter Berücksichtigung des Vortrags der Rechtsbeschwerde die Frage der Verjährung zu prüfen haben.

III.

15Da die Rechtsbeschwerde erfolgreich ist und der Antragsteller aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, war ihm für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe in der beantragten Weise zu gewähren.

Galke                                         Zoll                                    Wellner

                   Diederichsen                                Stöhr

Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 8 Nr. 3
ZAAAD-58568