Deckungsprozess gegen die Kfz-Teilkaskoversicherung nach behauptetem Fahrzeugdiebstahl: Notwendigkeit erneuter Anhörung von Zeugen in der Berufungsinstanz
Gesetze: § 141 ZPO, § 12 Abs 1 UAbs 1 Buchst b AKB, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: OLG Frankfurt Az: 3 U 193/08 Urteilvorgehend LG Frankfurt Az: 2/8 O 113/07
Gründe
1I. Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer Kraftfahrzeug-Teilversicherung wegen Entwendung eines Motorrades in Anspruch.
2Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger Eigentümer des versicherten Motorrades ist und ob es entwendet wurde. Das Landgericht hat zu beiden Punkten Beweis durch Vernehmung von zwei Zeugen erhoben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger eine Entschädigung von 33.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu zahlen.
3Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht nach Anhörung des Klägers ohne erneute Vernehmung der Zeugen die Klage abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
4II. Die Beschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
51. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut gehört hat, obwohl es deren Aussagen anders als das Landgericht gewürdigt hat.
6a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten. Das gilt insbesondere für die erneute Vernehmung von Zeugen, die grundsätzlich gemäß § 398 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Berufungsgerichts steht. Es ist aber verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es seine Glaubwürdigkeit anders als der Erstrichter beurteilen oder die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (Senatsbeschluss vom - IV ZR 172/09, juris Rn. 5; BGH, Beschlüsse vom - VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn. 5; vom - I ZR 58/03, NJW-RR 2006, 267 unter II 1 a aa; vom - V ZR 257/03, BGHZ 158, 269, 272 ff.; vom - VIII ZR 340/98, NJW 2000, 1199 unter II 2 a; vom - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222 unter II A 1 b; vom - VIII ZR 196/91, NJW 1993, 64 unter II 2 a; jeweils m.w.N.). Würdigt das Berufungsgericht eine Zeugenaussage anders als das erstinstanzliche Gericht, ohne den Zeugen erneut selbst zu vernehmen, so verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (Senatsbeschluss vom aaO Rn. 4; aaO Rn. 4 m.w.N.). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (d.h. seine Glaubwürdigkeit) noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit (d.h. die Glaubhaftigkeit) seiner Aussage betreffen ( aaO Rn. 5; Urteil vom aaO; jeweils m.w.N.).
7b) Das Berufungsgericht ist seiner Pflicht zur Wiederholung der Beweisaufnahme in zweifacher Hinsicht nicht nachgekommen.
8aa) Zum einen hat es den Zeugen R. nicht nochmals dazu vernommen, ob der Kläger Eigentum an dem Motorrad erworben hatte. Das Landgericht hat den Eigentumsnachweis durch die Aussage dieses Zeugen als erbracht angesehen. Hingegen hat das Berufungsgericht die Angaben des Zeugen R. zum Ankauf der Maschine für "nebulös" und nicht geeignet gehalten, um nachzuweisen, dass er selbst einmal Eigentümer des Motorrades gewesen war. Die Glaubhaftigkeit der Bekundungen des Zeugen R. hat das Berufungsgericht deshalb verneint, weil deutliche Anhaltspunkte für unrichtige Angaben vorlägen. Damit hat es zugleich die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Zweifel gezogen. Zu dieser von der Würdigung des Landgerichts abweichenden Beurteilung durfte das Berufungsgericht nicht kommen, ohne den Zeugen R. selbst vernommen zu haben.
9bb) Zum anderen hat das Berufungsgericht eine erneute Vernehmung des Zeugen H. unterlassen. Aufgrund der Bekundungen dieses Zeugen hat das Landgericht das äußere Bild eines Diebstahls des Motorrades für bewiesen gehalten. Es hat die Aussage des Zeugen als stimmig und widerspruchsfrei und somit glaubhaft bezeichnet und an seiner Glaubwürdigkeit keine Zweifel gehabt. Dagegen vermochte das Berufungsgericht eine ausreichend sichere Überzeugung von der Entwendung des Motorrades auf die Aussage des Zeugen H. nicht zu stützen. Es hat seine Angaben zu der behaupteten Entwendung als "dürftig und farblos" bezeichnet. Es hätte aber die Aussage des Zeugen H. nur dann anders als das Landgericht verstehen dürfen, wenn es ihn selbst gehört hätte.
10Von einer erneuten Vernehmung des Zeugen H. konnte das Berufungsgericht nicht deshalb absehen, weil es den Kläger persönlich angehört hat. Durch Anhörung des Versicherungsnehmers nach § 141 ZPO darf die Überzeugung vom Vorliegen des äußeren Bildes einer bedingungsgemäßen Entwendung nur dann gewonnen werden, wenn dem Versicherungsnehmer ein Zeuge nicht zur Verfügung steht. Ist - wie hier - ein Zeuge für das Abstellen und spätere Nichtwiederauffinden des Fahrzeugs angeboten worden, so kann sich der Tatrichter nicht auf eine Anhörung des Versicherungsnehmers beschränken. Vielmehr muss er dem Beweisangebot durch Vernehmung des benannten Zeugen nachgehen. Eine Anhörung des Versicherungsnehmers kommt erst dann in Betracht, wenn sich der Kläger tatsächlich in Beweisnot befindet, d.h. wenn ihm keine Beweismittel zur Verfügung stehen, um den erforderlichen Beweis des äußeren Bildes einer Entwendung zu erbringen (, VersR 2002, 431 unter 2 b; vom - IV ZR 172/98, VersR 1999, 1535 unter I 2; vom - IV ZR 12/96, VersR 1997, 691 unter 1 b; vom - IV ZR 300/94, BGHZ 132, 79, 82; vom - IV ZR 172/90, VersR 1991, 917 unter 2; jeweils m.w.N.).
11cc) Die Gehörsverletzungen sind entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach erneuter Vernehmung der Zeugen R. und H. zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre.
122. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
13a) Eine von der Beklagten geltend gemachte vorsätzliche Verletzung der Aufklärungsobliegenheit nach § 7 I (2) Satz 3 AKB a.F. setzt zunächst voraus, dass die Angaben des Klägers zum Kilometerstand des Motorrades objektiv unrichtig waren. Dies ergibt sich nicht daraus, dass der Kläger in seiner E-Mail vom und in der ausführlichen Schadenanzeige vom eine Gesamtlaufleistung von 1.600 km angab, ohne hinzuzufügen, dass der von dem gebrauchten Tacho angezeigte Kilometerstand um 17.300 km höher lag. In der Schadenanzeige verneinte der Kläger die Frage, ob die Gesamtlaufleistung mit dem Tachostand identisch sei. Zudem teilte er mit E-Mail vom selben Tag der Beklagten mit, dass der Tacho bei Erwerb 17.300 km angezeigt habe. Dass das Motorrad tatsächlich eine um 17.300 km höhere oder sonst abweichende Laufleistung aufwies, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Dazu genügt es nicht, dass der Kläger anlässlich seiner persönlichen Anhörung nicht ausschließen konnte, dass das Motorrad nicht schon im Straßenverkehr bewegt worden war, bevor er es von dem Zeugen R. erwarb.
14b) Außerdem müsste dem Kläger ein höherer Kilometerstand bekannt gewesen sein. Die Kenntnis der mitzuteilenden Umstände gehört zum objektiven und vom Versicherer zu beweisenden Tatbestand der Aufklärungsobliegenheit. Für deren Verletzung kommt es darauf an, ob der Versicherungsnehmer bei der Beantwortung von Fragen Kenntnis von Umständen oder Tatsachen hatte, die er dem Versicherer in Erfüllung der Obliegenheit mitzuteilen hatte. Fehlt ihm diese Kenntnis, so kann er die Obliegenheit schon objektiv nicht verletzen, denn es gibt nichts, worüber er nach seinem Kenntnisstand den Versicherer aufklären könnte (Senatsbeschluss vom - IV ZR 40/06, VersR 2008, 484 Rn. 4; Senatsurteil vom - IV ZR 252/05, VersR 2007, 389 Rn. 10, 13 ff. m.w.N., Anm. Prölss, VersR 2008, 674).
15c) Erst wenn eine objektive Obliegenheitsverletzung festgestellt werden kann, hat der Kläger die Vorsatzvermutung des § 6 Abs. 3 Satz 1 VVG a.F. zu widerlegen und zu beweisen, dass ihn ein geringeres Verschulden als Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit trifft (vgl. aaO Rn. 7; vom - IV ZR 79/92, VersR 1993, 960 unter I 2; vom - IV ZR 34/92, VersR 1993, 828 unter 2 c m.w.N.).
16d) Schließlich wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass sich der Versicherer nach der Relevanzrechtsprechung auf völlige Leistungsfreiheit nur dann berufen kann, wenn die vorsätzliche Verletzung der Aufklärungspflicht zwar folgenlos geblieben, aber generell geeignet ist, die berechtigten Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden und dem Versicherungsnehmer ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, für dessen Fehlen er beweispflichtig ist (, VersR 2004, 1117 unter 3; vom - IV ZR 10/97, VersR 1998, 447 unter 2 b; vom - IVa ZR 267/80, BGHZ 84, 84, 87; jeweils m.w.N.).
Terno Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 1364 Nr. 19
PAAAD-57410