Verlust des Rechts auf Vorsteuerabzug
Leitsatz
Die Art. 167, 168 und 178 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer rückwirkenden Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die im Rahmen einer Regelung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft für den Abzug der Mehrwertsteuer auf Bauarbeiten eine Berichtigung der Rechnungen für diese Umsätze und die Abgabe einer ergänzenden berichtigenden Steuererklärung verlangt, auch wenn die betreffende Steuerbehörde über alle Angaben verfügt, die für die Feststellung, dass der Steuerpflichtige als Empfänger der fraglichen Leistungen die Mehrwertsteuer zu entrichten hat, und für die Überprüfung der Höhe der abzugsfähigen Steuer erforderlich sind.
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 17 und 20 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2001/115/EG des Rates vom (ABl. 2002, L 15, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts.
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Uszodaépítõ kft und der APEH Központi Hivatal Hatósági Fõosztály (Amt für Steuer- und Finanzprüfung - Hauptabteilung, im Folgenden: APEH) wegen der Entscheidung der APEH, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Mehrwertsteuer für die ihr erbrachten Bauleistungen nicht von dem von ihr geschuldeten Mehrwertsteuerbetrag als Vorsteuer abziehen darf.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) hat gemäß ihren Art. 411 und 413 die Mehrwertsteuervorschriften der Union, insbesondere die Sechste Richtlinie, mit Wirkung vom aufgehoben und ersetzt. Nach ihrem ersten und ihrem dritten Erwägungsgrund war eine Neufassung der Sechsten Richtlinie erforderlich, um die Bestimmungen zur Harmonisierung des Mehrwertsteuerrechts der Mitgliedstaaten im Rahmen einer umgestalteten Struktur und eines umgestalteten Wortlauts klar und wirtschaftlich darzustellen, wobei jedoch grundsätzlich keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen werden sollten. Die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 und die entsprechenden Bestimmungen der Sechsten Richtlinie sind somit im Wesentlichen identisch.
Nach Art. 167 der Richtlinie 2006/112, der den Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie wiedergibt, "[entsteht d]as Recht auf Vorsteuerabzug ..., wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht".
Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112, der mit dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie in dessen sich aus Art. 28f Abs. 1 dieser Richtlinie ergebender Fassung im Wesentlichen übereinstimmt, lautet:
"Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden".
Art. 178 der Richtlinie 2006/112, der im Wesentlichen den Wortlaut des Art. 18 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie in dessen sich aus Art. 28f Nr. 2 dieser Richtlinie ergebender Fassung wiedergibt, enthält folgende Bestimmungen:
"Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
...
f) hat er die Steuer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 zu entrichten, muss er die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen."
Art. 199 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
"(1) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der steuerpflichtige Empfänger die Mehrwertsteuer schuldet, an den folgende Umsätze bewirkt werden:
a) Bauleistungen ..."
Eine Regelung wie die des Art. 199 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 ist unter der gebräuchlichen Bezeichnung "Umkehrung der Steuerschuldnerschaft" bekannt und war zuvor in Art. 21 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie vorgesehen.
Nationales Recht
Nach § 127 Abs. 1 Buchst. a des am in Kraft getretenen Gesetzes CXXVII von 2007 über die Mehrwertsteuer (Általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII törvény, im Folgenden: neues Mehrwertsteuergesetz) ist es "materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ..., dass der Steuerpflichtige persönlich über ... eine auf seinen Namen ausgestellten Rechnung [verfügt], durch die der Umsatz nachgewiesen wird."
§ 142 Abs. 1 Buchst. b des neuen Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:
"1. Die Steuer ist vom Erwerber der Ware oder dem Empfänger der Dienstleistung zu zahlen:
...
b) bei Bau[arbeiten] ...".
§ 142 Abs. 7 des neuen Mehrwertsteuergesetzes bestimmt: "Ist Abs. 1 anwendbar, stellen der Warenlieferant oder der Dienstleister eine Rechnung aus, in der weder der Betrag der entrichteten Steuer noch der ... Steuersatz ausgewiesen sind."
§ 169 Buchst. k des neuen Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:
"Die Rechnung muss folgende Angaben enthalten:
k) ...wenn der Erwerber der Waren oder der Empfänger der Dienstleistung die Steuer zu entrichten hat, eine Bezugnahme auf eine Rechtsvorschrift oder einen sonstigen klaren Hinweis darauf, dass die Lieferung der Waren oder die Erbringung der Dienstleistung
...
kb) beim Erwerber der Ware oder Empfänger der Dienstleistung besteuert wird".
§ 269 Abs. 1 des neuen Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:
"Regeln sowohl dieses Gesetz als auch das Gesetz LXXIV aus dem Jahr 1992 über die Mehrwertsteuer [im Folgenden: altes Mehrwertsteuergesetz] für den oder dieselben Beteiligten die im Rahmen der Selbstveranlagung geltenden Rechte und Pflichten, die sich aus einem steuerbaren Umsatz ergeben, der auf denselben Sachverhalt zurückgeht, so richtet sich die Feststellung und Anwendung dieser Rechte und Pflichten auch nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ausschließlich nach den Bestimmungen des [alten] Mehrwertsteuergesetzes, sofern nicht nach dem vorliegenden Gesetz im Gegensatz zum [alten] Mehrwertsteuergesetz die Pflichten im Hinblick auf alle Beteiligten in ihrer Gesamtheit wegfallen oder weniger belastende Verpflichtungen auferlegt oder neue Rechte oder Verbesserungen eingeführt werden. In diesem Fall können die Rechte und Pflichten auf der Grundlage einer gemeinsamen Entscheidung aller Beteiligten nach Maßgabe dieses Gesetzes bestimmt und angewendet werden, selbst wenn diese Rechte und Pflichten bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes - innerhalb des Verjährungszeitraums - entstanden sind, sofern die Beteiligten gemeinsam vorab schriftlich bei der staatlichen Steuerbehörde einen entsprechenden Antrag stellen, der spätestens am bei der Behörde eingegangen sein muss. Diese Frist ist eine Ausschlussfrist und kann nicht verlängert werden. Wird der Antrag verspätet gestellt, kann eine ergänzende Erklärung eingereicht werden, auf die kein Säumniszuschlag erhoben wird."
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens schloss am mit der Gesellschaft NÁD MPS-4 Kft, der Bauherrin, einen Werkvertrag über Bauleistungen. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens führte die Bauarbeiten in Zusammenarbeit mit einer Reihe von Subunternehmern durch.
Mit den Bauarbeiten wurde im Frühjahr 2007 begonnen, doch wurden sie im Sommer 2007 wegen finanzieller Schwierigkeiten unterbrochen. Für die bis dahin erbrachten Arbeiten wurden Rechnungen ausgestellt. Sowohl die Klägerin des Ausgangsverfahrens als auch ihre Subunternehmer kamen ihren Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer gemäß dem alten Mehrwertsteuergesetz nach.
Nach dem Inkrafttreten des neuen Mehrwertsteuergesetzes beantragten die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Bauherrin und die Subunternehmer am gemäß Art. 269 Abs. 1 des neuen Mehrwertsteuergesetzes durch eine gemeinsame Entscheidung die Anwendung der Bestimmungen dieses Gesetzes sowohl auf die Arbeiten, die gemäß dem Vertrag zwischen der Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Bauherrin ausgeführt worden waren, als auch auf diejenigen, die zwischen der Klägerin und ihren Subunternehmern vereinbart worden waren (im Folgenden: Erklärung vom ).
Nachdem die Steuerbehörde die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens für das Jahr 2007 eingereichte Mehrwertsteuererklärung geprüft hatte, setzte sie mit Entscheidung vom zulasten der Klägerin des Ausgangsverfahrens für die Monate April bis September 2007 eine Steuerschuld in Höhe von insgesamt 52 822 000 HUF fest. Sie führte hierzu aus, die Klägerin des Ausgangsverfahrens könne auf der Grundlage der von ihren Subunternehmern ausgestellten Rechnungen kein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben, da diese Rechnungen nicht den Vorgaben des neuen Mehrwertsteuergesetzes entsprächen. Denn nach der Erklärung vom 14. Februar 2008 seien die Bestimmungen des neuen Mehrwertsteuergesetzes über die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf die im Steuerjahr 2007 ausgestellten Rechnungen rückwirkend anwendbar. Die von den Subunternehmern ausgestellten Rechnungen hätten die Vorgaben von § 142 Abs. 7 und § 169 Buchst. k erfüllen müssen. Damit die Klägerin des Ausgangsverfahrens ihr Recht auf Vorsteuerabzug nach Maßgabe der Bestimmungen des neuen Mehrwertsteuergesetzes ausüben könne, hätten die Subunternehmer daher die ausgestellten Rechnungen berichtigen und die Klägerin des Ausgangsverfahrens ihre Mehrwertsteuererklärung für das Jahr 2007 durch eine ergänzende Erklärung ändern müssen.
Mit Entscheidung vom bestätigte die APEH die Entscheidung vom .
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob beim vorlegenden Gericht eine Klage auf Aufhebung der Entscheidung der APEH vom . Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, § 269 Abs. 1 des neuen Mehrwertsteuergesetzes verstoße dadurch gegen die Art. 17 und 20 der Sechsten Richtlinie sowie verschiedene allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, dass das von der Klägerin des Ausgangsverfahrens aufgrund des alten Mehrwertsteuergesetzes rechtmäßig ausgeübte Recht auf Vorsteuerabzug rückwirkend aufgehoben werde.
Daher hat das Baranya Megyei Bíróság das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist eine Bestimmung eines Mitgliedstaats, die am nach dem Entstehen des Rechts auf Vorsteuerabzug in Kraft getreten ist und die im Hinblick auf den Abzug der für die im Geschäftsjahr 2007 erfolgte Erbringung von Dienstleistungen bzw. Lieferung von Waren erklärten und entrichteten Mehrwertsteuer die Änderung des Inhalts der Rechnungen und die Einreichung einer ergänzenden Erklärung verlangt, mit den Art. 17 und 20 der Sechsten Richtlinie vereinbar?
2. Ist die in Art. 269 Abs. 1 des neuen Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Regelung, nach der bei Vorliegen der dort festgelegten Voraussetzungen die Rechte und Pflichten sich auch dann nach den Bestimmungen dieses Gesetzes richten, wenn sie bereits vor seinem Inkrafttreten - innerhalb des Verjährungszeitraums - entstanden sind, mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts vereinbar und ist sie insbesondere objektiv gerechtfertigt, vernünftig und verhältnismäßig und steht sie mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
Die ungarische Regierung macht geltend, der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens erfordere keine Auslegung der im Vorlagebeschluss angeführten Bestimmungen und Rechtsgrundsätze. Zum einen beruhe die rückwirkende Anwendung der Bestimmungen des neuen Mehrwertsteuergesetzes ausschließlich auf einer ausdrücklichen und freiwilligen Willenserklärung der Klägerin des Ausgangsverfahrens und der anderen betroffenen Steuerpflichtigen. Da die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Anwendung dieses Gesetzes ausdrücklich beantragt habe, müsse sie die damit verbundenen Rechtsfolgen beachten. Zum anderen liege dem Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens eine unzutreffende Auslegung der Übergangsbestimmungen des neuen Mehrwertsteuergesetzes durch die Klägerin des Ausgangsverfahrens zugrunde. Der Rechtsstreit werfe eine Frage der Auslegung des nationalen Rechts, nicht aber des Unionsrechts auf.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union und den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der bei ihm anhängigen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteile vom , PreussenElektra, C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Randnr. 38, vom , Gottwald, C-103/08, Slg. 2009, I-9117, Randnr. 16, und vom , Dimos Agiou Nikolaou, C-82/09, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 14).
Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht (vgl. u. a. Urteil Gottwald, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Unabhängig davon, dass sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens für die Anwendung des neuen Mehrwertsteuergesetzes entschieden hat, und selbst, wenn die von ihr getroffene Wahl auf einer irrigen Auslegung des betreffenden Gesetzes beruht, steht im vorliegenden Fall jedenfalls fest, dass die Bestimmungen dieses neuen Gesetzes auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar sind und dass das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der Übergangsbestimmungen dieses Gesetzes mit verschiedenen Vorschriften des Unionsrechts hat, da diese Bestimmungen die Klägerin des Ausgangsverfahrens an der Ausübung ihres Rechts auf Vorsteuerabzug hindern.
Die erbetene Auslegung des Unionsrechts ist somit für die vom vorlegenden Gericht zu erlassende Entscheidung nicht offensichtlich unerheblich.
Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären.
Zur ersten Frage
Was erstens den Gegenstand der ersten Frage anbelangt, ist festzustellen, dass das Ersuchen des vorlegenden Gerichts die Auslegung der Art. 17 und 20 der Sechsten Richtlinie betrifft.
Die Sechste Richtlinie ist jedoch nach den Art. 411 und 413 der Richtlinie 2006/112 mit Wirkung vom durch diese Richtlinie aufgehoben und ersetzt worden.
Da sämtliche relevanten Vorgänge des Ausgangsverfahrens nach dem stattgefunden haben, ist für dieses nur die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 maßgeblich.
Der Umstand, dass das nationale Gericht die Vorlagefragen ihrer Form nach allein unter Bezugnahme auf die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie formuliert hat, hindert den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , ČEZ, C-115/08, Slg. 2009, I-10265, Randnr. 81, und vom , Petersen, C-341/08, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 48).
Wie aus ihrem dritten Erwägungsgrund hervorgeht, stellt die Richtlinie 2006/112 eine Neufassung des geltenden Rechts zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Mehrwertsteuer, insbesondere der Sechsten Richtlinie, dar, die grundsätzlich keine inhaltlichen Änderungen dieses Rechts mit sich bringt.
Daher ist die erste Vorlagefrage als Frage nach der Auslegung der Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112 zu verstehen, die den in der Vorlageentscheidung bezeichneten Bestimmungen der Sechsten Richtlinie entsprechen. Da sich die erste Frage im Wesentlichen auf die Modalitäten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug bezieht, ist sie zudem so zu verstehen, dass sie auch die Auslegung des Art. 178 der Richtlinie 2006/112 betrifft.
Was zweitens den Inhalt anbelangt, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 167, 168 und 178 der Richtlinie 2006/112 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, die im Rahmen einer rückwirkenden Anwendung neuer Vorschriften über die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft für den Vorsteuerabzug die Berichtigung von Rechnungen über vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes durchgeführte Umsätze und die Abgabe einer ergänzenden Steuererklärung verlangt.
Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass das in den Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112 geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom , Pannon Gép Centrum, C-368/09, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. Urteile vom , Abbey National, C-408/98, Slg. 2001, I-1361, Randnr. 24, vom , HE, C-25/03, Slg. 2005, I-3123, Randnr. 70, und vom , Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, Slg. 2006, I-6161, Randnr. 48).
Die Tatsache, dass der Steuerpflichtige sich für die Anwendung des neuen statt des alten Mehrwertsteuergesetzes entschieden hat, kann daher als solche sein Recht auf Vorsteuerabzug, das unmittelbar aus den Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112 folgt, nicht beeinträchtigen.
Da es sich um ein Verfahren der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft nach Art. 199 Abs. 1 Buchst. a handelt, ist zum anderen hinsichtlich der Modalitäten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, wie sie in Art. 178 der Richtlinie 2006/112 vorgesehen sind, festzustellen, dass nur die in Art. 178 Buchst. f genannten Modalitäten anwendbar sind. Ein Steuerpflichtiger, der als Empfänger einer Dienstleistung die darauf anfallende Mehrwertsteuer schuldet, braucht daher für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine gemäß den Formvorgaben der Richtlinie 2006/112 ausgestellte Rechnung zu besitzen und muss nur die Förmlichkeiten erfüllen, die der betreffende Mitgliedstaat in Wahrnehmung der ihm nach Art. 178 Buchst. f dieser Richtlinie eröffneten Möglichkeit vorgeschrieben hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Bockemühl, C-90/02, Slg. 2004, I-3303, Randnr. 47).
Nach der Rechtsprechung dürfen diese vom betreffenden Mitgliedstaat vorgeschriebenen Förmlichkeiten, die der Steuerpflichtige erfüllen muss, um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, nicht über das zur Gewährleistung der korrekten Anwendung des betreffenden Verfahrens der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft absolut Notwendige hinausgehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Bockemühl, Randnr. 50).
Hierzu wurde bereits entschieden, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität erfordert, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (Urteil vom , Ecotrade, C-95/07 und C-96/07, Slg. 2008, I-3457, Randnr. 63).
Verfügt daher die Steuerverwaltung über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass der Steuerpflichtige als Empfänger der fraglichen Umsätze die Mehrwertsteuer schuldet, so stehen die Art. 167, 168 und 178 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 einer Regelung entgegen, die hinsichtlich des Rechts des Steuerpflichtigen auf Abzug dieser Steuer zusätzliche Voraussetzungen festlegt, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (vgl. in diesem Sinne Urteile Bockemühl, Randnr. 51, und Ecotrade, Randnr. 64).
Im Rahmen des Ausgangsverfahrens hat die Steuerverwaltung der Klägerin das Recht, die Mehrwertsteuer auf die von ihren Subunternehmern im Jahr 2007 ausgeführten Bauarbeiten in Abzug zu bringen, mit der Begründung verweigert, dass die Klägerin für diese Umsätze nicht über berichtigte Rechnungen verfüge, die die ab dem rückwirkend anwendbaren Bestimmungen von § 142 Abs. 7 und § 169 Buchst. k des neuen Mehrwertsteuergesetzes erfüllten, und dass sie ihre Steuererklärung für das Jahr 2007 nicht auf der Grundlage der so berichtigten Rechnungen geändert habe.
Erstens ergibt sich aus den Akten, dass die in Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 aufgestellten materiellen Voraussetzungen für die Erlangung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, so dass der Klägerin des Ausgangsverfahrens dieses Recht bezüglich der Mehrwertsteuer auf die von ihren Subunternehmern ausgeführten Bauarbeiten zusteht. Diese Leistungen sind nämlich für die Zwecke der besteuerten Umsätze des Steuerpflichtigen im betroffenen Mitgliedstaat verwendet worden. Im Übrigen war der betreffenden Steuerbehörde aufgrund der Steuererklärung für das Jahr 2007 bekannt, dass die genannten materiellen Voraussetzungen erfüllt waren.
Zweitens ist unstreitig, dass die Steuerbehörde zu dem Zeitpunkt, als sie der Klägerin des Ausgangsverfahrens das Recht auf Vorsteuerabzug verweigerte, aufgrund der Steuererklärung für das Jahr 2007 und der Erklärung vom 14. Februar 2008 über alle Informationen verfügte, die für die Feststellung erforderlich waren, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens als Empfängerin der von ihren Subunternehmern ausgeführten Bauarbeiten die Mehrwertsteuer zu entrichten hatte.
Wie die Europäische Kommission ausgeführt hat, könnte die Auferlegung von Förmlichkeiten wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Klägerin des Ausgangsverfahrens daran hindern, ihr Recht auf Vorsteuerabzug auszuüben.
Mit Blick auf die in den Randnrn. 39 und 40 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung ist daher davon auszugehen, dass die Art. 167, 168, und 178 der Richtlinie 2006/112 der Auferlegung von Förmlichkeiten wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen.
Daher sind die Art. 167, 168 und 178 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass sie einer rückwirkenden Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die im Rahmen einer Regelung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft für den Abzug der Mehrwertsteuer auf Bauarbeiten eine Berichtigung der Rechnungen für diese Umsätze und die Abgabe einer ergänzenden berichtigenden Steuererklärung verlangt, auch wenn die betreffende Steuerbehörde über alle Angaben verfügt, die für die Feststellung, dass der Steuerpflichtige als Empfänger der fraglichen Leistungen die Mehrwertsteuer zu entrichten hat, und für die Überprüfung der Höhe der abzugsfähigen Steuer erforderlich sind.
Zur zweiten Frage
Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 167, 168 und 178 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer rückwirkenden Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die im Rahmen einer Regelung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft für den Abzug der Mehrwertsteuer auf Bauarbeiten eine Berichtigung der Rechnungen für diese Umsätze und die Abgabe einer ergänzenden berichtigenden Steuererklärung verlangt, auch wenn die betreffende Steuerbehörde über alle Angaben verfügt, die für die Feststellung, dass der Steuerpflichtige als Empfänger der fraglichen Leistungen die Mehrwertsteuer zu entrichten hat, und für die Überprüfung der Höhe der abzugsfähigen Steuer erforderlich sind.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
IAAAD-53844