BVerwG Urteil v. - 10 C 20/09

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein Az: 1 LB 20/08 Beschlussvorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Az: XX Gerichtsbescheid

Tatbestand

1Der Kläger wendet sich nur noch gegen die ihm mit der Abschiebungsandrohung gesetzte Frist zur Ausreise innerhalb einer Woche.

2Der im Februar 2006 in Deutschland geborene Kläger ist das Kind abgelehnter Asylbewerber. Im März 2006 zeigte die Ausländerbehörde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - gemäß § 14a Abs. 2 AsylVfG die Geburt des Klägers an. Daraufhin erklärten seine Eltern als gesetzliche Vertreter, dass dem Kläger keine politische Verfolgung drohe und auf die Durchführung eines Asylverfahrens verzichtet werde.

3Mit Bescheid vom stellte das Bundesamt das Asylverfahren gemäß § 32 AsylVfG ein (Nr. 1). Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Außerdem forderte es - gestützt auf § 38 Abs. 2 AsylVfG - den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Republik Armenien an (Nr. 3).

4Im Klageverfahren wandte sich der Kläger gegen Nr. 3 des Bescheides. Mit Gerichtsbescheid vom hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts auf, soweit dem Kläger eine Frist zur Ausreise von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides gesetzt worden ist. Im Übrigen wies es die Klage mit der Maßgabe ab, dass die Ausreisefrist einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ende. Dabei ging es davon aus, dass sich die Ausreisefrist bei einem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 38 Abs. 1 AsylVfG richte. Einer erneuten Fristsetzung durch das Bundesamt bedürfe es nicht. Die richtige Ausreisefrist ergebe sich aus der im Tenor ausgesprochenen Maßgabe. Dies sei möglich, weil sich die Frist zwingend aus dem Gesetz ergebe und kein Spielraum der Beklagten bestehe.

5Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Das Verwaltungsgericht habe die Fristbestimmung in der angefochtenen Verfügung zu Recht aufgehoben. § 38 Abs. 2 AsylVfG sei hier nicht anwendbar. Denn im Gegensatz zu anderen Bestimmungen enthalte diese Vorschrift keine Gleichstellung von Rücknahme und Verzicht. Nach dem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens betrage die Ausreisefrist vielmehr gemäß § 38 Abs. 1 AsylVfG einen Monat. Dem stehe der Regelungszweck des § 14a AsylVfG nicht entgegen. Die Vorschrift solle lediglich sukzessive Antragstellungen einzelner Familienmitglieder verhindern.

6Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Senat zugelassenen Revision. Sie trägt vor, für den Fall des Verzichts auf die Durchführung eines Asylverfahrens fehle eine ausdrückliche Regelung der Ausreisefrist. § 38 Abs. 1 AsylVfG setze, wie die amtliche Überschrift zeige, die Ablehnung des Asylantrags voraus. Da es daran bei einem Verzicht fehle, sei die Vorschrift nicht einschlägig. Auch § 38 Abs. 2 AsylVfG sei nicht unmittelbar anwendbar, da der Gesetzgeber zwischen Verzicht und Rücknahme unterscheide. Diese Regelungslücke sei über eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 2 AsylVfG zu schließen. Eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 1 AsylVfG würde dem Beschleunigungsgedanken zuwiderlaufen. Die dortige Monatsfrist mit der gesetzlichen Folge, dass der Klage aufschiebende Wirkung zukomme, gelte nur, wenn eine Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung nicht von vornherein ausgeschlossen sei. Es sei kein Grund ersichtlich, Personen, die auf einen Schutzanspruch ausdrücklich verzichteten, möglicherweise schutzbedürftigen Antragstellern gleichzustellen.

7Der Kläger verteidigt die angefochtene Berufungsentscheidung. Er ist der Auffassung, dass die Wochenfrist nach dem Willen des Gesetzgebers nur gelte, wenn dem Asylbewerber ein rechtsmissbräuchliches oder sonst unredliches Verhalten vorgeworfen oder ein unbegründetes Verfahren durch Rücknahme beendet werde. In den Fällen des § 14a AsylVfG werde hingegen erwartet, dass von der Möglichkeit des Verzichts Gebrauch gemacht werde.

Gründe

8Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist teilweise begründet. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestätigt, soweit dieses der Klage stattgegeben und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom aufgehoben hat. Zu Unrecht hat es die Berufung der Beklagten aber in vollem Umfang zurückgewiesen und damit im Ergebnis auch den Maßgabeausspruch des Verwaltungsgerichts bestätigt.

91. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur (noch) die dem Kläger gesetzte Frist zur freiwilligen Ausreise. Die Revision der Beklagten ist - wie schon die Berufung - darauf gerichtet, dass die Klage auch hinsichtlich der dem Kläger im Bescheid vom gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe abgewiesen wird. Diesen Teil des Bescheids hat das Verwaltungsgericht aufgehoben. Zugleich hat es im Tenor seiner Entscheidung die "Maßgabe" ausgesprochen, dass die Ausreisefrist - ohne dass es einer erneuten Fristsetzung durch das Bundesamt bedarf - einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet. Indem das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten in vollem Umfang zurückgewiesen hat, hat es diesen Teil der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ebenfalls bestätigt. Damit umfasst die Revision auch den in die Kompetenzen des Bundesamts eingreifenden gerichtlichen Maßgabeausspruch. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Übrigen geklärt, dass jedenfalls in Asylverfahren die Ausreisefrist unabhängig von der Abschiebungsandrohung zum Gegenstand einer gerichtlichen Nachprüfung und damit auch eines Revisionsverfahrens gemacht werden kann ( BVerwG 9 C 22.00 - BVerwGE 114, 122 <124 f.>).

102. Der Kläger hat weiterhin ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der - vom Bundesamt auf § 38 Abs. 2 AsylVfG gestützten - einwöchigen Ausreisefrist. Von dieser Festsetzung gehen für den Kläger auch nach Ablauf der Frist noch nachteilige Rechtswirkungen aus, da von ihrem Bestand die gegenwärtige Vollziehbarkeit der Abschiebung abhängt (Urteil vom a.a.O. <125>).

113. Zu Recht ist das Berufungsgericht in der Sache davon ausgegangen, dass der Bescheid des Bundesamts hinsichtlich der dem Kläger gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe rechtswidrig und deshalb insoweit aufzuheben ist.

12Bei einer nach § 14a Abs. 1 oder 2 AsylVfG fingierten Asylantragstellung kann nach § 14a Abs. 3 AsylVfG jederzeit auf die Durchführung des Asylverfahrens verzichtet werden. In diesem Fall hat das Bundesamt festzustellen, dass das Verfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegt (§ 32 AsylVfG). Zugleich hat es dem Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung nach §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG anzudrohen (vgl. Urteil des Senats vom - BVerwG 10 C 27.08 - InfAuslR 2010, 263). Dabei soll gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG die Abschiebung schriftlich unter Bestimmung einer Ausreisefrist angedroht werden. Hinsichtlich der im Fall des Verzichts zu setzenden Ausreisefrist schließt sich der Senat der herrschenden Auffassung an, wonach sich die dem Ausländer vom Bundesamt zu setzende Ausreisefrist nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG richtet. Die den Senat hierbei leitenden Gründe ergeben sich aus dem Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 18.09; hierauf wird Bezug genommen.

134. Die gerichtliche Aufhebung der vom Bundesamt gesetzten Wochenfrist hat entgegen dem - vom Berufungsgericht bestätigten - Maßgabeausspruch im Tenor des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts aber nicht zur Folge, dass die Ausreisefrist nunmehr - ohne dass es einer erneuten Fristsetzung durch das Bundesamt bedarf - einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet. Mit dieser Feststellung ist das Verwaltungsgericht nicht nur über das - nur auf Aufhebung der gesetzten Ausreisefrist gerichtete - Klagebegehren des Klägers hinausgegangen (§ 88 VwGO), seine Auffassung zur Entbehrlichkeit einer erneuten Fristsetzung durch das Bundesamt ist auch in der Sache unzutreffend. Auch insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 18.09.

145. Das Bundesamt muss dem Kläger folglich in einem neuen Bescheid erneut eine Ausreisefrist setzen. In diesem besonderen Fall der nachträglichen Fristsetzung ist als Rechtsgrundlage für die vom Bundesamt zu setzende Ausreisefrist von einem Monat nicht § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, sondern § 39 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG in analoger Anwendung heranzuziehen. Auch insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 18.09.

15Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Da die Revision der Beklagten nur zu einem geringen Teil Erfolg hat, sind ihr die Kosten des Revisionsverfahrens in vollem Umfang aufzuerlegen und verbleibt es bei den Kostenentscheidungen der Vorinstanzen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.

Fundstelle(n):
VAAAD-52363