Vorlage zur Vorabentscheidung
Leitsatz
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG entsteht.
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Az: OVG 2 B 24.07 Urteilvorgehend Az: 11 A 259.06 Urteilnachgehend Az: C-424/10 und C-425/10 Urteilnachgehend Az: 10 C 7/12 Urteil
Gründe
I.
1Die Kläger sind polnische Staatsangehörige. Sie begehren die Ausstellung von Bescheinigungen über das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts.
2Die 1960 geborene Klägerin zu 1 reiste 1988 nach Berlin (West) ein. Nach einem erfolglosen Asylverfahren war ihr Aufenthalt von Mai 1990 bis Oktober 2005 aus humanitären Gründen erlaubt. Die Kläger zu 2 und 3 wurden 1996 bzw. 1994 nichtehelich in Berlin geboren und besaßen Aufenthaltstitel, die demjenigen ihrer Mutter, der Klägerin zu 1, angepasst waren. Ihr Vater, ein türkischer Staatsangehöriger, lebt getrennt von den Klägern, übt das Sorgerecht aber gemeinsam mit der Klägerin zu 1 aus.
3Im August 2005 beantragten die Kläger die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse bzw. die Erteilung befristeter Aufenthaltserlaubnisse-EU. Mit Bescheiden vom lehnte das beklagte Land die Anträge ab und drohte den Klägern die Abschiebung nach Polen an. Zur Begründung ist ausgeführt, der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse stehe der nicht gesicherte Lebensunterhalt der Kläger entgegen. Aufenthaltsansprüche nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU könnten sie ebenfalls nicht geltend machen, da die Klägerin zu 1 weder Arbeitnehmerin sei noch einen gesicherten Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nachweisen könne. Die hiergegen eingelegten Widersprüche hatten keinen Erfolg. Im Zuge eines beim Berliner Abgeordnetenhaus durchgeführten Petitionsverfahrens wurden den Klägern im November 2006 befristete Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erteilt, die seitdem für jeweils sechs Monate verlängert werden.
4Im Klageverfahren beriefen sich die Kläger auf ein Recht auf Daueraufenthalt nach der Richtlinie 2004/38/EG und begehrten die Ausstellung entsprechender Bescheinigungen. Das Verwaltungsgericht gab den Klagen im Januar 2007 statt. Dabei ging es davon aus, dass Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG jedem Unionsbürger, der sich fünf Jahre rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten habe, ein Daueraufenthaltsrecht gewähre, ohne dass es darauf ankomme, ob er über ausreichende Existenzmittel verfüge. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klagen abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, die Kläger erfüllten nicht die Anforderungen für das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU. Sie hielten sich zwar seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet auf. Rechtmäßig im Sinne dieser Vorschrift sei aber nur ein Aufenthalt, der nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU auf einem Freizügigkeitsrecht beruhe. Berücksichtigungsfähig seien hierbei nur Zeiten, in denen der Herkunftsstaat Mitglied der Europäischen Union gewesen sei. Die Kläger seien nach dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union am nicht freizügigkeitsberechtigt gewesen, da sie als nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt hätten (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Sie hätten während des gesamten Zeitraums staatliche Sozialleistungen bezogen. Anders als bei Arbeitnehmern und selbstständig Erwerbstätigen seien bei Nichterwerbstätigen Zeiten des Sozialleistungsbezugs nicht als Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts zu berücksichtigen. Dies stehe im Einklang mit Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG. Erfülle ein Unionsbürger nicht fünf Jahre die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie, erwerbe er kein Daueraufenthaltsrecht. Bei Nichterwerbstätigen verlange Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie, dass sie über ausreichende Existenzmittel verfügten, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssten.
5Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen. Sie sind der Auffassung, dass der nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG geforderte fünfjährige rechtmäßige Aufenthalt nicht voraussetzt, dass der Unionsbürger während dieser Zeit freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU war. Unionsbürger hätten ein allgemeines Freizügigkeitsrecht und benötigten keinen konstitutiven Aufenthaltstitel. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts werde durch die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht in Frage gestellt. Für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts sei auch unerheblich, ob während des Aufenthalts ein Grund bestanden habe, der die Ausländerbehörde zu einer Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts berechtigt hätte.
6Der Beklagte tritt den Revisionen entgegen. Er ist der Auffassung, dass der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts einen Aufenthalt verlangt, der die in der Richtlinie 2004/38/EG genannten Bedingungen erfüllt.
7Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt. Er hält die Revisionen ebenfalls für unbegründet. Seiner Auffassung nach setzt § 4a FreizügG/EU aber nur voraus, dass der Aufenthalt jedenfalls zuletzt nach Freizügigkeitsrecht rechtmäßig war. Insofern gehe die Vorschrift über die Richtlinie 2004/38/EG hinaus.
II.
8Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zur Auslegung des Art. 16 der Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom (ABl EU Nr. L 158 S. 77) einzuholen (Art. 267 AEUV). Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung des Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. Es wird darauf hingewiesen, dass die Fragen Gegenstand eines weiteren - gleichlautenden - Vorabentscheidungsersuchens sind (vgl. BVerwG 1 C 14.09).
91. Folgende nationale Vorschriften aus dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) vom (BGBl I S. 1950) in der Fassung des Art. 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (Richtlinienumsetzungsgesetz) vom (BGBl I S. 1970) bilden den rechtlichen Rahmen dieses Rechtsstreits:
"§ 2 Recht auf Einreise und Aufenthalt
(1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.
(2) Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:
1. bis 4. ...,
5. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
6. und 7. ...
(3) bis (6) ...
§ 4 Nicht erwerbstätige Freizügigkeitsberechtigte
Nicht erwerbstätige Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und ihre Lebenspartner, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. ...
§ 4a Daueraufenthaltsrecht
(1) Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, haben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).
(2) bis (7) ...
§ 5 Bescheinigungen über gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrechte, Aufenthaltskarten
(1) bis (5) ...
(6) Auf Antrag wird Unionsbürgern unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt. ...
(7) ...
§ 11 Anwendung des Aufenthaltsgesetzes
(1) ...
(2) Hat die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 festgestellt, findet das Aufenthaltsgesetz Anwendung, sofern dieses Gesetz keine besonderen Regelungen trifft.
(3) ...
§ 13 Staatsangehörige der Beitrittsstaaten
Soweit nach Maßgabe des Vertrages vom über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union (BGBl. 2003 II S. 1408) oder des Vertrages vom über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (BGBl. 2006 II S. 1146) abweichende Regelungen anwendbar sind, findet dieses Gesetz Anwendung, wenn die Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch genehmigt wurde."
102. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich. Gegenstand des Verfahrens ist ausschließlich das Begehren der Kläger auf Ausstellung von Bescheinigungen über das Bestehen ihres Daueraufenthaltsrechts. Soweit sie ursprünglich die Verlängerung bzw. Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen beantragt haben, haben sie diese Begehren im Klageverfahren nicht weiterverfolgt. Mit der nachträglichen Erteilung befristeter Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen haben sich die in den ablehnenden Bescheiden des Beklagten mitverfügten Abschiebungsandrohungen erledigt. Die Kläger haben nach nationalem Recht keinen Anspruch auf Ausstellung der begehrten Bescheinigungen (a). Die darauf gerichteten Klagen können daher nur Erfolg haben, wenn die Kläger unmittelbar aus Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG ein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben (b).
11a) Nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU wird Unionsbürgern auf Antrag unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt.
12Das Freizügigkeitsgesetz/EU findet hier Anwendung, auch wenn die Kläger die Voraussetzungen des § 13 FreizügG/EU nicht erfüllen. Als polnische Staatsangehörige sind sie seit dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union am Unionsbürger. Die in den Beitrittsverträgen und -akten festgelegten Übergangsregelungen betreffen den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie unter bestimmten Voraussetzungen einige Dienstleistungssektoren bis zur Herstellung der vollständigen Freizügigkeit. Ohne Einschränkung freizügigkeitsberechtigt sind dagegen Staatsangehörige, die - wie die Kläger - keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, soweit die weiteren unionsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen (vgl. Nr. 13 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom - VwV-FreizügG/EU - GMBl S. 1270).
13Dem Begehren der Kläger steht aber entgegen, dass sie die Voraussetzungen des § 4a FreizügG/EU für das Entstehen eines Rechts auf Daueraufenthalt nicht erfüllen. Nach der hier allein in Betracht kommenden Grundnorm des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). In § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sind die nach Unionsrecht freizügigkeitsberechtigten Personengruppen aufgezählt. Aus dem Zusatz "unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2" ergibt sich, dass nicht jeder nach nationalem Recht rechtmäßige Aufenthalt ausreicht, sondern das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts voraussetzt, dass der Betroffene nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt war, und nur ein einmal entstandenes Daueraufenthaltsrecht durch einen späteren Wegfall der Freizügigkeitsberechtigung nicht mehr berührt wird.
14Dabei kann dahinstehen, ob für das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erforderlich ist, dass der Betroffene - wie vom Berufungsgericht angenommen - während des gesamten Zeitraums von fünf Jahren freizügigkeitsberechtigt war, oder ob es - wie vom Vertreter des Bundesinteresses vertreten - ausreicht, wenn der Aufenthalt fünf Jahre lang erlaubt war und jedenfalls zuletzt auf dem Freizügigkeitsrecht beruhte (so auch Nr. 4a.1 der VwV-FreizügG/EU). Denn die Kläger halten sich zwar seit über fünf Jahren ununterbrochen erlaubt im Bundesgebiet auf. Sie waren während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet aber zu keinem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt.
15Als Rechtsgrundlage einer Freizügigkeitsberechtigung käme hier nur § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU in Betracht. Danach sind nicht erwerbstätige Unionsbürger - wie die Kläger - freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Diese Voraussetzungen erfüllen die Kläger nach den Feststellungen der Ausländerbehörde in ihren ablehnenden Bescheiden nicht (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Auch das Berufungsgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kläger nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union am nie freizügigkeitsberechtigt waren. Damit kommt es bei der Anwendung des nationalen Rechts auch nicht auf die Frage an, ob und unter welchen Voraussetzungen bei Staatsangehörigen neuer Mitgliedstaaten auf den Fünfjahreszeitraum Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt ihres Heimatstaats in die Europäische Union anzurechnen sind, da auch in diesem Fall erforderlich wäre, dass der Betroffene mit dem Beitritt - zumindest für eine logische Sekunde - freizügigkeitsberechtigt war.
16b) Enthalten die nationalen Vorschriften für die Kläger keine günstigeren Regelungen (vgl. Art. 37 der Richtlinie 2004/38/EG), kommt es für den Ausgang des Verfahrens darauf an, ob sie unmittelbar aus Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG ein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben. Dies hängt zunächst davon ab, ob Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie so auszulegen ist, dass er einem Unionsbürger ein Recht auf Daueraufenthalt verleiht, der sich seit über fünf Jahren nur aufgrund nationalen Rechts rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, in dieser Zeit aber nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt (1. Vorlagefrage). Zudem kommt es im vorliegenden Fall darauf an, ob auf den rechtmäßigen Aufenthalt auch Aufenthaltszeiten des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur Europäischen Union anzurechnen sind (2. Vorlagefrage). Nach ständiger Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz abzustellen (vgl. BVerwG 1 C 20.03 - BVerwGE 121, 86 <88> m.w.N.; vom - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329, Leitsatz 3 und Rn. 37 ff. und vom - BVerwG 1 C 32.08 - juris Rn. 12). Nichts anderes gilt, wenn - wie hier - im Wege einer allgemeinen Leistungsklage die Ausstellung einer Bescheinigung über ein Daueraufenthaltsrecht begehrt wird. Da der Beitritt Polens im hiernach maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am noch keine fünf Jahre zurücklag, könnten die Klagen mithin nur Erfolg haben, wenn auf die Fünfjahresfrist auch vor dem Beitritt liegende Aufenthaltszeiten anzurechnen sind.
173. Die vorgelegten Fragen bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.
18a) Nach Auffassung des vorlegenden Senats sind beide Vorlagefragen zu verneinen mit der Folge, dass die Kläger auch aus dem Unionsrecht kein Recht auf Daueraufenthalt herleiten können.
19Nach Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - (ex-Art. 18 EGV) hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen, sowie das Recht auf Daueraufenthalt und die Beschränkungen dieser Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit sind in der Richtlinie 2004/38/EG geregelt (Art. 1 der Richtlinie). Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten.
20aa) Der Senat ist der Auffassung, dass auch nach dieser Bestimmung die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts sich nicht nach dem im jeweiligen Aufnahmemitgliedstaat geltenden - möglicherweise günstigeren (vgl. Art. 37 der Richtlinie) - nationalen Recht richtet, sondern nach Unionsrecht. Er sieht sich hierin durch die Ausführungen der Generalanwältin Trstenjak in ihren Schlussanträgen vom in der beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache C-162-09, Secretary of State for Works and Pensions / Lassal (Rn. 88 und 93) bestärkt.
21Für eine unionsrechtliche Sichtweise sprechen neben den klaren Hinweisen in den Erwägungsgründen auch systematische Gründe und die Entstehungsgeschichte der Richtlinie:
22Den der Richtlinie vorangestellten Erwägungsgründen 17 und 18, die zwar keinen eigenständigen Regelungsgehalt haben, bei der Auslegung der Richtlinie aber als Auslegungshilfe herangezogen werden können, ist zu entnehmen, dass das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt keinen Bedingungen unterworfen ist (es mithin auch beim Bezug von Sozialhilfeleistungen bestehen bleibt), für seinen Erwerb hingegen erforderlich ist, dass der Betroffene sich "gemäß den in der Richtlinie festgelegten Bedingungen" fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Aus diesem ausdrücklichen Verweis auf die in der Richtlinie festgelegten Bedingungen und damit auf das Unionsrecht ist zu folgern, dass es für das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG in keinem Fall genügt, wenn der Aufenthalt des Betroffenen - wie hier - immer nur nach Maßgabe nationaler Bestimmungen rechtmäßig war und ist.
23Hierauf deutet auch die der Richtlinie 2004/38/EG immanente Systematik hin, die mit ihrem dreistufigen System aufeinander aufbauender und sich verfestigender Aufenthaltsrechte für Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen ein in sich geschlossenes Regelungswerk für die Einreise und den (Dauer-)Aufenthalt der von ihr erfassten Personen enthält: Auf der ersten Stufe haben Unionsbürger und sie begleitende oder nachziehende Familienangehörige nach Art. 6 der Richtlinie das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten. Hierzu müssen sie lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein und brauchen ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen. Dieses Recht bleibt bei Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats erhalten, solange die Inanspruchnahme nicht unangemessen ist (Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie). Für einen Zeitraum von über drei Monaten besteht - auf der zweiten Stufe - nach Art. 7 der Richtlinie das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt werden. Ist der Unionsbürger weder Arbeitnehmer noch Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie), und absolviert er dort auch keine Ausbildung (Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie) ist auf dieser Stufe erforderlich, dass der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Außerdem müssen sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie). Dieses Aufenthaltsrecht besteht, solange die Betroffenen die in Art. 7, 12 und 13 genannten Voraussetzungen erfüllen (Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie). In Art. 16 ff. der Richtlinie ist schließlich - auf der dritten und letzten Stufe - das Recht auf Daueraufenthalt geregelt. Nach der allgemeinen Regelung in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in einem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III (Aufenthaltsrecht) geknüpft und geht nur nach einer mehr als zweijährigen Abwesenheit (Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie) oder nach einer Ausweisung (Art. 27, 28 Abs. 2 der Richtlinie) verloren.
24Dieser der Richtlinie 2004/38/EG zugrunde liegenden Systematik widerspräche es, wenn das Recht auf Daueraufenthalt, das dem Betroffenen die stärkste aufenthaltsrechtliche Position vermittelt, allein durch die Erfüllung nationaler Tatbestände erworben werden könnte, ohne dass die Voraussetzungen für ein längerfristiges unionsrechtliches Aufenthaltsrecht jemals vorgelegen haben.
25Dies zeigt auch die Entstehungsgeschichte des Art. 16 der Richtlinie. Nach dem ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission (Art. 14 des Kommissionsentwurfs) vom (KOM <2001> 257 endg.) sollte der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts bei Unionsbürgern voraussetzen, dass sie sich rechtmäßig vier Jahre lang ununterbrochen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben. Dies wurde auf Nachfrage Dänemarks in den Beratungen von der Kommission dahin präzisiert, dass die Bedingungen nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie in den vier Jahren Aufenthalt, die dem Recht auf Daueraufenthalt vorausgehen, erfüllt werden müssten und sie erst nach dem Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt keine Anwendung mehr fänden (vgl. Protokoll über die Beratungsergebnisse der Gruppe "Freizügigkeit" vom , Ratsdokument 10572/02 S. 36 Fn. 67). Später wurde die Aufenthaltsdauer auf fünf Jahre erhöht und zur Präzisierung des Begriffs "rechtmäßiger Aufenthalt" der 17. Erwägungsgrund um die Formulierung "die sich gemäß den in der Richtlinie festgelegten Bedingungen fünf Jahre ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben" ergänzt (vgl. 17. Erwägungsgrund im Gemeinsamen Standpunkt <EG> Nr. 6/2004 vom Rat festgelegt am , 2004/C 54 E/02, und Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament gemäß Art. 251 Abs. 2 Unterabs. 2 EG-Vertrag betreffend den vom Rat angenommenen gemeinsamen Standpunkt im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten vom , SEK <2003> 1293 endg. S. 10, abgedruckt in: Übermittlungsvermerk des Rats der Europäischen Union vom , Ratsdokument 5191/04).
26Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Sinn und Zweck des Daueraufenthaltsrechts. Dieses soll das Gefühl der Unionsbürgerschaft verstärken und zum sozialen Zusammenhalt beitragen (17. Erwägungsgrund). Beide Gedanken gebieten bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts zwar keine Anknüpfung an die unionsrechtlichen Bestimmungen, stehen dem aber auch nicht entgegen.
27bb) Reicht allein ein nach nationalem Recht rechtmäßiger Aufenthalt für das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nicht aus, stellt sich die weitere Frage, ob bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit auf Unionsebene ausschließlich auf die Richtlinie 2004/38/EG abzustellen ist. Die Frage stellt sich nicht nur in Übergangsfällen hinsichtlich der Berücksichtigung von Aufenthaltszeiten, die vor Umsetzung bzw. Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2004/38/EG liegen und nach den damals geltenden Vorgängerregelungen rechtmäßig waren, sondern auch im Hinblick auf andere unionsrechtliche Aufenthaltsrechte, die durch die Richtlinie 2004/38/EG nicht ersetzt wurden, sondern daneben weiter Bestand haben. Sie bedarf hier indes keiner Entscheidung, da die Kläger sich während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nie auf ein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht berufen konnten.
28Nach den im Revisionsverfahren nicht angegriffenen und damit für den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erfüllten die Kläger nie die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG für ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate. Denn sie verfügen jedenfalls seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union am als nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel und beziehen Sozialhilfeleistungen. Dabei ist unerheblich, dass dieser Umstand nach Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf. Diese Bestimmung regelt die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen, setzt also ein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht voraus. Davon zu trennen ist die hier entscheidungserhebliche Frage, ob trotz Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen ein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht bestand. Dies hängt von der erreichten Aufenthaltsstufe ab: Nach dem Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt - der höchsten Stufe - spielt der Bezug von Sozialhilfeleistungen keine Rolle mehr (Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie). Dagegen hängt das Aufenthaltsrecht für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten nach Art. 6 der Richtlinie davon ab, dass Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch genommen werden (Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie). Nach diesem Zeitraum kommt es bis zum Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts darauf an, ob der Nichtbezug von Sozialhilfeleistungen Anspruchsvoraussetzung ist (Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie). Dies ist bei nichterwerbstätigen Unionsbürgern der Fall. Etwas anderes ergibt sich - entgegen der Auffassung der Kläger - auch nicht aus dem Urteil des Gerichtshofs vom in der Rechtssache Grzelczyk - C-184/99 - (Slg. 2001, I-06193). Denn diese Entscheidung betrifft ebenfalls nur die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein - im dortigen Verfahren auf der Richtlinie 93/96 beruhendes - Aufenthaltsrecht beim Bezug von Sozialhilfeleistungen entfällt und der Mitgliedstaat aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergreifen darf. Soweit der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass sich ein Unionsbürger hinsichtlich der Leistungen der Sozialhilfe auf das Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit berufen kann, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat für eine bestimmte Zeit rechtmäßig aufgehalten hat oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt (vgl. , Bidar - Slg. 2005, I-02119 Rn. 37), lässt sich auch dieser zum Diskriminierungsverbot ergangenen Rechtsprechung nichts für die hier entscheidungserhebliche Frage entnehmen, ob ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger trotz Bezugs von Sozialhilfeleistungen ein Recht auf Daueraufenthalt erwerben kann.
29Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kläger nach anderen Vorschriften des Unionsrechts ein Aufenthaltsrecht erworben haben, insbesondere scheitert ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Kläger zu 2 und 3 und ein davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht der sie betreuenden Klägerin zu 1 nach Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 (vgl. dazu , Baumbast und R - Slg. 2002, I-07091 und vom - Rs. C-480/08, Teixeira) schon daran, dass die Klägerin zu 1 im Bundesgebiet nicht erwerbstätig ist oder dies als Unionsbürgerin auch nie war.
30cc) Ist Voraussetzung für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG, dass der Unionsbürger sich fünf Jahre ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und sein Aufenthalt in dieser Zeit nach Maßgabe des Unionsrechts rechtmäßig war, dürften bei Staatsangehörigen neuer Mitgliedstaaten auch vor dem Beitritt liegende Aufenthaltszeiten, während derer der Aufenthalt nur nach nationalem Recht rechtmäßig war, weil kein unionsrechtliches Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht bestand und bestehen konnte, nicht anzurechnen sein. Ansonsten stünden Neu-Unionsbürger besser als Alt-Unionsbürger.
31b) Der Senat sieht sich allerdings angesichts des beim Gerichtshof bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchens des Supreme Court of the United Kingdom vom in der Rechtssache Shirley McCarthy / Secretary of State for the Home Department (Rs. C-434/09 - ABl EU 2010 Nr. C 11 S. 18) an einer eigenen Entscheidung ohne Anrufung des Gerichtshofs gehindert.
32Jenes Vorabentscheidungsersuchen betrifft zwar primär die - hier nicht entscheidungserhebliche - Frage, ob sich ein Unionsbürger, der neben der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats auch die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats besitzt, in dem er sich sein Leben lang aufgehalten hat, "Berechtigter" im Sinne des Art. 3 der Richtlinie 2004/38/EG ist. In diesem Zusammenhang wurde dem Gerichtshof aber die weitere Frage vorgelegt, ob sich eine "solche Person" im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, wenn sie die Erfordernisse von Art. 7 der Richtlinie nicht erfüllen konnte. Auch wenn man die Formulierung "solche Person" auf den speziellen Fall der dortigen Klägerin bezieht, ist der Fragestellung zu entnehmen, dass der Supreme Court offensichtlich Zweifel hat, ob der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 der Richtlinie stets das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie voraussetzt. Die gleiche Frage stellt sich im vorliegenden Fall. Im Hinblick auf das beim Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen des obersten Gerichts eines anderen Mitgliedstaats ist daher von einer unionsrechtlichen Zweifelsfrage auszugehen.
Fundstelle(n):
VAAAD-49253