BGH Beschluss v. - V ZB 205/09

Abschiebehaftverfahren: Erneute Prüfung eines Abschiebungshindernisses durch das Beschwerdegericht

Leitsatz

Das Beschwerdegericht muss unter Berücksichtigung des tatsächlichen Verlaufs des Abschiebeverfahrens prüfen, ob § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG einer Aufrechterhaltung der Haft im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung entgegensteht .

Gesetze: § 62 Abs 2 S 4 AufenthG, § 26 FamFG, § 62 FamFG

Instanzenzug: Az: 4 T 453/09 Beschlussvorgehend AG Siegburg Az: 241 XIV 15/09 B

Gründe

I.

1Der Betroffene, der angibt, indischer Staatsangehöriger zu sein, und der am ohne gültigen Pass und unter Umgehung der Einreise- und Visumsbestimmungen in das Bundesgebiet einreiste, ist nach Ablehnung seines Asylantrags seit dem vollziehbar ausreisepflichtig. Nachdem er untergetaucht war, wurde er am anlässlich einer Kontrolle des Hauptzollamts in einer Pizzeria in Sankt Augustin arbeitend angetroffen und festgenommen.

2Auf Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht am die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der - im Januar 2010 aus der Haft entlassene - Betroffene festzustellen, dass die Anordnung der Sicherungshaft rechtswidrig war.

II.

3Das Beschwerdegericht hält die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG für gegeben. Die Regelung in § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG stehe der Inhaftierung des Betroffenen nicht entgegen. Aus den Angaben der für die Abschiebung zuständigen Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld ergebe sich, dass eine Abschiebung nach Indien innerhalb von drei Monaten erfolgen könne. Die von dem Betroffenen demgegenüber angeführten Gerichtsentscheidungen zur regelmäßigen Dauer der Ersatzpapierbeschaffung bei indischen Behörden gäben nicht die aktuelle Situation wieder. Die Vorführung des Betroffenen bei der indischen Botschaft sei für die kommende (46.) Kalenderwoche vorgesehen, was darauf schließen lasse, dass das Abschiebungsverfahren zügig betrieben werde.

III.

4Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand. Die form- und fristgerecht (§ 71 FamFG) eingelegte Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet.

51. Die Rechtsbeschwerde ist ungeachtet der Erledigung der Hauptsache durch den Ablauf der angeordneten Haftdauer statthaft (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Vorschrift des § 62 FamFG, nach der das Beschwerdegericht auf Antrag ausspricht, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszuges den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn dieser - wie hier - ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, ist auf das Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechend anzuwenden (Senat, Beschl. v. , V ZB 172/09 - juris; Beschl. v. , V ZB 184/09, juris). Die Rechtsbeschwerde bleibt zulassungsfrei, da sie sich weiterhin gegen einen Beschluss richtet, durch den eine freiheitsentziehende Maßnahme anordnet worden ist (vgl. Senat, Beschl. v. , V ZB 172/09, a.a.O.).

62. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie darauf gerichtet ist, die Rechtswidrigkeit des die Sicherungshaft anordnenden Beschlusses vom festzustellen.

7a) Das Beschwerdegericht hält die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG rechtsfehlerfrei für gegeben, da die dem Betroffenen gesetzte Ausreisepflicht abgelaufen ist und er seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde seine Anschrift anzugeben, und weil infolge seines Untertauchens der begründete Verdacht besteht, er wolle sich der Abschiebung entziehen. Die Rechtsbeschwerde erhebt insoweit auch keine Einwendungen.

8b) Im Ergebnis nicht zu beanstanden ist ferner die Annahme des Beschwerdegerichts, die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, nach der die Sicherungshaft unzulässig ist, wenn die Unmöglichkeit der Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate feststeht und dies auf Gründen beruht, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, habe der Anordnung der Sicherungshaft nicht entgegengestanden.

9aa) Seitens des Amtsgerichts ist allerdings verkannt worden, dass für die Anordnung von Sicherungshaft nur Raum ist, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergibt, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder eine zuverlässige Prognose zunächst nicht getroffen werden kann (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 Rdn. 22 f.; Senat, Beschl. v. , V ZA 9/10, juris Rdn. 17). Das Beschwerdegericht hat die notwendige Prognose jedoch nachgeholt und den Fehler des Amtsgerichts dadurch geheilt.

10bb) In der Sache lässt die Prognose, eine Abschiebung des Betroffenen innerhalb von drei Monaten habe bei Anordnung der Haft nicht unmöglich erschienen, keinen Rechtsfehler erkennen. Das Beschwerdegericht durfte sich hierzu auf die bundesweite Fallsammlung der Zentralen Ausländerbehörden über die Ausstellung von Personalersatzpapieren durch das indische Generalkonsulat bzw. die indische Botschaft stützen, wonach im Jahr 2009 in Einzelfällen eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden konnte. Dass es sich hierbei um nur wenige Fälle handelt, ist unschädlich, da die Haftanordnung nur zu unterbleiben hat, wenn feststeht, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten nicht möglich sein wird (vgl. OLG Hamm JMBl NRW 2007, 177, 178).

11Die Prognose des Beschwerdegerichts beruht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht auf einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Zwar enthalten die Gründe des angefochtenen Beschlusses keine Auseinandersetzung mit dem Schreiben der Zentralen Ausländerbehörde der Stadt Bielefeld vom , welches der Betroffene mit Schriftsatz vom vorgelegt hat und in dem es heißt, dass die Passersatzpapierbeschaffung für einen näher bezeichneten indischen Staatsangehörigen etwa sechs Monate in Anspruch nehmen werde. Da ein Gericht nicht verpflichtet ist, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, folgt hieraus für sich genommen aber keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Eine solche kann erst festgestellt werden, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung jedenfalls nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG NJW-RR 1995, 1033, 1034). Hieran fehlt es. Insbesondere lässt die Feststellung in dem angefochtenen Beschluss, die statistische Auswertung von Abschiebefällen der Zentralen Ausländerbehörden Köln und Bielefeld sei unwidersprochen geblieben, nicht den Schluss zu, dass das Gericht das Schreiben der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld vom unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG übergangen hat. Da es nicht den der Prognose zugrunde gelegten Zeitraum vom bis zum betrifft, ist vielmehr davon auszugehen, dass es von dem Beschwerdegericht zwar zur Kenntnis genommen, aber - ebenso wie die von dem Betroffenen vorgelegten Gerichtsentscheidungen - als nicht aussagekräftig angesehen worden ist, weil es nicht aus jüngster Zeit stammt.

123. Die Rechtsbeschwerde ist begründet, soweit der Betroffene die Feststellung erstrebt, dass die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde ihn in seinen Rechten verletzt hat.

13a) Ein die Freiheitsentziehung anordnender Beschluss ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen darauf zu untersuchen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung entfallen ist (vgl. § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG sowie Senat, Beschl. v. , V ZB 172/09, juris Rdn. 27). Vor der Zurückweisung einer Beschwerde, die sich gegen eine Sicherungshaftanordnung richtet, müssen deshalb die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung erkennbaren Verlaufs des Abschiebungsverfahrens erneut geprüft werden. Erscheint eine Abschiebung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, nicht mehr innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der Sicherungshaft) möglich, darf die Haft nicht aufrechterhalten werden.

14Das hat das Beschwerdegericht zwar im Ansatz erkannt. Seine Annahme, es stehe derzeit nicht fest, dass die Abschiebung nicht binnen drei Monaten erfolgen könne, ist angesichts der getroffenen Feststellungen zu dem Verlauf des Abschiebeverfahrens aber nicht nachvollziehbar und damit rechtsfehlerhaft. Nachdem bis zu der (geplanten) Vorführung des Betroffenen bei der indischen Botschaft sieben Wochen vergangen waren, konnte das Beschwerdegericht ohne nähere Sachaufklärung (§ 26 FamFG) nicht annehmen, dass es innerhalb der verbleibenden Zeit von etwa sechs Wochen zu der Ausstellung von Passersatzpapieren kommen würde. Wenn das Verfahren, wie das Beschwerdegericht annimmt, von der Ausländerbehörde tatsächlich zügig betrieben worden ist, wäre die lange Zeitspanne von der Inhaftierung des Betroffenen bis zu seiner Vorführung auf Unzulänglichkeiten bei der indischen Botschaft zurückzuführen. Sie ließe dann erwarten, dass auch die von der Botschaft zu veranlassende Ausstellung der Passersatzpapiere wochenlang dauern und nicht rechtzeitig vor Ablauf der Drei-Monatsfrist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erfolgen würde. Das Beschwerdegericht war deshalb gehalten aufzuklären, ob angesichts der bereits verstrichenen Zeit im konkreten Fall noch Aussicht bestand, die Abschiebung bis zum durchzuführen; sofern dies aus von dem Betroffenen nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich erschien, hätte es ihn aus der Haft entlassen müssen.

15b) Mit Erfolg macht die Rechtsbeschwerde ferner geltend, dass das Beschwerdegericht rechtsfehlerhaft nicht geprüft hat, ob die Sicherungshaft deshalb unverhältnismäßig geworden war, weil das Abschiebeverfahren nicht mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden ist.

16Das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 46, 194, 195) ist auch schon während des Laufs der Drei-Monatsfrist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu beachten (vgl. BVerfGK 8, 1, 7 für die Untersuchungshaft). Es ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Abschiebehaft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (Senat, BGHZ 133, 235, 239). Das Beschwerdegericht darf die Sicherungshaft deshalb nur aufrechterhalten, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt und zwar, gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, mit der größtmöglichen Beschleunigung (vgl. 3Z BR 274/98, juris, Rdn. 9; OLG Schleswig OLGR 2008, 304, 306).

17Dass das hier zu beurteilende Verfahren dem Beschleunigungsgebot gemäß geführt worden ist, musste dem Beschwerdegericht schon deshalb zweifelhaft erscheinen, weil der Betroffene, obwohl er sich seit dem in Haft befand, erst im November 2009 der Botschaft vorgeführt werden sollte. Weshalb eine frühere Vorführung unterblieben ist, hätte weiterer Aufklärung (§ 26 FamFG) insbesondere im Hinblick darauf bedurft, dass der Beteiligte zu 2 in seiner Stellungnahme vom von einer "Ausreiseberatung" durch erfahrene Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde und einem in diesem Zusammenhang erforderlichen "Einwirkungszeitraum" spricht. Sollte dies bedeuten, dass der Beteiligte zu 2 die ersten Wochen der Inhaftierung des Betroffenen bewusst nicht genutzt hat, um dessen Abschiebung vorzubereiten, sondern um auf ihn "einzuwirken", wäre dies ein grober Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot und den Zweck der Sicherungshaft (vgl. BVerfGK 11, 208, 213 f.; OLG Düsseldorf OLGR 2007, 791, 792), welcher zu einer sofortigen Entlassung des Betroffenen aus der Haft hätte führen müssen und darüber hinaus die Feststellung rechtfertigte, dass die bereits vollzogene Sicherungshaft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

IV.

18Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da die Beurteilung, ob der Vollzug und die Aufrechterhaltung der Sicherungshaft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, weitere Sachverhaltsermittlungen erfordert. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).

19Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Anforderungen an eine vollständige Sachaufklärung im Sinne von § 26 FamFG nicht deshalb herabgesetzt sind, weil nicht mehr die Haftentlassung des Betroffenen, sondern nur die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der ihn betreffenden freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht, und dass eine in tatsächlicher Hinsicht zureichende richterliche Aufklärung es in aller Regel erfordert, die Akten der Ausländerbehörde beizuziehen (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 Rdn. 20).

Krüger                                Schmidt-Räntsch                                Stresemann

                      Czub                                                   Roth

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
AAAAD-46292