BSG Beschluss v. - B 3 KR 32/09 B

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Instanzenzug: LSG Hessen, L 1 KR 237/05 vom SG Gießen, S 9 KR 350/04

Gründe

I

Die Klägerin betrieb die onkologische Fachklinik B. GmbH (im Folgenden "Fachklinik") in O.. Die Fachklinik war als Privatkrankenanstalt zugelassen, ein Versorgungsvertrag oder eine sonstige Zulassung zur Behandlung von Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung bestanden nicht. Der Versuch der Klägerin, den Abschluss eines Versorgungsvertrages durch Klage zu erreichen, ist im Ergebnis erfolglos geblieben (vgl Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts [BSG] vom - B 1 KR 5/08 R). Eine Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Fachklinik wurde mangels Masse abgelehnt, die Auflösung der GmbH am in das Handelsregister eingetragen. Die GmbH befindet sich seitdem im Stadium der Liquidation.

In der Fachklinik wurde die bei der beklagten Krankenkasse versicherte E. S. (im Folgenden: Versicherte) vom 18.10. bis zu ihrem Tod am behandelt. Die Fachklinik stellte der Beklagten dafür 3.911,38 Euro in Rechnung; die Beklagte lehnte die Zahlung wegen fehlender rechtlicher Anspruchsgrundlage ab. Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts vom , Beschluss des Landessozialgerichts [LSG] vom ). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, entgegen der Ansicht der Klägerin habe es sich nicht um eine Notfallbehandlung gehandelt, so dass kein Anspruch gemäß § 76 Abs 1 Satz 2 SGB V gegeben sei.

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG und beruft sich dabei in erster Linie auf Verfahrensfehler.

II

1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im ist zulässig, soweit sie die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden LSG-Senats rügt. Die Klägerin hat sie fristgerecht erhoben und den Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art 101 Abs 1 Satz 2 GG hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler - ein absoluter Revisionsgrund - liegt vor. Das LSG war bei der Beschlussfassung am nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG). An diesem Beschluss hat eine Richterin mitgewirkt, die die Klägerin zwar zuvor erfolglos abgelehnt hatte, deren Mitwirkung aber gleichwohl das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt hat. Die Zurückweisung des diese Richterin betreffenden Ablehnungsgesuchs hat Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt (vgl hierzu zB Bundesverfassungsgericht [BVerfG] NVwZ 2005, 1304, 1307 f; BVerfGE 82, 286, 298; - mwN).

a) Zwar ist das Revisionsgericht im Hinblick auf § 557 Abs 2 ZPO (iVm § 202 SGG) an Entscheidungen gebunden, die einer Endentscheidung des LSG vorausgegangen sind, sofern sie unanfechtbar sind. Dies gilt grundsätzlich auch für Entscheidungen der Vorinstanz, die ein Ablehnungsgesuch unter fehlerhafter Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen haben (§§ 60, 177 SGG; vgl hierzu BVerfGE 31, 151, 164; BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Das Revisionsgericht ist nur in engen Ausnahmen wegen eines fortwirkenden Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters iS des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG an die Zurückweisung von Ablehnungsgesuchen, die dem Endurteil oder dem abschließenden Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG des LSG vorausgegangen sind, nicht gebunden, wenn zuvor erfolglos - aber rechtsfehlerhaft - abgelehnte Richter/-innen an der Endentscheidung des LSG mitgewirkt haben. Die Bindung des Revisionsgerichts fehlt nämlich, wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs - was hier ausscheidet - auf willkürlichen manipulativen Erwägungen beruht, die für die Fehlerhaftigkeit des als Mangel gerügten Vorgangs bestimmend gewesen sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1 RdNr 9 mwN), oder wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs jedenfalls darauf hindeutet, dass das Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat (vgl BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Letzteres liegt hier vor.

b) Ein fortwirkender Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters und zugleich eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters durch ein Gericht ist hier dem LSG im angefochtenen Beschluss unterlaufen. Die abgelehnte Richterin D. hat nämlich vor der Instanz abschließenden Beschlussfassung vom an dem Beschluss vom - L 1 SF 71/09 - mitgewirkt, der das ua gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch vom als unzulässig verworfen hat, weil das Befangenheitsgesuch "nicht substantiiert begründet" worden sei. Die Ausführungen des LSG in diesem Beschluss beruhen auf fehlerhaften Erwägungen und deuten darauf hin, dass das LSG die Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG verkannt hat. Art 101 Abs 1 Satz 2 GG lässt nämlich lediglich in dem Fall eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung des abgelehnten Richters über das Gesuch zu.

Art 101 Abs 1 Satz 2 GG hat nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl BVerfGE 10, 200, 213 f; 21, 139, 145 f; 30, 149, 153; 40, 268, 271; 82, 286, 298; 89, 28, 36). Die verfassungsrechtlich gebotene (vgl BVerfG NJW 2005, 3410 ff) Unparteilichkeit des Gerichts wird ua durch das Recht der Beteiligten gesichert, Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen zu können (§ 60 Abs 1 SGG iVm §§ 42 ff ZPO). Ein Ablehnungsantrag hat grundsätzlich zur Folge, dass die abgelehnten Richter nur unaufschiebbare Prozesshandlungen vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs vornehmen dürfen (§ 60 Abs 1 SGG, § 47 ZPO). Bei dem kollegial besetzten LSG ist über den Ablehnungsantrag grundsätzlich ohne den abgelehnten Richter von dem zuständigen Senat mit dem nach der Geschäftsverteilung berufenen Vertreter zu entscheiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn lediglich über die Zulässigkeit des Ablehnungsantrags zu befinden ist (vgl -, juris RdNr 6).

Diese Vorschriften dienen dem durch Art 101 Abs 1 Satz 2 GG verbürgten Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern. Die Zuständigkeitsregelung trägt dem Umstand Rechnung, dass es nach der Natur der Sache an der völligen inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines Richters fehlen wird, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine eigene angebliche Befangenheit selbst entscheiden müsste. Doch wie im Zivil- und Strafprozess ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anerkannt, dass abweichend von dem aufgezeigten Grundsatz ein Spruchkörper ausnahmsweise in alter Besetzung unter Mitwirkung des abgelehnten Richters über unzulässige Ablehnungsgesuche in bestimmten Fallgruppen entscheidet.

Hierzu hat das BVerfG entschieden, dass bei strenger Beachtung der Voraussetzungen des Vorliegens eines gänzlich untauglichen oder rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung mit der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG nicht in Konflikt gerät, weil die Prüfung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und deshalb keine Entscheidung in eigener Sache ist (vgl BVerfGK 5, 269, 281 f = NJW 2005, 3410, 3412). Ein solchermaßen vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll aber nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern. Eine völlige Ungeeignetheit eines Ablehnungsgesuchs in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist. Ist hingegen eine - wenn auch nur geringfügige - Befassung mit dem Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet eine Ablehnung als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Selbstentscheidung ist dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum "Richter in eigener Sache" machen. Diese Voraussetzungen für eine Selbstentscheidung des abgelehnten Richters über den ihn betreffenden Befangenheitsantrag sind verfassungsrechtlich durch Art 101 Abs 1 Satz 2 GG vorgegeben (vgl -, juris RdNr 20 ff mwN = NJW 2007, 3771 ff). Dies hat das LSG verkannt.

Die abgelehnte Richterin hat über das gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch als Vorsitzende mit zwei anderen Richterinnen entschieden, weil sie es lediglich nicht für "substantiiert begründet" gehalten haben. Damit wird das Selbstentscheidungsrecht unzulässig auf Fälle der mangelnden Begründetheit eines Ablehnungsgesuchs ausgedehnt. Um einen sonst vorliegenden Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG zu vermeiden, dürfte ein derart vereinfachtes Ablehnungsverfahren nicht einmal auf Situationen "offensichtlicher Unbegründetheit" des Ablehnungsgesuchs erstreckt werden (vgl BVerfGK 5, 269 = NJW 2005, 3410, juris RdNr 55 mwN).

3. Der hier vorliegende absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG) führt in einem Revisionsverfahren - nach entsprechender Rüge - zur Aufhebung und Zurückverweisung, weil unwiderlegbar feststeht, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruht. § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ist dagegen grundsätzlich nicht anwendbar, wenn ein absoluter Revisionsgrund vorliegt. Deshalb dürfte der Senat die zuzulassende Revision selbst dann nicht zurückweisen, wenn sich die LSG-Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellen sollte (vgl näher BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 1 RdNr 13 mwN). Auf die weiteren mit der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rügen kommt es mithin nicht mehr an.

4. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160a Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Verweisung an einen anderen Senat des LSG gemäß § 563 ZPO iVm § 202 SGG ist zur Vermeidung eines - möglichen - Anscheins der Voreingenommenheit und zur Gewährleistung einer unbefangenen Rechtsfindung nicht geboten.

5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten. Die Entscheidung zur Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und § 47 Abs 1 Gerichtskostengesetz.

Fundstelle(n):
BAAAD-42868