Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung: Neue Tatsachen nach Erledigung des psychiatrischen Maßregelvollzugs; im Strafvollzug aufgetretene psychische Erkrankung
Gesetze: § 66b Abs 1 S 1 StGB, § 66b Abs 3 StGB, § 67d Abs 6 StGB
Instanzenzug: LG Bochum Az: II-29 KLs 36 Js 443/99 - 23/08 - 6 Ss 439/09 Urteil
Gründe
1Das Landgericht hat es abgelehnt, gegen den Verurteilten gemäß § 66 b StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
I.
21. Der heute 51jährige Verurteilte ist bereits vielfach wegen Körperverletzungs-, Eigentums- und Straßenverkehrsdelikten vorgeahndet. Er wurde unter anderem durch wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der Verurteilte nach einer Geburtstagsfeier in alkoholisiertem Zustand einem anderen Gast aus Verärgerung zwei Messerstiche versetzt hatte, weil dieser unbefugt sein Kraftfahrzeug benutzt und dieses dabei beschädigt hatte. Weiterhin wurde er durch (Berufungs-) Urteil des Landgerichts Freiburg vom wegen Betäubungsmittelstraftaten zu einer (Gesamt-) Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gegenstand dieser Verurteilung war, dass der Verurteilte bei vier Beschaffungsfahrten zwischen Juli und Oktober 1996 in den Niederlanden insgesamt 246 g Heroin erworben und nach Deutschland eingeführt hatte. Das Heroin überließ er zum Teil seiner damaligen heroinabhängigen Lebensgefährtin, teilweise verkaufte er es weiter.
32. Am verurteilte das Landgericht Bochum den Verurteilten im Anlassverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung, Entziehung einer Minderjährigen und versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Gleichzeitig ordnete es seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB an. Nach den Feststellungen fuhr der Verurteilte - nicht ausschließbar unter Wirkung eines nicht ermittelten Stoffes, den ihm unbekannt gebliebene Personen zuvor eingeflößt hatten - am mit seinem Kraftfahrzeug von F. nach C. Dort sprach er auf der Straße ein 8jähriges Mädchen an und zog es in sein Fahrzeug. Anschließend fuhr er mit dem Kind in ein Waldgelände und erzwang sexuelle Handlungen, in deren Verlauf er sich von dem Kind oral befriedigen ließ.
4Während der Tatausführung war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auf Grund einer psychischen Störung, möglicherweise gesteigert durch den ihm zuvor eingeflößten Stoff, erheblich vermindert. Hierzu hat das Landgericht ausgeführt:
Der Angeklagte hat eine Persönlichkeitsstörung vom sogenannten Borderline-Typ, sie zeigt sich schwerpunktmäßig in dissozialem Verhalten. Ihm gelingt es nicht, soziale Regeln zu internalisieren und nach ihnen zu handeln. Bei ihm besteht daneben, insoweit auch für das Syndrom typisch, eine sexuelle Präferenz für heterosexuell pädophile Betätigung mit entsprechenden Triebinspirationen. Sexuelle und destruktive Impulse können sein Kontrollvermögen im Einzelfall so stark belasten, dass er bei entsprechenden Reizen und einem sexuellen Drang nur vermindert in der Lage ist, nach seiner gewonnenen Einsicht zu handeln.
5Zur Unterbringung nach § 63 StGB führte das Landgericht aus, es sei auf Grund des festgestellten psychopathologischen Befundes zu erwarten, dass der Verurteilte bei Hinzutreten weiterer Umstände, wie sexueller Reize, auch in Zukunft erhebliche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begehen werde.
63. Der Verurteilte verbüßte zunächst einen Strafrest aus der Verurteilung des Landgerichts Freiburg vom . Ab dem befand er sich im Maßregelvollzug, zuletzt in der Klinik N. in W. Mit Beschluss vom erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Koblenz die durch das Urteil des Landgerichts Bochum vom angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt. Das Landgericht Koblenz war dem Gutachten des gehörten Sachverständigen folgend zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Verurteilten zwar (weiterhin) eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen, narzisstischen, emotional instabilen und schizoiden Elementen vorliege sowie eine Störung der Sexualpräferenz vom Prägnanztyp der Pädophilie als heterosexuell pädophile Nebenströmung. Zum Tatzeitpunkt sei jedoch weder Schuldunfähigkeit noch eine (erheblich) verminderte Schuldfähigkeit gegeben gewesen, so dass eine Fehleinweisung vorliege. Zudem sei zu beachten, dass es sich um eine erstmalige Straftat des Verurteilten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gehandelt habe, so dass zum Urteilszeitpunkt zwar die Möglichkeit, nicht jedoch die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bestanden habe. Gleichzeitig entschied die Strafvollstreckungskammer, dass die Vollstreckung des Strafrestes nicht gemäß § 57 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Es seien zwar keine Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu erwarten, wohl aber Straftaten gegen das Eigentum, die Gesundheit und das Leben. Vor der Entlassung des Verurteilten in die Freiheit sei zunächst noch ein Aufenthalt in einem strukturierten, gesicherten Lebensbereich wie dem Strafvollzug erforderlich.
7Seit dem befand sich der Verurteilte zur Verbüßung des Strafrestes aus dem Urteil des Landgerichts Bochum vom in Strafhaft. Am hatte er die Strafe voll verbüßt. Im Anschluss befand er sich auf Grund des Unterbringungsbefehls des Landgerichts Bochum vom in Sicherungshaft.
II.
8Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Prüfung stand.
91. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom (BGHSt 52, 379 ff.) nicht in Betracht kommt, da der Verurteilte nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war.
102. Die danach allein in Betracht kommende Anordnung der Maßregel nach § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB hat es ebenfalls rechtsfehlerfrei verneint.
11a) Nach den vom Landgericht als nachvollziehbar und überzeugend gewerteten Ausführungen der drei angehörten Sachverständigen liegt bei dem Verurteilten (weiterhin) eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen, emotional instabilen borderline-typischen, narzisstischen und schizoiden Anteilen vor, die sich unter anderem in einer Kontrollschwäche von Impulsen und Affekten sowie der Unfähigkeit zu konstanter sozialer Integration manifestiert. Zudem besteht bei ihm eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer pädophilen Nebenströmung. Als zusätzliche (neue) Diagnose wurde eine organische wahnhafte schizoide Störung im Sinne des ICD 10 F 06.2 (so die Sachverständigen Dr. T. und B.) bzw. eine subkortikale vaskuläre Demenz gemäß ICD 10 F 01.2 (so die Sachverständige Dr. L.) festgestellt, die sich im Laufe der Jahre schleichend entwickelt hat und die als Auslöser dafür in Betracht kommt, dass der Verurteilte nunmehr auf Grund wahnhafter Störungen im Sinne eines Größenwahns der Auffassung ist, er habe die mathematische „Weltformel“ erfunden.
12Die Sachverständigen sind übereinstimmend zu der Einschätzung gelangt, dass bei dem Verurteilten auf Grund der bisher diagnostizierten Störungen - ungeachtet des zusätzlich festgestellten Befundes - weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit gleiche oder ähnliche Taten wie bisher von ihm begangen zu erwarten seien. Zu der neu diagnostizierten Störung haben die Sachverständigen Dr. T. und B. ausgeführt, dass aus ihr nicht notwendig der Schluss auf eine erhöhte Gefährlichkeit zu ziehen sei. Jedoch sei die Prognose auf Grund des Wahns durch das Hinzutreten einer weiteren Diagnose als ungünstiger einzuschätzen. Die Sachverständige Dr. L. hat hierzu die Auffassung vertreten, die neu hinzugetretene Diagnose berge nicht per se die Gefahr einer erhöhten Bereitschaft zu Gewaltdelikten, vielmehr sei die kriminelle Relevanz eher als insgesamt gering einzuschätzen.
13b) Das Landgericht hat jedoch - ungeachtet der danach fortbestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten - die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung mangels Vorliegens „neuer“ Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB abgelehnt.
14In diesem Zusammenhang hat es ausdrücklich bedacht, dass es nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom in den Fällen, in denen eine Anordnung nach § 66 b Abs. 3 StGB wegen eines noch zu vollstreckenden Strafrestes aus der Anlassverurteilung nicht in Betracht kommt, für die Annahme neuer Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB genügt, dass die fortbestehende (qualifizierte) Gefährlichkeit aus anderen Tatsachen hergeleitet werden kann als aus denjenigen, die im Anlassurteil zur Begründung des länger andauernden Zustands herangezogen wurden, der zur positiven Feststellung erheblich verminderter Schuldfähigkeit bei Tatbegehung (§ 21 StGB) und zur Anordnung nach § 63 StGB führte (BGHSt 52, 379, 390 f.). Ebenfalls hat es hervorgehoben, dass es danach ohne Bedeutung ist, ob diese Tatsachen dem damaligen Tatrichter bekannt waren oder bekannt sein mussten.
15Derartige prognoserelevante Tatsachen hat das Landgericht indes nicht festzustellen vermocht.
16Es ist hierbei - nach Durchführung einer umfangreichen Beweisaufnahme - zu dem Ergebnis gelangt, dass sich aus den dem Verurteilten in einem früheren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Verfahren zur Last gelegten Taten keine Tatsachen ergeben, die den Schluss auf eine Gefährlichkeit des Verurteilten rechtfertigen könnten. Auch dem Verhalten des Verurteilten im Maßregelvollzug hat es nach sorgfältiger Prüfung, insbesondere unter Berücksichtigung der Vollzugssituation (vgl. hierzu Senat, Beschl. vom - 4 StR 485/05; Urt. vom - 4 StR 393/05) und des Erfordernisses, dass die „neuen“ Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten müssen (vgl. Senat aaO sowie ), weder für sich gesehen noch im Rahmen einer Gesamtschau das für eine Anordnung nach § 66 b Abs. 1 StGB erforderliche Gewicht zugemessen. Schließlich hat das Landgericht auch geprüft, ob die nunmehr festgestellte, sich seit mehreren Jahren entwickelnde organische wahnhafte Störung bzw. Demenzerkrankung des Verurteilten die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen kann. Es hat dies unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs () mit der Begründung verneint, dass eine im Strafvollzug aufgetretene psychische Erkrankung des Verurteilten für sich genommen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b StGB regelmäßig nicht begründen kann. Die abstrakte Eignung der Diagnose für eine erhöhte Gefährlichkeit genüge nicht. Erforderlich sei vielmehr, dass sich die Erkrankung während der Strafhaft in einer für die Gefährlichkeitsprognose relevanten Weise im Verhalten des Verurteilten ausgedrückt hat (vgl. BGH aaO). Dies sei hier nicht der Fall. Der Verurteilte sei von den als Zeugen vernommenen Vollzugsbediensteten der Justizvollzugsanstalt B., in der er seit mehr als zwei Jahren inhaftiert war, als ruhig, zugänglich, freundlich und offen charakterisiert worden. Während der gesamten Haftzeit sei es nicht zu Gewalttätigkeiten, Aggressionen oder erheblichen Auseinandersetzungen zwischen dem Verurteilten und Mitarbeitern oder Mitgefangenen gekommen. Auch auf Bemerkungen zu der von ihm entwickelten „Urformel“ bzw. „Weltformel“ habe er ruhig und sachlich reagiert.
17c) All dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Solche deckt auch die Beschwerdeführerin nicht auf.
18Entgegen der Auffassung der Revision sind die Urteilsfeststellungen zu der von den Sachverständigen zusätzlich festgestellten organischen wahnhaften Störung bzw. Demenzerkrankung weder lückenhaft noch widersprüchlich. Soweit die Beschwerdeführerin weitergehende Feststellungen zu deren Auswirkungen und Relevanz für die zu treffende Prognoseentscheidung vermisst, kann sie mit der Sachrüge nicht gehört werden. Hierzu hätte es gegebenenfalls der Erhebung einer Verfahrensrüge in Form einer Aufklärungsrüge bedurft.
19Die Urteilausführungen lassen auch nicht besorgen, dass das Landgericht bei der Beurteilung der Frage, ob Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB vorliegen, einen von den Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom abweichenden Maßstab angelegt hat. Das Landgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass es bei der hier zu beurteilenden Konstellation ohne Bedeutung ist, ob die in Betracht kommenden Umstände dem ursprünglichen Tatrichter bekannt waren oder bei pflichtgemäßer Beachtung der Aufklärungspflicht hätten bekannt sein müssen. Es hat im Weiteren entsprechend den Vorgaben des Großen Senats für Strafsachen geprüft, ob die Gefährlichkeit des Verurteilten aus anderen Tatsachen herzuleiten ist als denjenigen, die im Ausgangsurteil zur Begründung der erheblich verminderten Schuldfähigkeit und Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB geführt haben. Dies hat es mit rechtsfehlerfreier Begründung verneint. Dass das Landgericht dabei - wie die Revision meint - die zuvor im Rahmen der Feststellungen zur Person im Urteil ausführlich dargestellte bisherige Lebensführung des Verurteilten und seine Straffälligkeit aus dem Blick verloren hat, kann ausgeschlossen werden.
203. Da sich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft als unbegründet erweist, bestand für den Senat mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom in der Rechtssache M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04) kein Anlass, von einer Entscheidung solange abzusehen, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Frage des Strafcharakters von Sicherungsverwahrung endgültig im Sinne des Art. 44 MRK entschieden hat (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom - 4 StR 577/09).
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Mutzbauer
Fundstelle(n):
NAAAD-41211