BVerwG Urteil v. - 10 C 23.08

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: AsylVfG § 3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Satz 2; AuslG 1990 § 51 Abs. 3 Satz 2; AufenthG § 60 Abs. 8 Satz 2 (a.F.); AufenthG § 60 Abs. 1 Satz 1; GFK Art. 1 F, Art. 33 Abs. 2; IStGH-Statut Art. 8, Art. 25, Art. 27, Art. 28; VwGO § 108 Abs. 1, § 137 Abs. 2, § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2; Richtlinie 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, Art. 8 Abs. 1, Art. 12 Abs. 2

Instanzenzug: VGH Hessen, 3 UE 410/06 .A vom VG Wiesbaden, VG 5 E 2560/01 .A(2) vom Veröffentlichungen: Amtliche Sammlung: nein; Fachpresse: nein

Gründe

I

Die Kläger, aus Tschetschenien stammende Eheleute russischer Staatsangehörigkeit, erstreben die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der 1978 geborene Kläger und die 1981 geborene Klägerin reisten im Juni 2001 auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragten Asyl. Zur Begründung ihres Asylbegehrens gab der Kläger an, dass er bei einem Verwandten, einem Kriegskommandanten und späteren Bürgermeister ihres Ortes, im Sicherheitsdienst der Regierung Maschadow gearbeitet habe. Im zweiten Tschetschenienkrieg habe er zusammen mit einem Onkel, dem Kläger im Verfahren BVerwG 10 C 24.08, in einer Gruppe, die dem Oberbefehl von B. unterstanden habe, gegen die Russen gekämpft. Sie hätten ferngezündete Minen auf der Straße verlegt und bei Truppenbewegungen hochgejagt. Russische Kräfte hätten mehrfach das Haus nach ihm durchsucht. Bei einem größeren Angriff auf russische Soldaten im Februar 2001 sei sein Cousin tödlich verletzt worden. Dieser sei in ein Krankenhaus gebracht worden, das sie dann umstellt hätten. Dabei sei er wohl erkannt worden. Aus gesundheitlichen Gründen habe er nicht mehr weiterkämpfen können. Die Klägerin trug vor, sie habe den Kläger im Juni 1999 geheiratet. Man habe ihren Ehemann gesucht, der sich jedoch versteckt habe und kaum zu Hause gewesen sei. Seinetwegen sei auch sie bedroht worden. Die letzte Hausdurchsuchung russischer Sicherheitskräfte habe im Februar 2001 stattgefunden.

Mit Bescheid vom lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) die Asylanträge der Kläger ab, stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, und drohte den Klägern die Abschiebung in die Russische Föderation an.

Im Klageverfahren hat das Auswärtige Amt auf Anfrage des Verwaltungsgerichts mitgeteilt, dass B. einer der Anführer der tschetschenischen Terroristen gewesen sei, die im Oktober 2002 in einem Moskauer Musical-Theater über 700 Theaterbesucher als Geiseln genommen hätten. Er sei - wie alle anderen Geiselnehmer - bei der Befreiungsaktion von russischen Sicherheitskräften getötet worden.

Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch der Kläger auf Zuerkennung von Asyl abgetrennt und die Klage insoweit mit Gerichtsbescheid vom als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Mit Urteil vom hat es die Klage im Übrigen abgewiesen, weil der Vortrag der Kläger unglaubhaft sei.

Auf die Berufung der Kläger hat der Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom die Beklagte unter Aufhebung des Urteils erster Instanz verpflichtet, für beide Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen. Er hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass die Kläger vorverfolgt aus Tschetschenien ausgereist seien. Ihr Leben und ihre Freiheit seien allein wegen ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit unmittelbar bedroht gewesen. Zusätzlich seien die Kläger aber auch aus individuellen Gründen vorverfolgt. Dem Kläger habe nach seinen glaubhaften Angaben unmittelbar die Verhaftung mit flüchtlingsrelevanten Übergriffen durch russische Sicherheitskräfte gedroht, die nicht durch legitime Terrorismusbekämpfung gerechtfertigt sei; gleiches gelte für die Klägerin. Gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG komme es auf die zusätzliche Prüfung einer internen Schutzmöglichkeit zum Ausreisezeitpunkt nicht mehr an. Die Kläger könnten weder nach Tschetschenien noch in andere Gebiete der Russischen Föderation zurückkehren, da keine stichhaltigen Gründe dagegen sprächen, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wären. Bei dem Kläger sei davon auszugehen, dass den russischen Sicherheitskräften sowohl seine Tätigkeit unter der Regierung Maschadow als auch seine Aktivitäten als Tschetschenienkämpfer bekannt seien und er daher als Terrorist gesucht werde. Bei Rückkehr in sein Heimatland drohten ihm flüchtlingsrechtlich relevante Übergriffe; gleiches gelte für die Klägerin. Für den Kläger sei die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nicht gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen. Er habe sich zwar nach eigenen Angaben an der Tötung russischer Soldaten beteiligt. Seine Kampfeinsätze seien jedoch keine Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung, sondern Teil kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen und erfüllten weder die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG noch der Nr. 2. Zwar könnten die von dem Kläger beschriebenen Überfälle auf russische Sicherheitskräfte durchaus als verbrecherische Handlungen qualifiziert werden; ihnen sei jedoch weder der politische Hintergrund abzusprechen noch richteten sie sich gegen die Zivilbevölkerung. Die die Autonomie Tschetscheniens verteidigenden Rebellen hätten sich in einer Selbstverteidigungslage gegenüber den russischen Besatzern geglaubt. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG greife nicht, da den Aktivitäten des Klägers die dafür erforderliche internationale Dimension fehle.

Mit ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht habe bei der Prüfung der Ausschlussgründe die Maßstäbe verkannt. Die Auslegung des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG greife zu kurz, da zu Kriegsverbrechen neben Übergriffen auf die Zivilbevölkerung auch bestimmte Maßnahmen gegen Kombattanten zählten. Die allein auf die Aussagen des Klägers gestützte Würdigung des Berufungsgerichts reiche insoweit nicht aus, zumal nach dessen Feststellungen auch die tschetschenischen Rebellen terroristische Anschläge verübt und Menschenrechtsverletzungen begangen hätten. Entsprechendes gelte für die Prüfung des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil. Es seien keine Tatsachen festgestellt worden, welche die Anwendung der Ausschlussgründe rechtfertigen könnten. Der völkerstrafrechtliche Hintergrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG verbiete es, die beweisrechtlichen Grundsätze zu weit von den strafverfahrensrechtlichen Maßstäben zu lösen. Wegen des Ausnahmecharakters der Ausschlussgründe müssten die individuellen Umstände und Tatsachen besonders sorgfältig und erschöpfend auf der Grundlage der zugänglichen Informationen festgestellt werden. Nr. 1 der genannten Vorschrift könne keine Anwendung finden, denn die Aktionen der Kampfgruppe des Klägers hätten sich nur gegen den militärischen Gegner gerichtet. Zwar sei der Oberbefehlshaber an dem terroristischen Angriff auf das Musical-Theater in Moskau im Oktober 2002 beteiligt gewesen, aber zu diesem Zeitpunkt habe sich der Kläger bereits im Bundesgebiet befunden. Nr. 2 der Vorschrift greife nicht, denn es gebe keinerlei Hinweise dafür, dass der die Autonomie Tschetscheniens verteidigende Kläger an mit humanitärem Völkerrecht unvereinbaren Einsätzen gegenüber Kombattanten oder Übergriffen auf die Zivilbevölkerung beteiligt gewesen sei.

Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt. Er ist der Auffassung, das Berufungsgericht habe § 3 Abs. 2 AsylVfG fehlerhaft angewendet. Es habe auf der Grundlage seiner eigenen Feststellungen hinreichend Anlass zu einer intensiveren Prüfung bestanden, ob die Flüchtlingsanerkennung des Klägers wegen seiner Zugehörigkeit zu den tschetschenischen Rebellen und deren Kampfführung ausgeschlossen sei.

II

Die Revision der Beklagten hat teilweise Erfolg. Das Berufungsgericht hat die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei den Klägern ohne Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) bejaht (1.). Demgegenüber verletzt seine Annahme, der Kläger sei Flüchtling, § 3 Abs. 2 AsylVfG (2.). Da der Senat über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 1798) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 162). Die in diesen Bekanntmachungen berücksichtigten Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom (BGBl. I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz -, die am in Kraft getreten sind, hat der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylVfG zu Recht der am ergangenen Berufungsentscheidung zugrunde gelegt.

1. Das Berufungsgericht hat den Klägern die Flüchtlingseigenschaft u.a. deshalb zugesprochen, weil ihnen in Tschetschenien eine individuelle politische Verfolgung unmittelbar gedroht habe. Der Kläger habe mit sofortiger Verhaftung und damit einhergehenden flüchtlingsrelevanten Übergriffen der russischen Sicherheitskräfte rechnen müssen. Auch der Klägerin hätten bei Hausdurchsuchungen Übergriffe und eine menschenrechtswidrige Behandlung gedroht. Sie seien deshalb vorverfolgt. Bei dem Kläger könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er bei einer Rückkehr wegen seiner Tätigkeit im Sicherheitsdienst unter Maschadow und der Teilnahme am bewaffneten Kampf als Terrorist gesucht werde und es bei einer Verhaftung zu Übergriffen der Sicherheitskräfte komme. Die Klägerin habe als Familienangehörige eines Tschetschenienkämpfers mit entsprechenden Maßnahmen zu rechnen. Den Klägern stehe im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung auch keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Föderation offen. Diese Begründung, die die angefochtene Entscheidung unabhängig von den Ausführungen zur Gruppenverfolgung trägt, hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung stand.

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG Nr. 1 304 S. 12) - sog. Qualifikationsrichtlinie - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).

a) Nach den von der Beklagten nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, an die der Senat gebunden ist (§ 137 Abs. 2 VwGO), drohte dem Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise - belegt durch die mehrfachen Hausdurchsuchungen - unmittelbar die Verhaftung. Der Klägerin habe eine menschenrechtswidrige Behandlung durch russische Sicherheitskräfte gedroht, die mehrfach nach dem Kläger gesucht und sie dabei bedroht hätten. Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar - d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss (vgl. BVerwG 9 C 91.90 u.a. - und - BVerwG 9 C 45.92 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 143 S. 289 <291 f.> und Nr. 166 S. 403 <404 ff.>). Diese Voraussetzung hat das Berufungsgericht festgestellt. Es ist davon ausgegangen, dass eine Verhaftung mit einer schweren menschenrechtswidrigen Behandlung durch die russischen Sicherheitskräfte einhergegangen wäre, weil mit Rebellen und Mitgliedern der Regierung Maschadow im Zweifelsfall "kurzer Prozess" gemacht worden sei. Eine Anwendung physischer Gewalt der im Berufungsurteil festgestellten Art stellt sich als schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte - hier des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK - dar und erfüllt damit den Tatbestand einer Verfolgungshandlung (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG). Die drohende Verfolgung ging dabei von russischen Sicherheitskräften und somit unmittelbar vom Staat aus (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a AufenthG i.V.m. Art. 6 Buchst. a der Richtlinie). Das Vorliegen von (flüchtlingsrechtlich unbeachtlichen) Exzesstaten hat das Berufungsgericht angesichts der großen Zahl nicht geahndeter Übergriffe zu Recht ausgeschlossen.

b) § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt des Weiteren voraus, dass die geschützten Rechtsgüter wegen der Rasse des Ausländers, seiner Religion, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sind. Auch gemeinschaftsrechtlich ist eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann relevant, wenn sie an einen der in Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie).

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts knüpfte die den Klägern drohende individuelle Verfolgung an ihre tschetschenische Volkszugehörigkeit, die Tätigkeit des Klägers für die Regierung Maschadow und den Verdacht der Zugehörigkeit zu den Rebellen an. Darin liegt eine Kombination der Verfolgungsgründe der Rasse und der politischen Überzeugung. Die zu befürchtenden Maßnahmen der Sicherheitskräfte hätten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine legitime Terrorismus- und Separatismusbekämpfung bei Weitem überschritten; sie lassen sich nicht mit der Verfolgung angemessener Sicherheitsinteressen des Staates und dem Rechtsgüterschutz rechtfertigen. Deshalb spricht eine Vermutung dafür, dass die Verfolgungsmaßnahmen den Einzelnen zumindest auch wegen asylerheblicher Merkmale treffen und daher politische Verfolgung darstellen (vgl. BVerwG 9 C 28.99 - BVerwGE 111, 334 <340 f.>).

c) Die vom Berufungsgericht für die Kläger gestellte Verfolgungsprognose ist als in erster Linie tatrichterliche Würdigung revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.

Da die Kläger individuell verfolgt worden sind und ihr Heimatland kurz darauf verlassen haben, kommt ihnen - ohne dass es auf die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger ankäme - die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zugute. Nach dieser Bestimmung ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Eine Vorverfolgung kann nicht mehr wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden ( BVerwG 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 Rn. 29). Mit anderen Worten greift im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung die Beweiserleichterung auch dann, wenn im Zeitpunkt der Ausreise keine landesweit ausweglose Lage bestand.

Zur Überzeugung des Berufungsgerichts sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Kläger bei Rückkehr nach Tschetschenien oder in andere Regionen der Russischen Föderation erneut von staatlicher Verfolgung durch die russischen Sicherheitskräfte bedroht werden. Dieser Prognose liegt die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs zugrunde, dass der Kläger den russischen Sicherheitskräften als Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes unter Maschadow und als Tschetschenienkämpfer bekannt ist und er daher als Terrorist gesucht wird. Für die Klägerin ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sie als Angehörige eines Tschetschenienkämpfers mit entsprechenden Maßnahmen zu rechnen hat. Die Prognose des Berufungsgerichts gründet sich auf einer den Anforderungen des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO genügenden Tatsachenfeststellung. Die darauf aufbauende tatrichterliche Einschätzung, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Kläger bei einer Rückkehr von russischen Sicherheitskräften aufgegriffen und dann misshandelt würden, erscheint nicht spekulativ, sondern nachvollziehbar. Der Verwaltungsgerichtshof hat seine Würdigung auf mehrere Quellen gestützt und ausreichend begründet; revisionsgerichtlich ist dagegen nichts zu erinnern.

Da den Klägern nach den Feststellungen des Berufungsgerichts Verfolgung durch russische Sicherheitskräfte unmittelbar drohte und sie diese bei einer Rückkehr erneut zu befürchten haben, braucht hier nicht entschieden zu werden, ob Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG mit der Formulierung "solche Verfolgung" einen inneren Zusammenhang zwischen festgestellter Vorverfolgung und drohender Verfolgung voraussetzt (vgl. dazu Vorlagebeschluss des Senats vom - BVerwG 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 19 Rn. 41).

d) Das Berufungsgericht hat ferner angenommen, dass den Klägern keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Föderation offen steht. Ob in dem vorliegenden Fall, in dem das Berufungsgericht von einer den Klägern landesweit drohenden Verfolgung durch den Staat ausgegangen ist, überhaupt interner Schutz zu prüfen ist, kann dahinstehen. Das Berufungsgericht hat bereits die erste Voraussetzung des Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie, derzufolge in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bestehen darf, verneint. Es hat die Kläger dabei von der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG profitieren lassen. Das begegnet keinen Bedenken ( BVerwG 10 C 21.08 - [...] Rn. 22 ff.).

2. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingseigenschaft des Klägers nicht entgegen. Zwar habe der Kläger nach eigenen Angaben während des zweiten Tschetschenienkrieges mit anderen Rebellen in einer Kampfgruppe Anschläge auf russische Einheiten verübt und russische Soldaten getötet. Seine Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen die Zivilbevölkerung nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sei, erfülle jedoch nicht die Voraussetzungen der Ausschlussgründe. Diese Annahme schöpft den Begriff des Kriegsverbrechens in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG nicht aus. Sie verletzt zudem § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AsylVfG, weil sie allein auf die Angaben des Klägers gestützt ist und damit auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage beruht.

Wegen der Einzelheiten der Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Urteil des Senats vom gleichen Tag in der gemeinsam verhandelten Sache BVerwG 10 C 24.08 Bezug genommen; die dort den Onkel des Klägers betreffenden Ausführungen unter 2. (Rn. 22 bis 44) gelten mit Ausnahme der Art. 7 IStGH-Statut betreffenden Passage unter c) bb) (Rn. 37 bis 39) für den Kläger entsprechend.

3. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts zu den Ausschlussgründen des § 3 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AsylVfG kann der Senat nicht abschließend selbst entscheiden, ob dem Kläger ein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung zusteht. Deshalb ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Auch insoweit wird auf die Ausführungen in der Entscheidung BVerwG 10 C 24.08 unter 3. (Rn. 45 bis 46) Bezug genommen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin gemäß § 154 Abs. 2 VwGO. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.

Fundstelle(n):
KAAAD-39220