BSG Beschluss v. - B 13 R 303/09 B

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Instanzenzug: LSG Niedersachsen-Bremen, L 2 R 481/07 vom SG Bremen, S 23 RJ 248/04

Gründe

I

Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für ein selbst beschafftes digitales Hörgerät, soweit diese nicht von der beigeladenen Krankenkasse im Rahmen der Festbetragsregelung getragen worden sind.

Der im Jahre 1960 geborene Kläger ist seit seinem 11. Lebensjahr auf dem rechten Ohr taub und auf dem linken Ohr um 30 vH hörgemindert. Seit 1992 war er als Gärtner an einem Krankenhaus beschäftigt, wo er mit der ständigen Pflege der Außenanlagen betraut war.

Im April 2004 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für ein digitales Hörgerät mit Spracherkennung. Er wies auf erhebliche hörbedingte Probleme bei der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit hin. Er habe Anweisungen seines Vorgesetzten nicht richtig verstanden und Besprechungen mit Kollegen bzw Landschaftsarchitekten akustisch nicht folgen können, so dass es zu Missverständnissen bei der Arbeitsausführung gekommen sei. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ), weil ein digitales Hörgerät nicht zur Ausübung der Berufstätigkeit erforderlich sei. Während des Widerspruchsverfahrens ist der Kläger mit einem digitalen Hörgerät versorgt worden. Der Kläger beglich den - nach Abzug des von der Beigeladenen erbrachten Kassenanteils (in Höhe von 523,79 Euro) - verbleibenden Eigenanteil (in Höhe von 1.669,71 Euro).

Mit Urteil vom hat das Sozialgericht Bremen (SG) die Beklagte unter Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide verurteilt, den vom Kläger getragenen Eigenanteil in voller Höhe zu erstatten, weil der Kläger ohne die Versorgung mit einem digitalen Hörgerät nicht mehr den Anforderungen seines Arbeitsplatzes entsprochen habe.

Mit der Berufung hat die Beklagte geltend gemacht, dass die Versorgung des Klägers mit einem voll digitalen Hörgerät aus medizinischer Sicht nicht erforderlich gewesen sei. Mit Urteil vom hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beklagte als zuerst angegangener Leistungsträger iS von § 14 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) zuständig sei. Die Beigeladene sei ihrer Leistungspflicht gemäß §§ 33 Abs 1 Satz 1 iVm 36 Abs 1 Satz 1 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) durch die Kostenübernahme in Höhe des Festbetrages nachgekommen. Eine Leistungspflicht der Beklagten gemäß § 15 Abs 1 Satz 1 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) iVm § 26 Abs 1 und 2 Nr 6 und § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX scheitere daran, dass ein digitales Hörgerät nicht aus beruflichen Gründen erforderlich gewesen sei. Hierfür hat sich der Senat maßgeblich auf die Arbeitgeberauskunft vom bezogen. Die vom Kläger vorgetragenen hörbedingten Kommunikationsdefizite seien allenfalls vereinzelt aufgetreten und im Übrigen nicht nachvollziehbar vorgetragen.

Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisanträge hat das LSG als Ausforschungsanträge zurückgewiesen und über die Berufung ohne weitere Beweisaufnahme befunden.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel wegen mangelnder tatrichterlicher Sachaufklärung (§ 103 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 und 3 SGG.

II

Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet, soweit eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§§ 103, 160 Abs 2 Nr 3 SGG) durch die unterbliebene Vernehmung des Zeugen W. R. geltend gemacht wird.

Das LSG ist dem hilfsweise gestellten Beweisantrag zu Unrecht nicht gefolgt.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG laut Sitzungsniederschrift vom ua den Antrag gestellt,

"hilfsweise, Herrn W. R., zum Beweis folgender Tatsache zu hören:

Der Zeuge wird bekunden, dass der Kläger ohne die Versorgung mit einem digitalen Hörgerät nicht zur ordnungsgemäßen Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit als Gärtner in der Lage war."

Entgegen der Auffassung des LSG handelt es sich um einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, der den Beweisgegenstand (Zeugenvernehmung der benannten Person unter Angabe der Anschrift) und das Beweisthema (sinngemäß: Relevanz der Hörverbesserung am Arbeitsplatz nach Versorgung mit einem digitalen Hörgerät) ausreichend bezeichnet hat. Der Kläger hat dem LSG mithin in der mündlichen Verhandlung hinreichend deutlich vor Augen geführt, dass er die gerichtliche Aufklärungspflicht in Bezug auf die aus der beruflichen Tätigkeit abgeleiteten Anforderungen an sein Hörvermögen noch nicht als erfüllt ansah (vgl allgemein zur "Warnfunktion" eines Beweisantrags, BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21; Senatsbeschluss vom , B 13 R 53/07 B, Juris RdNr 6).

Entgegen der Auffassung des LSG handelt es sich hierbei nicht um einen unzulässigen "Ausforschungsbeweis" (zur Begrifflichkeit vgl Greger in Zöller, ZPO, Komm, 28 Aufl, RdNr 5 vor § 284). Nach den im Zivilprozess entwickelten Grundsätzen zum Ausforschungsbeweis zielt dieser darauf ab, bisher unbekannte Tatsachen zwecks genaueren Vorbringens in Erfahrung zu bringen (vgl Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom , IX ZR 276/98, NJW 2001, 2327; Urteil vom , II ZR 325/05, BB 2007, 1185 mwN). Im sozialgerichtlichen Verfahren liegt ein "Ausforschungsbeweis" vor, wenn ihm die Bestimmtheit bei der Angabe der Tatsachen oder Beweismittel fehlt, oder aber der Beweisführer für seine Behauptung nicht genügend Anhaltspunkte angibt und erst aus der Beweisaufnahme die Grundlage für seine Behauptungen gewinnen will (vgl , zitiert nach Juris). Gleiches gilt, wenn der Zeuge über völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen Aussagen machen soll, die allein den Zweck haben, die Partei erst über ihr unbekannte Vorgänge und Sachverhalte zu informieren (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 211).

Der hier gestellte Beweisantrag zielte hingegen nicht auf eine solche Ausforschung ab. Hiergegen spricht bereits, dass das LSG den Arbeitgeber des Klägers - unter Bezugnahme auf die bereits am erteilte Auskunft - selbst um die namentliche Angabe des im Jahre 2004 zuständigen Vorgesetzten gebeten hatte, um nähere Auskünfte zum Leistungsvermögen des Klägers am Arbeitsplatz zu erhalten. Der Arbeitgeber hat daraufhin mit Schreiben vom - neben dem Leiter der technischen Abteilung - den damals zuständigen Meister, den vom Kläger benannten Zeugen W. R. benannt. Der in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltene Beweisantrag war zwar anders formuliert, sinngemäß zielte er aber auf die Ermittlung hörbedingter Leistungseinschränkungen am Arbeitsplatz ab. Dem steht nicht entgegen, dass das Beweisthema auch subjektive Einschätzungen und Wertungen des Zeugen zur Arbeitsleistung des Klägers umfasste. Eine Pflicht, das Beweisthema durch eine Vielzahl von Einzeltatsachen weiter zu konkretisieren, bestand angesichts des hinreichend deutlich bezeichneten Beweisthemas nicht.

Ein enger Ausnahmefall, wonach ein Gericht auf die Vernehmung eines ordnungsgemäß benannten Zeugen verzichten darf, lag nicht vor. Solche Ausnahmefälle sind dann anzunehmen, wenn es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht ankommt, diese bereits erwiesen sind oder das Beweismittel ungeeignet oder unerreichbar ist (vgl BSG, Beschlüsse vom , B 12 KR 2/07 B, Juris RdNr 11; vom , B 11b AS 37/06 B, NZM 2007, 779; Senatsbeschluss vom , B 13 R 53/07 B, Juris RdNr 8). Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor.

Auf die unter Beweis gestellten Tatsachen kam es bereits deshalb an, weil das LSG die aus der beruflichen Tätigkeit des Klägers abgeleiteten Anforderungen an eine sachgerechte Versorgung mit einem Hilfsmittel zu prüfen hat, wie auch ob ggf berufsbedingte Mehrkosten für ein Hilfsmittel im Rahmen der medizinischen Rehabilitation (§ 15 Abs 1 Satz 1 SGB VI iVm §§ 26 bis 31 SGB IX) im Ermessenswege zu übernehmen sind (vgl Senatsurteil vom , B 13 R 33/07 R, BSGE 101, 207, 215 = SozR 4-3250 § 14 Nr 7 RdNr 45 ff).

Zur Klärung dieser tatsächlichen Voraussetzungen war der benannte Zeuge ein geeignetes und erreichbares Beweismittel. Als direkter Vorgesetzter hätte er die beruflichen Anforderungen an den Arbeitsplatz des Klägers beschreiben und ggf hörbedingte Einschränkungen des Leistungsvermögens bei Versorgung mit einem analogen bzw digitalen Hörgerät beobachten können. Die unter Beweis gestellte Tatsache war auch nicht bereits erwiesen; vielmehr hat das LSG seiner Entscheidung gerade das Gegenteil der vom Kläger behaupteten Tatsache zugrunde gelegt. Die Ablehnung der Vernehmung des Zeugen R. erfolgte daher zu Unrecht.

Entgegen der Auffassung des LSG war diese Frage auch nicht an Sachverständige zu richten, weil bei verständiger Auslegung des Beweisantrags die berufliche Einsatzfähigkeit des Klägers vor und nach Versorgung mit dem digitalen Hörgerät in das Wissen des Zeugen gestellt wurde; hierüber hätte der benannte Zeuge als Vorgesetzter Auskunft geben können.

Durch die Ablehnung des hilfsweise gestellten Beweisantrags hat das LSG das Ergebnis der Beweisaufnahme unzulässig vorweggenommen. Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG), wenn es Zeugen, die von dem Kläger zum Beweis für eine günstige Tatsache benannt worden sind, nicht vernimmt, sondern aufgrund eigener Mutmaßungen unterstellt, dass die Zeugen diese Tatsache nicht bekunden werden (vgl BSGE 2, 273; Senatsbeschluss vom , B 13 R 53/07 B; , beide zitiert nach Juris).

Auf dem oben aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Im Ergebnis ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach weiteren Ermittlungen zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Schließlich kann dahinstehen, ob der Kläger auch die weiteren Verfahrensmängel und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache hinreichend dargetan hat. Das BSG kann in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Entscheidung auch dann wegen eines Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen, wenn die Beschwerde zusätzlich auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützt ist, der Verfahrensmangel aber selbst bei Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung und bei Zulassung der Revision voraussichtlich zur Zurückverweisung führen würde (vgl Senatsbeschluss vom , B 13 RJ 253/05 B, Juris RdNr 8).

Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Fundstelle(n):
OAAAD-38533