Leitsatz
Leitsatz:
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Instanzenzug: OLG Karlsruhe, 10 U 20/08 vom LG Mannheim, 8 O 100/06 vom
Tatbestand
Die Parteien streiten um das Unterlassen von sogenanntem Stalking.
Der Kläger ist Professor an einer Universität, an der die Beklagte 1995 ihr Erstes Juristisches Staatsexamen ablegte. Die Beklagte begann 1999 mit einer Doktorarbeit. Eine aus 128 Seiten bestehende Ausarbeitung beurteilte der Kläger 2002 als nicht annahmefähig und machte Änderungsvorschläge. Die Beklagte gab 2005 eine weitere Ausarbeitung und eine aus 255 Seiten bestehende Schrift über den Ablauf ihres Promotionsvorhabens ("Geschichte des Betreuungsverhältnisses") ab, welche der Kläger an die Staatsanwaltschaft weiterleitete, weil sie rufschädigende und haltlose Tatsachenbehauptungen über ihn enthalte. Die Beklagte verteilte daraufhin an verschiedenen Orten Flugblätter mit dem Lichtbild des Klägers, auf denen sie die Übersendung ihrer Schrift anbot und behauptete, er kaufe Sexualdienstleistungen bei jungen Fixerinnen, weil ihn deren Todesnähe so errege.
Der Kläger trägt vor, die Beklagte stelle ihm und seiner Familie seit 1994 nach. Er begehrt, der Beklagten zu untersagen, Kontakt zu ihm aufzunehmen, seine Wohnung oder Dienststelle zu betreten oder sich dieser zu nähern, die auf dem Flugblatt enthaltene Behauptung aufzustellen und die Schrift "Geschichte des Betreuungsverhältnisses" zu verbreiten.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht dieses Urteil aufgehoben und die Klage wegen Prozessunfähigkeit der Beklagten als unzulässig abgewiesen. Der Kläger erstrebt mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Beklagte, die sich als Rechtsanwältin vor den Instanzgerichten selbst vertreten hat und für die im Revisionsverfahren ein Notanwalt bestellt worden ist, hat ihrerseits Revision eingelegt; sie erstrebt die Abweisung der Klage in der Sache.
Gründe
I. Das Berufungsgericht hat unausräumbare Bedenken gegen die Prozessfähigkeit der Beklagten, die sich nahezu zur Gewissheit verdichtet hätten. Rechtlich ändere die Prozessunfähigkeit einer Partei zwar nichts an der Zulässigkeit ihrer Berufung. Das gelte auch dann, wenn sich die prozessunfähige Partei selbst vertrete. Die Klage sei aber als unzulässig abzuweisen. Das könne nicht durch die Bestellung eines Verfahrenspflegers verhindert werden, denn dies setze Gefahr im Verzug voraus. Die Verwirklichung der Rechte des Klägers ohne Pflegerbestellung sei aber nicht ernsthaft gefährdet, da er einen Unterlassungstitel nicht vollstrecken könne, weil § 890 ZPO schuldhafte Zuwiderhandlungen voraussetze, die Beklagte aber schuldunfähig sei. Eine Aussetzung des Verfahrens nach den §§ 241, 246 ZPO komme nicht in Betracht, weil dort nur Fälle geregelt seien, in denen die Prozessfähigkeit erst im Laufe des Prozesses verloren gehe. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO scheide aus, weil eine Entscheidung über die Bestellung eines Betreuers im Betreuungsverfahren nicht vorgreiflich für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits sei. Raum für eine analoge Anwendung des § 148 ZPO bestehe nicht, da das Gesetz die Klage gegen eine nicht prozessfähige Partei in § 57 ZPO abschließend geregelt habe. Das sei nicht unbillig, weil der Kläger vor Klageerhebung rechtzeitig die Bestellung eines Betreuers habe anregen können.
II. A. Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Über die Revision war, da die Beklagte als im Termin nicht erschienen anzusehen war, auf Antrag des Klägers durch Versäumnisurteil zu entscheiden (§§ 331 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 333, 555 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Urteil ist jedoch keine Folge der Säumnis, sondern beruht auf einer Sachprüfung (vgl. BGHZ 37, 79, 81).
1. Das Berufungsgericht hat die - in jeder Lage des Verfahrens, auch in der Revisionsinstanz und insoweit für das zurückliegende Verfahren zu prüfende (Senat, Urteile vom - VI ZR 215/67 - NJW 1969, 1574; vom - VI R 98/69 - NJW 1970, 1683; BGH, BGHZ 86, 184, 188; Urteil vom - IX ZR 73/85 - NJW-RR 1986, 157) - Prozessfähigkeit der Beklagten verneint (§ 56 Abs. 1 ZPO). Das nimmt der Kläger hin und hält der uneingeschränkten Überprüfung Stand.
a) Sind konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Prozessunfähigkeit einer Partei vorliegen könnte, so hat das Gericht wegen dieser Frage, da es um eine Prozessvoraussetzung geht, von Amts wegen Beweise zu erheben, wobei es nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden ist, weil der Grundsatz des Freibeweises gilt. Verbleiben nach Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisquellen hinreichende Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit, so gehen etwa noch vorhandene Zweifel zu Lasten der betroffenen Partei (BGH, BGHZ 18, 184, 188 ff.; 143, 122, 124; Urteil vom - IV ZR 4/62 - NJW 1962, 1510 f.; BAG, NZA 2000, 613, 614; Oda, Die Prozessfähigkeit als Voraussetzung und Gegenstand des Verfahrens, 1997, S. 52 ff.; Bork, ZZP 103, 463 f.; Lube, MDR 2009, 63, 64; a.A. Musielak, NJW 1997, 1736 ff.).
b) Im Streitfall hat das Berufungsgericht insbesondere alle erschließbaren Erkenntnisquellen ausgeschöpft. Es stützt sich auf seinen persönlichen Eindruck von der Beklagten aufgrund ihrer schriftlichen und an zwei Verhandlungsterminen vorgebrachten mündlichen Äußerungen sowie auf eine zweimalige Befragung des Sachverständigen Dr. P., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, der in einem 2008 erstellten Gutachten für die Staatsanwaltschaft bereits die Schuldfähigkeit der Beklagten gemäß den §§ 20, 21 StGB verneint hatte. Darüber hinaus hat es die Beklagte abgelehnt, sich vom Sachverständigen oder einem anderen Gutachter untersuchen zu lassen; eine solche Untersuchung ist nicht erzwingbar (Senat, Beschluss vom - VI ZR 344/08 - juris Rn. 4; - NJW 1990, 1734, 1736, insoweit nicht in BGHZ 110, 294 ff. abgedruckt).
c) Der erkennende Senat schließt sich der Beurteilung des Berufungsgerichts aufgrund eigener Beurteilung des Parteivortrags in allen Instanzen und unter Würdigung des Ergebnisses der vom Berufungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme an.
2. Das Berufungsgericht hat die - vom Revisionsgericht ebenfalls bereits von Amts wegen zu prüfende ( - NJW 2001, 226) - Zulässigkeit der Berufung der Beklagten bejaht. Die dagegen gerichtete Rüge der Revision bleibt ohne Erfolg.
a) Zwar ist für die Zulässigkeit der Berufung grundsätzlich die Prozessfähigkeit des Berufungsklägers als Prozesshandlungsvoraussetzung erforderlich. Jedoch muss im Interesse eines vollständigen Rechtsschutzes auch der Prozessunfähige die Möglichkeit haben, den Prozess durch seine Handlungen in die höhere Instanz zu bringen. Dies gilt anerkanntermaßen für das Rechtsmittel der Partei, die sich dagegen wendet, dass sie in der Vorinstanz zu Unrecht als prozessfähig oder als prozessunfähig behandelt worden ist. Andernfalls bliebe ein an dem Verfahrensverstoß leidendes Urteil der unteren Instanz aufrechterhalten, erwüchse in Rechtskraft und könnte nur mit der Nichtigkeitsklage (§ 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) beseitigt werden (BGHZ 18, 184, 190; 86, 184, 186; 110, 294, 296; - aaO., 158; vom - IVb ZR 10/85 - NJW-RR 1986, 1119). Dieser Gesichtspunkt, der der Schutzbedürftigkeit des Prozessunfähigen Rechnung trägt, hat auch Bedeutung, wenn die Partei, deren Prozessfähigkeit fraglich ist, sich - wie hier - gegen das in der Vorinstanz gegen sie ergangene Sachurteil wendet und mit ihrem Rechtsmittel ein anderes, ihrem Begehren entsprechendes Sachurteil erstrebt. Denn auch in diesem Fall würde mit der Verwerfung der Berufung als unzulässig ein möglicherweise fälschlich ergangenes Sachurteil bestätigt, obwohl es sich bei der Prozessfähigkeit der Partei um eine von Amts wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung handelt (BGHZ 143, 122, 127 f.; Bork, aaO., 464 f.; Adolph/Foerster, BtPrax 2005, 126, 130).
b) Das Gesagte gilt auch dann, wenn der Partei infolge der Prozessfähigkeit auch die Postulationsfähigkeit fehlt (vgl. BGHZ 18, 184 ff.; 143, 122 ff.). Dass der Beklagten, die sich im Berufungsverfahren selbst vertreten hat (§ 78 Abs. 6 ZPO), die Postulationsfähigkeit nicht aufgrund unwirksamer Bevollmächtigung eines Anwalts, sondern aufgrund ihrer eigenen Prozessunfähigkeit fehlte (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 78 Rn. 6), führt nicht zur Unzulässigkeit der Berufung. Der prozessunfähige Rechtsanwalt, der sich selbst vertritt, ist nicht weniger schutzwürdig als die prozessunfähige Partei. Zwar ist § 78 ZPO als Ordnungsvorschrift grundsätzlich streng zu handhaben. Die Revision verkennt aber, dass dadurch eine wertende Betrachtung nicht völlig ausgeschlossen ist (vgl. Zöller/Vollkommer, aaO., § 78 Rn. 5).
3. War eine Partei von Anfang an prozessunfähig, ist die Klage zwar grundsätzlich als unzulässig abzuweisen (vgl. zur Prozessunfähigkeit auf Klägerseite: BGHZ 143, 122 ff.; auf Beklagtenseite: - VersR 1972, 97; vom - IVb ZR 10/85 - aaO.). Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Mangel behoben werden kann. Das kann dadurch geschehen, dass das Prozessgericht der Beklagten gemäß § 57 Abs. 1 ZPO einen Prozesspfleger bestellt (vgl. - aaO.; vom - IV ZR 105/70 - aaO.; Schellhammer, Zivilprozess, 12. Aufl., Rn. 1191). Die Revision rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht einen entsprechenden Antrag des Klägers abgelehnt hat.
a) Der Rüge steht § 557 Abs. 2 ZPO nicht entgegen. Im Streitfall erfolgte die Ablehnung der Bestellung eines Prozesspflegers nicht durch (unanfechtbaren) Beschluss, sondern im Endurteil, in dem die Revision unbeschränkt zugelassen wurde. Deshalb ist die dort enthaltene, zurückweisende Entscheidung mit der Revision überprüfbar (Musielak/Ball, ZPO, 7. Aufl., § 557 Rn. 9; MünchKomm-ZPO/Wenzel, 3. Aufl., § 557 Rn. 12, 17).
b) Auf Antrag des Klägers kann gemäß § 57 Abs. 1 ZPO ein Prozesspfleger bestellt werden, wenn Klage gegen eine prozessunfähige Partei erhoben werden soll und Gefahr im Verzug ist. Die Vorschrift setzt damit voraus, dass die Prozessunfähigkeit vor Rechtshängigkeit besteht. Ist das der Fall, wird sie wie hier aber erst nach Erhebung der Klage erkannt, gilt § 57 Abs. 1 ZPO nach allgemeiner Auffassung entsprechend ( - LM Nr. 1 zu § 56 ZPO; RGZ 105, 401, 404; OLG München, ZInsO 2006, 882, 883; OLG Stuttgart, MDR 1986, 198; Musielak/Weth, aaO., § 57 Rn. 2; MünchKommZPO/Lindacher, aaO., § 57 Rn. 8). Ob mit dem Verzug Gefahr verbunden ist, ist revisionsrechtlich zwar nur begrenzt nachprüfbar, da es sich um eine Ermessensentscheidung handelt (vgl. - aaO.; RGZ 105, 401, 402 f.; OLG Stuttgart, MDR 1996, 198; Käck, Der Prozesspfleger, 1991, S. 56; Wieczorek/Schütze/ Hausmann, ZPO, 3. Aufl., § 57 Rn. 11; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 68. Aufl., § 57 Rn. 5; Zimmermann, ZPO, 8. Aufl., § 57 Rn. 2; Dunz, NJW 1961, 441, 442). Jedoch hat das Revisionsgericht - unabhängig von der Frage, ob § 57 Abs. 1 ZPO grundsätzlich weit auszulegen ist (vgl. - aaO., 1511) - zu überprüfen, ob das Berufungsgericht das Ermessen unsachgemäß ausgeübt hat, insbesondere ob es den Rechtsbegriff der Gefahr im Verzug verkannt oder die tatsächliche Wertungsgrundlage nicht ausgeschöpft hat (RGZ 105, 401, 403; Käck, aaO., S. 56; vgl. Senat, Urteil vom - VI ZR 152/81 - NJW 1983, 2033; Hk-ZPO/Kayser, 3. Aufl., § 546 Rn. 19 ff.). Das ist hier der Fall.
aa) Gefahr im Verzug besteht für den Kläger immer dann, wenn die Verwirklichung seiner Rechte ohne die Pflegerbestellung ernstlich gefährdet, wenn nicht vereitelt würde. Genügen kann, dass ein Aufschub mit erheblichen Nachteilen für den Kläger verbunden oder ein Abwarten unzumutbar wäre (OLG Dresden, AG 2005, 812, 813; Zöller/Vollkommer, aaO., § 57 Rn. 4; Wieczorek/ Schütze/Hausmann, aaO., § 57 Rn. 10; Musielak/Weth, aaO., § 56 Rn. 2; MünchKommZPO/Lindacher, aaO., § 57 Rn. 9; Käck, aaO., S. 51 ff.). Bei Ansprüchen auf Unterlassung einer Handlung ist Gefahr im Verzug regelmäßig gegeben, wenn eine Zuwiderhandlung droht (Käck, aaO., S. 53; vgl. Zimmermann, aaO., § 57 Rn. 2 für Fälle des Arrests).
bb) Dazu hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen, weil es der Auffassung ist, der Kläger könne einen Unterlassungstitel gemäß § 890 ZPO jedenfalls nicht vollstrecken, da die Beklagte nicht nur prozess-, sondern auch schuldunfähig sei (vgl. Weinitschke, Rechtsschutz gegen Stalking de lege lata et ferenda, 2009, S. 76 m.w.N.). Deshalb bedeute die Abweisung der Klage für den Kläger keinen erheblichen Nachteil, dem mit der Bestellung eines Prozesspflegers begegnet werden müsse.
Das ist unrichtig. Die Gefahr im Verzug kann in der Regel nicht mit dem Argument verneint werden, aus dem erstrebtem Titel werde aus tatsächlichen Gründen ohnehin nicht vollstreckt werden können. Dies ergibt sich bereits daraus, dass nicht aus jedem Vollstreckungstitel die Vollstreckung betrieben werden muss, sondern die Verurteilten sich vielfach dem Urteilsausspruch freiwillig unterwerfen. So liegt es im Streitfall. Der Kläger hat vorgetragen, die Beklagte habe sich an von ihm erstrittene Titel bislang strikt gehalten.
4. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses erneut über die Bestellung eines Prozesspflegers entscheiden kann. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
Der Kläger hat angekündigt, er wolle gemäß den §§ 1896 ff. BGB, §§ 271 ff. FamFG beim Betreuungsgericht die Bestellung eines Betreuers anregen, falls die Bestellung eines Prozesspflegers nicht in Betracht komme. Sollte das weiterhin der Fall sein, kann das Berufungsgericht sein Verfahren dazu entweder gemäß den §§ 227, 335 Abs. 2 ZPO vertagen oder es entsprechend § 148 ZPO aussetzen (vgl. BGHZ 41, 303, 310; OLG Koblenz, VersR 2009, 698; Hk-ZPO/Bendtsen, aaO., § 56 Rn. 7). Denn zur Behebung des Mangels der Prozessfähigkeit ist den Parteien grundsätzlich die nötige Zeit einzuräumen (vgl. - aaO.; vom - IVb ZR 10/85 - aaO.; vom - V ZR 188/88 - NJW 1990, 1734, 1736, insoweit nicht in BGHZ 110, 294 ff. abgedruckt; BAG, NJW 2009, 3051, 3052; Hk-ZPO/Bendtsen, aaO., § 56 Rn. 7; Hager, ZZP 97, 174, 178; Wieczorek/Schütze/Gerken, aaO., § 241 Rn. 1).
B. Die Revision der Beklagten war durch Versäumnisurteil zurückzuweisen, weil die Beklagte als im Termin nicht erschienen anzusehen war (§§ 330, 333, 555 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
JAAAD-38069