Vorläufige Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Musterverfahren (§ 165 Abs. 1 AO);
Reichweite der Vorläufigkeitsvermerke
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit Einsprüchen gegen vorläufige Festsetzungen der Einkommensteuer wird häufig geltend gemacht, die durch das ( BStBl 2009 I S. 510) veranlassten Vorläufigkeitsvermerke würden wegen der grundsätzlichen Beschränkung auf streitige verfassungsrechtliche Fragen den Anliegen der Einspruchsführer nicht hinreichend Rechnung tragen. Daneben wird nicht selten vorgetragen, dass die Neuregelungen in § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 und Abs. 2 Satz 3 AO keinen hinreichenden Rechtsschutz böten, sondern diesen unzulässigerweise verkürzten. Im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder möchte ich Ihnen daher erläutern, welche Auffassung die Finanzverwaltung hierzu vertritt.
Nach der Ergänzung des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO um eine neue Nummer 4 ist eine vorläufige Steuerfestsetzung auch im Hinblick auf eine „einfachgesetzliche” Rechtsfrage möglich, wenn diese Gegenstand eines beim Bundesfinanzhof anhängigen Verfahrens ist. Von dieser Möglichkeit macht die Finanzverwaltung aber bisher nur hinsichtlich der Frage Gebrauch, ob Beiträge zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften im Sinne des § 22 EStG abziehbar sind. [1]
Die übrigen Vorläufigkeitsvermerke gemäß der Anlage zum erfassen nur die Frage, ob die in den Vorläufigkeitsvermerken angeführten Rechtsnormen und deren Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Dies ergibt sich sowohl aus dem Erläuterungstext zu den vorläufigen Einkommensteuerbescheiden („Die Vorläufigkeitserklärung erfasst sowohl die Frage, ob die angeführten gesetzlichen Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar sind, als auch den Fall, dass der Bundesfinanzhof die streitige verfassungsrechtliche Frage durch Anwendung bzw. Auslegung des einfachen Rechts entscheidet.”) als auch aus dem Einleitungssatz der Anlage zum („Festsetzungen der Einkommensteuer sind hinsichtlich folgender Punkte gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 3 und 4 AO im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm vorläufig vorzunehmen:”). Durch diese Formulierungen sollte auch vermieden werden, dass den einzelnen Fällen des „Vorläufigkeitskatalogs” jeweils die Wörter „Verfassungsmäßigkeit der/des …” voranzustellen sind.
Der zu Nummer 4 der Anlage zum angewiesene Zusatz („Der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten umfasst auch die Frage einer eventuellen einfachgesetzlich begründeten steuerlichen Berücksichtigung.”) ist somit eine Ausnahme von der in den Erläuterungen zu den Steuerbescheiden und im Einleitungssatz der Anlage zum verdeutlichten Beschränkung der Vorläufigkeitsvermerke auf verfassungsrechtliche Fragen. Grund für diese Erweiterung ist, dass der Bundesfinanzhof [2] vorrangig durch einfachgesetzliche Auslegung der §§ 9 und 22 EStG zu entscheiden hat, ob Beiträge zu Rentenversicherungen vorweggenommene Werbungskosten sind, und sich somit – im Gegensatz zu den übrigen Fällen des „Vorläufigkeitskatalogs” – die Frage der Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Rechtsnormen erst nachrangig stellt. Die Vorläufigkeitsvermerke erfassen zwar nicht undifferenziert „alle denkbaren einfach-rechtlichen Einwendungen”, [3] wohl aber jede vom Bundesfinanzhof potenziell vertretene Auslegungsvariante, durch die eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vermieden wird.
Soweit wegen der Frage der Vereinbarkeit einer Rechtsnorm mit dem Grundgesetz eine Steuer nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 3 und 4 AO vorläufig festgesetzt worden ist [4], sind deshalb nach Auffassung der Finanzverwaltung Steuerbescheide auch dann nach § 165 Abs. 2 AO zu ändern, wenn das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof die streitige Frage dadurch entscheidet, dass das Gericht die vom Vorläufigkeitsvermerk erfasste Rechtsnorm entgegen der bisherigen Verwaltungsauffassung auslegt, diese Auslegung zu einer Steuerminderung führt und im Fall eines Urteils des Bundesfinanzhofs dieses über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden ist. Der Anwendungserlass zur Abgabenordnung wird bei nächster Gelegenheit um eine entsprechende Aussage ergänzt werden.
So würde beispielsweise der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer [5] eine Änderungsmöglichkeit eröffnen, falls der Bundesfinanzhof entscheiden sollte, nur durch eine Änderung seiner Rechtsprechung zum Begriff des Mittelpunktes der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung sei eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zu vermeiden, wenn der Bundesfinanzhof also beispielsweise in dem Revisionsverfahren VI R 13/09 wider Erwarten urteilen sollte, bei Lehrern sei – abweichend von seiner bisherigen Rechtsprechung – das Arbeitszimmer und nicht die Schule der Mittelpunkt der gesamten beruflichen Betätigung.
Die in diesem Zusammenhang geäußerte Annahme, Steuerpflichtige könnten durch einen auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerk dann Rechtsschutznachteile erleiden, wenn der Bundesfinanzhof eine einfachgesetzliche Frage zugunsten des Steuerpflichtigen entschieden hat und die Finanzverwaltung dieses Urteil nicht allgemein anwendet, ist unzutreffend. § 165 Abs. 2 Satz 3 AO bestimmt, dass die Ungewissheit bei Vorläufigkeitsvermerken nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO endet, sobald feststeht, dass die Grundsätze der Entscheidung des Bundesfinanzhofs über den entschiedenen Einzelfall hinaus allgemein anzuwenden sind. Daraus folgt, dass eine Verwaltungsanweisung (BMF-Schreiben oder gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder), die anordnet, ein Urteil des Bundesfinanzhofs über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden, die Ungewissheit im Sinne des § 165 Abs. 2 Satz 3 AO nicht beseitigen und somit die zweijährige Frist gemäß § 171 Abs. 8 Satz 2 AO nicht in Lauf setzen würde. Wird die Steuerfestsetzung für endgültig erklärt (ggf. auf Antrag des Steuerpflichtigen), kann der Steuerpflichtige Einspruch einlegen und sein Anliegen weiterverfolgen. Im Umfang der bisherigen Vorläufigkeit besteht keine Anfechtungsbeschränkung nach § 351 Abs. 1 AO.
Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben [6] nicht die im Revisionsverfahren X R 40/08 zu klärende „einfachgesetzliche” Frage umfasst, ob Steuerberatungskosten (soweit sie nicht als Betriebsausgaben oder als Werbungskosten abziehbar sind) eine „dauernde Last” sein können. Hiergegen spricht bereits der Wortlaut des Vorläufigkeitsvermerks, der § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG, nicht aber den für eine „dauernde Last” relevanten § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG zitiert. Der Ausgang des Revisionsverfahrens X R 40/08 ist zudem nur für die Veranlagungszeiträume 2006 und 2007 von Bedeutung, da nach der ab dem Veranlagungszeitraum 2008 geltenden Neufassung des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG diese Vorschrift „lebenslange und wiederkehrende Versorgungsleistungen” erfasst.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass der Vorläufigkeitsvermerk zur beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG) [7] sämtliche Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 EStG umfasst, somit auch Beiträge zu Kranken- und zu Pflegeversicherungen sowie Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit. Ich gebe jedoch zu bedenken, dass das [8] mit Gesetzeskraft die befristete Weitergeltung der bisherigen Regelungen zur Abziehbarkeit der Beiträge zu Kranken- und zu Pflegeversicherungen angeordnet hat und daher der Vorläufigkeitsvermerk insoweit nicht zu einer Änderung dieser Steuerfestsetzungen führen kann.
Die obersten Finanzbehörden der Länder erhalten Abdrucke dieses Schreibens.
Bundesministerium der Finanzen v. - IV A 3 - S 0338/07/10010
Auf diese Anweisung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Fundstelle(n):
MAAAD-37083
1Nummer 4 der Anlage zum .
2Z. B. in den Revisionsverfahren X R 9/07, X R 28/07 und X R 34/07.
3Entgegen der Auffassung des 7. Senats des (EFG 2008 S. 1082).
4So wird zurzeit mit Ausnahme des Falles „Verfassungsmäßigkeit des Haushaltsbegleitgesetzes 2004” zu sämtlichen Nummern der Anlage zum verfahren.
5Nummer 1 der Anlage zum .
6Nummer 2 der Anlage zum .
7Nummer 3 der Anlage zum .
8Bundesgesetzblatt 2008 Teil I Seite 540.