BVerwG Urteil v. - 1 C 18.08

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Instanzenzug: VG Karlsruhe, 6 K 524/05 vom VGH Baden-Württemberg, 11 S 759/06 vom Veröffentlichungen: Amtliche Sammlung: nein; Fachpresse: nein

Gründe

I

Der Kläger, ein 1975 in Deutschland geborener italienischer Staatsangehöriger, erstrebt die rückwirkende Aufhebung der gegen ihn verfügten Ausweisung.

Als Fünfjähriger zog er mit seiner Mutter für zehn Jahre nach Italien. 1990 kehrte er nach Deutschland zurück. Hier arbeitete er bis 1994 als Gipser, musste diese Tätigkeit aber nach einem Sportunfall aufgeben. Er ist Vater zweier Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit, nämlich eines im Juni 1996 geborenen Sohnes und einer im November 2001 geborenen Tochter. Für seine Tochter übt er gemeinsam mit deren Mutter das Sorgerecht aus.

Im April 1997 wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 16 Fällen - unter Einbeziehung einer vorausgegangenen Verurteilung - zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Davon hat er die Hälfte verbüßt; die Vollstreckung der Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Das Regierungspräsidium Karlsruhe wies den Kläger mit Bescheid vom aus und drohte ihm die Abschiebung an. Sein Widerspruch wurde im November 1997 zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Klage hatte beim Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Im Oktober 1998 lehnte der Verwaltungsgerichtshof den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ab. Daraufhin reiste der Kläger im Dezember 1998 freiwillig nach Italien aus. Auf Antrag des Klägers befristete das Regierungspräsidium die Sperrwirkungen der Ausweisung 1999 auf den .

Nach seiner Ausreise hielt sich der Kläger mehrmals unerlaubt im Bundesgebiet auf. Er wurde deswegen 2002 zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen und 2003 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. 2005 wurde ein weiteres Verfahren wegen unerlaubter Einreise nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt und dem Kläger für die erlittene Untersuchungshaft Entschädigung gewährt.

Am beantragte der Kläger die Rücknahme der Ausweisungsverfügung von 1997. Er begründete dies wie folgt: Das Bundesverwaltungsgericht habe mit BVerwG 1 C 30.02 - unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürften. Außerdem sei für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts abzustellen. Daher sei die auf den zwingenden Ausweisungstatbestand des § 47 AuslG gestützte Ausweisung rechtswidrig. Auch habe man bei der Ausweisung der Verwurzelung des Klägers in Deutschland nicht hinreichend Rechnung getragen.

Daraufhin befristete das Regierungspräsidium die Sperrwirkung der Ausweisung weitergehend auf den , lehnte aber ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens mit Bescheid vom ab. Es begründete dies wie folgt: Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 LVwVfG nicht zu, da in der Änderung der Rechtsprechung grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG zu sehen sei. Soweit daneben die Möglichkeit bestehe, das Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen wieder aufzugreifen, bestehe dafür kein hinreichender Anlass. Die Verfügung von 1997 sei rechtmäßig. Sie wäre auch erlassen worden, wenn damals die Maßstäbe des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom August 2004 angewendet worden wären. Denn vom Kläger sei eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgegangen. Im anschließenden Klageverfahren hat sich das Regierungspräsidium ergänzend auf die Rechtskraft des klageabweisenden verwaltungsgerichtlichen Urteils von 1998 berufen, in dem die Ausweisung als rechtmäßig beurteilt worden war.

Die vom Kläger gegen den ablehnenden Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Die dagegen eingelegte Berufung hat der Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom zurückgewiesen. Er begründet seine Entscheidung zusammengefasst wie folgt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf die rückwirkende Rücknahme seiner Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG. Denn die Rechtskraft des die Ausweisung bestätigenden Urteils von 1998 stehe einer neuerlichen gerichtlichen Entscheidung entgegen, die von der Rechtswidrigkeit der Ausweisung i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ausgehe. Eine erneute rechtliche Bewertung sei daher nur im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens möglich. Die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens betreffend die Ausweisungsverfügung von 1997 lägen allerdings nicht vor. Einem Wiederaufgreifensanspruch aus § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 LVwVfG stehe insbesondere entgegen, dass in der Änderung der Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger keine Änderung der Rechtslage i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG zu sehen sei. Auch ein Anspruch auf Wiederaufgreifen nach Ermessen liege nicht vor. Das Regierungspräsidium habe eine erneute Sachentscheidung ermessensfehlerfrei abgelehnt. Die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung des Beklagten, eine zwar gerichtlich bestätigte, aber materiell gemeinschaftsrechtswidrige Ausweisungsentscheidung zu überprüfen, seien nicht gegeben. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften fordere eine Durchbrechung der Rechtskraft nur, wenn das letztinstanzliche nationale Gericht eine Vorlage nach Art. 234 Abs. 3 EG unterlassen habe, obwohl es hierzu verpflichtet oder jedenfalls berechtigt gewesen sei. Diese Voraussetzung sei hier nicht erfüllt gewesen. Der Verwaltungsgerichtshof sei im Rahmen seiner Entscheidung über die Berufungszulassung im Jahr 1998 zur Vorlage nach Art. 234 Abs. 3 EG nicht berechtigt gewesen, da das Zulassungsbegehren des Klägers damals nicht auf europarechtliche Zweifelsfragen gestützt gewesen sei. Auch habe die Ablehnung des Wiederaufgreifens nationales Recht nicht verletzt. Der Beklagte habe sich auf die Rechtskraft der die Ausweisung bestätigenden Gerichtsentscheidung von 1998 berufen können. Eine Ermessensreduzierung habe nicht vorgelegen, denn die Aufrechterhaltung der Ausweisung sei nicht schlechthin unerträglich. Das die Ausweisung bestätigende Urteil habe der damaligen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entsprochen.

Der Kläger erstrebt mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision, den Beklagten zur rückwirkenden Aufhebung der Ausweisungsverfügung zu verpflichten. Nach seiner Auffassung übersieht das Berufungsurteil, dass die gemeinschaftskonforme Auslegung den Vorrang genieße, wenn eine Vorschrift gemeinschaftskonform und gemeinschaftswidrig ausgelegt werden könne. Da nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zu Gunsten des Betroffenen auch nach rechtskräftiger Klageabweisung zulässig sei, bestehe im Rahmen des Art. 10 EG eine entsprechende Pflicht. Das folge aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. Die Aufrechterhaltung einer rechtswidrigen Gerichtsentscheidung widerstreite dem Rechtsstaatsgedanken.

Der Beklagte tritt der Revision entgegen.

II

Die Revision ist unbegründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht in Übereinstimmung mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Es besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage (1.). Der Kläger hat aber in der Sache keinen Anspruch auf die von ihm begehrte rückwirkende Aufhebung der Ausweisungsverfügung (2.).

1. Für das auf rückwirkende Aufhebung der Ausweisung gerichtete Begehren besteht ein Rechtsschutzbedürfnis trotz der zwischenzeitlichen Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Durch die Befristung ist zwar das mit der Ausweisung kraft Gesetzes eingetretene Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit Wirkung ex nunc entfallen. Auch steht der Erteilung eines (neuen) Aufenthaltstitels nicht mehr die Sperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Die Befristung führt aber nicht zu einem Wiederaufleben des mit der Ausweisung kraft Gesetzes (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990, inzwischen: § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) erloschenen Aufenthaltstitels. Die mit der Ausweisung verbundenen belastenden Regelungswirkungen sind daher durch die Befristung nur teilweise entfallen. Im Fall des Klägers hat die Aufrechterhaltung der Ausweisung zur Folge, dass seine Aufenthalte in Deutschland in der Zeit vor der Befristung nach der von einem beachtlichen Teil der Rechtsprechung vertretenen Auffassung als unerlaubt anzusehen sind und strafrechtliche Konsequenzen haben (vgl. allgemein zur strafrechtlichen Beachtlichkeit behördlicher Verfügungen: - NJW 1969, 2023; a.A. für den Fall einer gemeinschaftsrechtswidrigen Ausweisung: - InfAuslR 2007, 118). Mit Recht kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger durch die Ausweisungsverfügung, die Grundlage seiner strafrechtlichen Verurteilungen in den Jahren 2002 und 2003 wegen unerlaubten Aufenthalts war, weiterhin belastet ist. Das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers folgt daraus, dass er einen Antrag auf Wiederaufnahme dieser Strafverfahren stellen kann und es jedenfalls nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheint, dass für ihn in diesem Rahmen die nachträgliche Aufhebung der Ausweisung von Vorteil ist.

2. Die Klage ist aber in der Sache nicht begründet. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf rückwirkende Aufhebung der Ausweisungsverfügung. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 des hier maßgeblichen Landesverwaltungsverfahrensgesetzes Baden-Württemberg (LVwVfG) liegen nicht vor (2.1). Der Kläger kann eine Rücknahme der Ausweisung auch nicht über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 LVwVfG erreichen. Die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Wiederaufgreifensanspruch nach § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG sind nicht gegeben (2.2). Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48, 49 LVwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne) hat die Behörde ermessensfehlerfrei abgelehnt (2.3).

2.1

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme der Ausweisung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nachdem der Kläger die Ausweisungsverfügung gerichtlich angefochten und das Verwaltungsgericht deren Rechtmäßigkeit - rechtskräftig - bestätigt hat, steht zwischen den Beteiligten - ungeachtet der tatsächlichen Rechtslage - bindend fest, dass die Ausweisung im für die damalige gerichtliche Überprüfung maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz rechtmäßig war. Gemäß § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden ist. Wie der Senat in seinem Urteil vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 26.08 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) im Einzelnen ausgeführt hat, kann die Rechtskraftbindung des § 121 VwGO nur auf gesetzlicher Grundlage überwunden werden. Dies ist der Fall, wenn der Betroffene nach § 51 LVwVfG einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hat oder die Behörde das Verfahren im Ermessenswege wieder aufgreift (vgl. nachfolgend 2.2 und 2.3). Solange diese Voraussetzungen nicht vorliegen, steht § 121 VwGO einer Rücknahme der Ausweisung entgegen.

Die Rechtskraft wirkt - entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers (vgl. Schriftsatz vom , Bl. 180 d.A.) - auch gegenüber einer etwaigen, nach Wohnsitzwechsel des Ausländers zuständig gewordenen Behörde. Denn diese würde insoweit in der Funktionsnachfolge der den Ausweisungsbescheid erlassenen Erstbehörde stehen (so auch Groschupf, DVBl 1963, 661 <663>; Clausing in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Oktober 2008, § 121 Rn. 102; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl.2009 § 121 Rn. 24 und 26).

2.2

Mit Recht ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG für einen gesetzlichen Anspruch auf Wiederaufgreifen des (Ausweisungs-)Verfahrens nicht vorliegen.

a) Ohne Erfolg beruft sich der Kläger auf eine Änderung der Rechtsprechung hinsichtlich der sich aus dem Gemeinschaftsrecht und aus Art. 8 EMRK ergebenden Anforderungen an die Ausweisung eines in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Unionsbürgers und damit zumindest sinngemäß auf den Wiederaufgreifensgrund einer Änderung der Rechtslage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG. Sowohl die nachträgliche Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und eine hierauf beruhende Änderung der höchstrichterlichen nationalen Rechtsprechung als auch die zwischenzeitliche Konkretisierung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts haben jedoch nicht zu einer Änderung der Rechtslage geführt. Eine solche erfordert Änderungen im Bereich des materiellen Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt. Eine Änderung der Rechtsprechung führt eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei. Vielmehr bleibt die gerichtliche Entscheidungsfindung grundsätzlich eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 26.08).

b) Der Kläger erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 3 LVwVfG. Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO liegen nicht vor. Soweit nach § 580 Nr. 8 ZPO die Restitutionsklage stattfindet, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht, setzt dies nach dem Wortlaut der Vorschrift und der Begründung des Gesetzgebers (vgl. BTDrucks 16/3038 S. 38 ff.) voraus, dass sich die Feststellung der Konventionsverletzung auf den konkreten Fall bezieht. Hieran fehlt es. Im Übrigen findet dieser Restitutionsgrund nach der Überleitungsvorschrift zum 2. Justizmodernisierungsgesetz in § 35 EGZPO ohnehin keine Anwendung auf Verfahren, die vor dem rechtskräftig abgeschlossen worden sind.

c) Zu Recht ist das Berufungsgericht mit Blick auf den grundsätzlich abschließenden Charakter der gesetzlichen Wiederaufgreifensgründe des § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 LVwVfG davon ausgegangen, dass die Behörde im Fall der nachträglichen Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage auch nicht verpflichtet ist, das Verfahren in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift wiederaufzugreifen. Die Gründe hierfür hat der Senat in seinem Urteil vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 26.08 im Einzelnen ausgeführt; hierauf wird Bezug genommen.

2.3

Liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG nicht vor, kann die Behörde ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen zugunsten des Betroffenen wiederaufgreifen und eine neue - der gerichtlichen Überprüfung zugängliche - Sachentscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts geht der Senat davon aus, dass es sich bei dieser Möglichkeit des Wiederaufgreifens nicht um einen ungeschriebenen Rechtsgrundsatz des Verwaltungsverfahrensrechts handelt, sondern sie nach Inkrafttreten der Verwaltungsverfahrensgesetze ihre Rechtsgrundlage in § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49 LVwVfG findet. Die Gründe hierfür sowie die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Wiederaufgreifen nach Ermessen nach den genannten Vorschriften hat der Senat ebenfalls in seinem Urteil in der Sache BVerwG 1 C 26.08 im Einzelnen ausgeführt; auch insoweit wird auf das Urteil Bezug genommen.

a) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung des Beklagten zur Überprüfung der nach innerstaatlicher Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftigen Ausweisung nicht vorliegen. Die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in der Rechtssache "Kühne & Heitz" (Urteil vom - Rs. C-453/00 - Slg. 2004, I-00837) aufgestellten und in der Rechtssache "Kempter" (Urteil vom - Rs. C-2/06 - Slg. 2008, I-00411) weiter konkretisierten Voraussetzungen für die Überprüfung einer nach innerstaatlicher Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftigen, aber gemeinschaftswidrigen Verwaltungsentscheidung liegen nicht vor. Es fehlt jedenfalls an einer Verletzung der Verpflichtung zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs nach Art. 234 Abs. 3 EG. Denn ein Verstoß gegen die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof nach Art. 10 EG liegt nur dann vor, wenn der gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkt, dessen Auslegung sich in Anbetracht eines späteren Urteils des Gerichtshofs als unrichtig erwiesen hat, von dem in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gericht entweder geprüft wurde oder von Amts wegen hätte aufgegriffen werden können. Das Gemeinschaftsrecht gebietet den nationalen Gerichten nicht, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu prüfen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die von den Parteien bestimmten Grenzen des Rechtsstreits überschreiten müssten. Sie müssen die rechtlichen Gesichtspunkte, die sich aus einer zwingenden Gemeinschaftsvorschrift ergeben, aber von Amts wegen aufgreifen, wenn sie nach dem nationalen Recht verpflichtet oder berechtigt sind, dies im Falle einer zwingenden Vorschrift des nationalen Rechts zu tun (vgl. a.a.O. Rn. 44 und 45).

Letztinstanzliches nationales Gericht bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisungsverfügung war hier nicht das Verwaltungsgericht, sondern der Verwaltungsgerichtshof; denn gegen das abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts gab es die Möglichkeit, einen Antrag auf Zulassung der Berufung zu stellen (im Ergebnis ebenso BVerwG 3 B 3.86 - NJW 1987, 601). Erst der die Zulassung der Berufung ablehnende Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs konnte nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden. Der Verwaltungsgerichtshof verstieß mit seiner damals getroffenen Entscheidung aber nicht gegen die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG. Den Antrag auf Zulassung der Berufung hatte der Kläger zwar auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, auf einen Gehörsmangel und eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützt, in diesem Zusammenhang aber keine gemeinschaftsrechtlichen Bedenken geltend gemacht. Mangels Darlegung eines auf das Gemeinschaftsrecht bezogenen Zulassungsgrundes prüfte der Verwaltungsgerichtshof daher bei seiner Entscheidung nicht die Vereinbarkeit der Ausweisung mit Gemeinschaftsrecht und war hierzu nach nationalem Prozessrecht auch weder berechtigt noch verpflichtet. Lässt das Verwaltungsgericht die Berufung nicht zu, hat der Antragsteller mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist, und darf der Verwaltungsgerichtshof nach § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO bei der Entscheidung über den Zulassungsantrag nur die Gründe berücksichtigen, die vom Antragsteller (fristgerecht) dargelegt worden sind. Diese der nationalen Verfahrensautonomie unterliegende Einschränkung des gerichtlichen Prüfprogramms im Zulassungsverfahren begegnet auch mit Blick auf das gemeinschaftsrechtliche Äquivalenz- und Effizienzgebot keinen Bedenken.

b) Nach nationalem Recht liegt ebenfalls kein Fall vor, in dem sich das Wiederaufgreifensermessen so verdichtet hat, dass nur ein Wiederaufgreifen des Verfahrens ermessensfehlerfrei wäre. Insoweit ist das Berufungsgericht zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung nicht schlechthin unerträglich wäre.

(aa)

Eine derartige Unerträglichkeit kann sich aus der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit des die Ausweisung bestätigenden Urteils ergeben. In diesem Zusammenhang konnte das Berufungsgericht offen lassen, ob die Ausweisung aus den vom Kläger geltend gemachten Gründen tatsächlich (gemein-schafts-)rechtswidrig war. Denn es fehlt - bezogen auf den Zeitpunkt des die Ausweisung bestätigenden Urteils des Verwaltungsgerichts - jedenfalls an einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit der gerichtlichen Entscheidung.

Zwar dürfen freizügige Unionsbürger - zu denen der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zu rechnen ist - nur bei einer von ihnen ausgehenden gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung aufgrund einer umfassenden Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Dabei ist für die gerichtliche Überprüfung der Ausweisung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsachengerichte abzustellen. Diese gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben waren zum Zeitpunkt der Abweisung der vom Kläger gegen die Ausweisungsverfügung erhobenen Klage durch das Verwaltungsgericht aber nicht offensichtlich, sondern beruhen auf einer späteren Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <301 f.>) in Anlehnung an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in den Rechtssachen "Orfanopoulos und Oliveri" vom (Rs. C-482/01 und C-493/01 - Slg. 2004, I-05257). Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht in seinem Urteil von 1998 die Ausweisung des Klägers an den im AufenthG/EWG geregelten besonderen Voraussetzungen für freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige von EWG-Staaten gemessen; diese war - wie es das Gemeinschaftsrecht fordert - ausschließlich auf spezialpräventive Gründe gestützt.

Die Ausweisung des Klägers war schließlich - bezogen auf den Zeitpunkt der sie bestätigenden gerichtlichen Entscheidung - auch nicht im Hinblick auf Art. 8 EMRK offensichtlich unverhältnismäßig. Art. 8 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Familien- und des Privatlebens. In diese Rechte können die Vertragsstaaten nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eingreifen, soweit die gewählte Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, also durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt wird und mit Blick auf die verfolgten legitimen Ziele auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. - NVwZ 2007, 946 m.w.N.). In diesem Zusammenhang hat der Menschenrechtsgerichtshof wiederholt festgestellt, dass Art. 8 EMRK auch im Gastland geborenen und aufgewachsenen Ausländern der zweiten Generation kein absolutes Bleiberecht gewährt. Entsprechend hat er in der Vergangenheit zwar in einigen Fällen dieser Art eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt, in einem beachtlichen Teil der Fälle eine Verletzung hingegen abgelehnt. Dabei wies die Rechtsprechung lange Zeit stark kasuistische Züge auf (vgl. - NVwZ 2004, 852 m.w.N.). Ob ein Ausländer der zweiten Generation ausgewiesen werden kann, ist letztlich anhand einer einzelfallbezogenen Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers und deren Abwägung gegeneinander zu ermitteln. Dabei sind die vom Menschenrechtsgerichtshof inzwischen entwickelten Kriterien zu beachten (vgl. insbesondere EGMR, Urteile vom - 54273/00 - Boultif, InfAuslR 2001, 476, vom - 46410/99 - Üner, InfAuslR 2005, 450 und vom - 1638/03 - Maslov II, InfAuslR 2008, 333). Dass diese Abwägung hier nur zu Gunsten des Klägers hätte ausfallen dürfen, war bei Abweisung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung nicht evident. Zu seinen Lasten wurden vor allem die Art und die Schwere der von ihm begangenen Straftat (Handel mit Betäubungsmitteln in 16 Fällen) berücksichtigt. Zwar hatte er die Drogenstraftat als Heranwachsender begangen und wurde nach Jugendstrafrecht verurteilt. Das Verwaltungsgericht ging jedoch aufgrund der Persönlichkeit des Klägers von einer Rückfallgefahr aus, weil er sich in einer Krisensituation dem Drogenkonsum und der Drogenkriminalität zugewandt hatte und daher die Gefahr eines entsprechenden Verhaltens in neu auftretenden Konfliktsituationen gesehen wurde. Seine persönlichen Belange nach Art. 8 EMRK waren bereits in die behördliche Ausweisungsentscheidung eingestellt worden, auf die das Urteil des Verwaltungsgerichts verwiesen hat.

(bb)

Die Aufrechterhaltung der Ausweisung ist auch nicht aus sonstigen Gründen schlechthin unerträglich. Ihre Wirkungen wurden inzwischen nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG befristet. Zu Recht weist das Berufungsgericht darauf hin, dass der Kläger damit die Möglichkeit hat, ohne weitere Einschränkungen nach Maßgabe des § 2 FreizügG/EU nach Deutschland einzureisen und sich hier aufzuhalten. Von dieser Möglichkeit hat der Kläger auch Gebrauch gemacht. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bestand auch keine allgemeine Verwaltungspraxis, gegenüber der sich die Ablehnung des Wiederaufgreifens des Verfahrens als gleichheitswidrig erweisen würde.

c) Damit lag die Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des (Ausweisungs-) Verfahrens im Ermessen der Behörde. Das Regierungspräsidium hat dies im Bescheid vom erkannt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat es seine dortigen Ermessenserwägungen im Berufungsverfahren unter Hinweis auf die Bindungswirkung des § 121 VwGO ergänzt. Dies war nach § 114 Satz 2 VwGO möglich. In diesem Fall bedarf es regelmäßig - und so auch hier - keiner weiteren Ermessenserwägungen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

B e s c h l u s s

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 EUR festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).

Fundstelle(n):
GAAAD-37007