BGH Urteil v. - Xa ZR 76/07

Leitsatz

[1] Technische Defekte, wie sie beim Betrieb eines Flugzeugs gelegentlich auftreten können, begründen für sich gesehen keine außergewöhnlichen Umstände, die das Luftfahrtunternehmen von der Verpflichtung befreien können, bei einer aufgrund des Defekts erforderlichen Annullierung des Flugs die nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichszahlung zu leisten. Dies gilt auch dann, wenn das Luftfahrtunternehmen alle vorgeschriebenen oder sonst bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt gebotenen Wartungsarbeiten frist- und ordnungsgemäß ausgeführt hat.

Gesetze: EGBGB Art. 28 Abs. 1; EGBGB Art. 32 Abs. 1

Instanzenzug: AG Erding, 1 C 284/06 vom OLG München, 20 U 1641/07 vom

Tatbestand

Der Kläger, der seinen Wohnsitz in München hat, buchte bei der Beklagten, deren Geschäftssitz sich in Riga befindet, einen Flug von München nach Vilnius. Etwa 30 Minuten vor dem geplanten Start in München wurden die Fluggäste über die Annullierung des Flugs unterrichtet. Grund für die Annullierung war ein Defekt an einem Triebwerk, der im Rahmen einer Tagesinspektion entdeckt wurde. Der Kläger flog - nach entsprechender Umbuchung durch die Beklagte - über Kopenhagen nach Vilnius, wo er mehr als sechs Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit eintraf. Der Kläger begehrt deshalb eine Entschädigung in Höhe von 250 Euro gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen.

Das Amtsgericht hat die Entschädigung antragsgemäß zugesprochen. Es hat die deutschen Gerichte für international zuständig erachtet und die Ursache der Annullierung nicht als außergewöhnlichen Umstand angesehen, der sich auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen. Es hat die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte verneint (OLG München RRa 2007, 182 = NJW-RR 2007, 1428). Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er den Entschädigungsanspruch weiterverfolgt.

Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom (RRa 2008, 177 = NJW 2008, 2121) ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zwei Fragen zur Auslegung von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) vorgelegt. Der Gerichtshof hat mit Urteil vom (C-204/08, RRa 2009, 234 = NJW 2009, 2801) entschieden, dass für eine Klage auf Ausgleichszahlungen in der hier gegebenen Konstellation nach Wahl des Klägers das Gericht des Ortes des Abflugs oder das des Ortes der Ankunft des Flugzeugs entsprechend der Vereinbarung dieser Orte in dem Vertrag zuständig ist.

Gründe

Die zulässige Revision führt im Wesentlichen zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

I.

Aus der im vorliegenden Rechtsstreit ergangenen Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ergibt sich, dass das Amtsgericht die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte zu Recht bejaht hat.

II.

Zutreffend hat das Amtsgericht den Klageanspruch als begründet angesehen.

1.

Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden.

Dem steht nicht entgegen, dass das Berufungsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen hat. Zwar greift § 563 Abs. 3 ZPO, wonach das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden hat, wenn die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach Letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist, grundsätzlich nicht ein, wenn das Sachverhältnis bisher nur vom erstinstanzlichen Gericht festgestellt worden ist und das Berufungsgericht noch nicht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO geprüft hat, ob konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts begründen (, NJW 2008, 576 Tz. 27). Für eine Zurückverweisung aus diesem Grund ist jedoch kein Raum, wenn der für die Entscheidung erhebliche Vortrag der Parteien in beiden Instanzen unstreitig geblieben ist. Selbst wenn das Berufungsgericht eine Berufung als unzulässig verworfen hat, ist eine Sachentscheidung des Revisionsgerichts zulässig, wenn das Berufungsurteil einen Sachverhalt ergibt, der für eine rechtliche Beurteilung 8 eine verwertbare tatsächliche Grundlage bietet, und bei einer Zurückverweisung der Sache ein anderes Ergebnis nicht möglich erscheint (, NJW 1999, 794, 795). Für den Fall, dass das Berufungsgericht die Klage unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung als unzulässig abgewiesen hat, kann nichts anderes gelten, sofern die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Letzteres ist hier der Fall.

Der zu beurteilende Sachverhalt lässt sich dem Berufungsurteil entnehmen. Das Berufungsgericht hat gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ergänzend auf die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen Bezug genommen. Aus diesen ergibt sich, dass die Angaben über die vorgesehenen und tatsächlichen Flugdaten sowie über die Annullierung und deren Ursache unstreitig sind. Umstritten ist lediglich, ob die Beklagte alle zumutbaren Maßnahmen zur Bereitstellung eines Ersatzflugzeuges ergriffen hat. Letzteres ist für die Entscheidung unerheblich. Weitere Feststellungen sind nicht zu erwarten. Angesichts all dessen ist für eine Überprüfung, ob konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts begründen, kein Raum.

2.

Der Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ist begründet.

a)

Der Kläger wurde weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit über die Annullierung unterrichtet. Gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Nr. iii der Verordnung hätte ihm die Beklagte ein Alternativangebot unterbreiten müssen, das es ihm ermöglichte, den Zielort innerhalb von zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen. Dies ist nicht geschehen.

b)

Die Annullierung beruht nicht auf außergewöhnlichen Umständen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ist der Ausnahmetatbestand des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung eng auszulegen. Unerwartete Flugsicherheitsmängel, wie sie im Streitfall vorgelegen haben und in Erwägungsgrund 14 der Verordnung erwähnt werden, können nur dann als außergewöhnlich im Sinne von Art. 5 Abs. 3 qualifiziert werden, wenn sie ein Vorkommnis betreffen, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens ist und aufgrund seiner Natur oder Ursache von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist (, RRa 2009, 35 = NJW 2009, 347 - Wallentin-Hermann/Alitalia Tz. 23). Daraus ergibt sich, dass technische Defekte, wie sie beim Betrieb eines Flugzeugs typischerweise auftreten, grundsätzlich keine außergewöhnlichen Umstände begründen, und zwar auch dann nicht, wenn das Luftfahrtunternehmen alle vorgeschriebenen oder sonst bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt gebotenen Wartungsarbeiten frist- und ordnungsgemäß ausgeführt hat. Solche Defekte sind Teil der normalen Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens.

Der Gerichtshof rechnet zur normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sowohl die Behebung eines technischen Problems, das auf die fehlerhafte Wartung einer Maschine zurückzuführen ist (a.a.O. Tz. 24 a.E.), als auch das Auftreten technischer Probleme, die sich bei der Wartung von Flugzeugen zeigen (Tz. 25). Die Einhaltung der Wartungsintervalle ändert mithin nichts daran, dass ein technischer Defekt zu denjenigen Ereignissen gehört, die beim Betrieb eines Luftfahrtunternehmens typischerweise auftreten können und deshalb Teil des betrieblichen Alltags sind. Als außergewöhnlicher Umstand kann ein technisches Problem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann angesehen werden, wenn es seine Ursache in einem der in Erwägungsgrund 14 der 14 Verordnung genannten Umstände hat, beispielsweise auf versteckten Fabrikationsfehlern, Sabotageakten oder terroristischen Angriffen beruht (Tz. 26). Die Häufigkeit der bei einem Luftfahrtunternehmen festgestellten technischen Probleme ist hingegen als solche kein Umstand, anhand dessen sich auf das Vorliegen oder Fehlen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung schließen ließe (Tz. 37).

Aus dem Vorbringen der Beklagten ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der technische Defekt, der im Streitfall zur Annullierung des Fluges geführt hat, auf einem außergewöhnlichen Umstand im vorstehend genannten Sinne beruht. Damit greift der Ausnahmetatbestand des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung hier nicht, unabhängig davon, ob die Beklagte alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die Annullierung zu vermeiden.

III.

Ein Anspruch auf Verzugszinsen steht dem Kläger nur nach Maßgabe des lettischen Rechts zu.

1.

Die Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen richtet sich gemäß Art. 32 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB nach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht.

Der dem Kläger zustehende Anspruch auf Ausgleichszahlung ergibt sich allerdings nicht unmittelbar aus dem Beförderungsvertrag, sondern aus Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Dieser Anspruch hängt nicht davon ab, ob zwischen dem Reisenden als Gläubiger und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen als Schuldner des Anspruchs eine unmittelbare Vertragsbeziehung besteht (vgl. Sen.Urt. v. - Xa ZR 113/08, NJW 2009, 2743 Tz. 9). Dennoch handelt es sich um einen Anspruch auf vertraglicher Grundlage. Voraussetzung für die Anwendung der Verordnung ist gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. a, dass die Fluggäste über eine bestätigte Buchung verfügen. Eine Buchung setzt gemäß Art. 2 Buchst. g der Verordnung voraus, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde. Dies setzt regelmäßig das Bestehen eines Beförderungsvertrages voraus - sei es mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, sei es mit einem anderen Unternehmen, für das jenes die Beförderungsleistung erbringt. Die in der Verordnung enthaltenen Regelungen stellen mithin eine besondere Ausgestaltung der Rechte und Pflichten aus einem Beförderungsvertrag im Sinne der im vorliegenden Zusammenhang noch anwendbaren Regeln des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch dar. Auch wenn die Leistung nicht vom Vertragspartner, sondern von einem anderen Luftfahrtunternehmen erbracht wird, bildet der Beförderungsvertrag gegenüber dem Reisenden die Grundlage für die Leistung. Das ausführende Luftfahrtunternehmen, das Schuldner des Anspruchs aus Art. 5 der Verordnung ist, wird im Rahmen der Erfüllung einer vertraglichen Pflicht tätig. Sofern der Reisende wegen verspäteter oder unterbliebener Leistungserbringung eigene Ansprüche gegen dieses Unternehmen hat, entspricht es Sinn und Zweck des Art. 32 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB, auch diese nach den Grundsätzen des Vertragsrechts zu behandeln. Für die Frage, ob und in welcher Höhe das Luftfahrtunternehmen im Falle der nicht rechtzeitigen Zahlung Verzugszinsen schuldet, ist deshalb - mangels einer Regelung in der Verordnung selbst - auf das Vertragsstatut zurückzugreifen.

2.

Der Beförderungsvertrag zwischen den Parteien unterliegt gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 EGBGB lettischem Recht. Dass die Beklagte ihre Leistungen in Deutschland bewirbt und anbietet und dass der Flug von Deutschland aus erfolgen sollte, genügt nicht, um eine engere Verbindung im Sinne des Art. 28 Abs. 5 EGBGB zu begründen (Sen.Urt. v. - Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen). Sonstige Umstände, aus denen sich eine solche Verbindung im Streitfall ergeben könnte, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

3.

Der Senat kann die einschlägigen Bestimmungen des lettischen Rechts selbst auslegen.

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Auslegung ausländischen Rechts durch den Tatrichter gemäß § 560 Abs. 1 und § 545 Abs. 1 ZPO in der seit dem geltenden Fassung generell der revisionsrechtlichen Überprüfung zugänglich ist (bejahend: Eichel, IPRax 2009, 389, 390 ff.; Hess/Hübner, NJW 2009, 3132 f.; ebenso zu § 72 Abs. 1 FamFG: Hau, FamRZ 2009, 821, 824; verneinend Althammer, IPRax 2009, 381, 389; ebenso zu § 72 Abs. 1 FamFG: Roth, JZ 2009, 585, 590; vgl. auch BT-Drucks. 16/9733, S. 301 f.). Auch nach dem zuvor geltenden Recht, das eine solche Überprüfung nicht vorsah (kritisch dazu Aden, RIW 2009, 475, 476 f.), war das Revisionsgericht nicht gehindert, ausländisches Recht selbst zu ermitteln und seiner Entscheidung zu Grunde zu legen, wenn das Berufungsgericht dieses Recht außer Betracht gelassen und infolgedessen nicht gewürdigt hat (, NJW-RR 2004, 308, 310). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

Das lettische Zivilgesetzbuch ist dem Senat in einer englischen Übersetzung zugänglich, die vom lettischen Zentrum für Übersetzung und Terminologie (Tulkosanas un terminologijas centrs, seit zum staatlichen Zentrum für Sprache, Valsts valodas centrs, gehörig) im Internet veröffentlicht wird. Diese Übersetzung ist zwar nicht amtlich. Der Senat hat aber keine Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit, soweit es um die hier relevanten Vorschriften geht.

4.

Nach § 1759 Nr. 1 des lettischen Zivilgesetzbuchs sind bei verspäteter Zahlung einer Geldschuld Zinsen zu zahlen. Nach § 1653 kommt der Schuldner jedenfalls dann in Verzug, wenn er eine Mahnung erhalten hat. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.

Der Zinssatz beträgt gemäß § 1765 Abs. 2 des lettischen Zivilgesetzbuchs bei Geschäften, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, sechs Prozent pro Jahr. Dem Klagebegehren kann deshalb nur bis zu dieser Höhe stattgegeben werden.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
NJW 2010 S. 1070 Nr. 15
RIW 2010 S. 63 Nr. 1
DAAAD-34027

1Nachschlagewerk: nein; BGHZ: nein; BGHR: nein