Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
Gesetze: FGO § 81, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, ZPO § 295
Instanzenzug:
Gründe
I. Streitpunkt ist, ob Steuerbescheide durch Zustellung an ein früheres Vorstandsmitglied eines Vereins ordnungsgemäß bekannt gegeben worden sind.
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist ein eingetragener Verein, der 1992 gegründet wurde und im Vereinsregister des Amtsgerichts X geführt wird. Sein satzungsmäßiger Zweck ist die kulturelle, politische, technische und kreative Aus-, Fort- und Weiterbildung von Jugendlichen und Erwachsenen.
Als stellvertretender Vorstand des Klägers war von September 1993 bis März 1998 S im Vereinsregister eingetragen. Danach bestand der Vorstand laut Eintragung im Register aus A als Vorsitzendem und B sowie C als Stellvertretern. Im September 1998 wurde die Auflösung des Vereins beschlossen; dies wurde im Juli 2000 im Vereinsregister eingetragen. Beschlüsse der Mitgliederversammlung vom über die Fortsetzung der Vereinsarbeit und die Bestellung von D als Vorstandsvorsitzender und E sowie F als Stellvertreter wurden nicht in das Vereinsregister eingetragen, weil Angaben zu den Personalien der Vorstandsmitglieder fehlten.
In zwei Schreiben vom Oktober und November 1996 teilte der Kläger mit, der Ort der Geschäftsleitung sei nach Y verlegt worden.
Der Beklagte und Beschwerdegegner —das für Y örtlich zuständige Finanzamt (FA)— führte beim Kläger und beim B-e.V. —einem Verein, für den S ebenfalls maßgeblich tätig war— eine Steuerfahndungsprüfung betreffend die Jahre 1993 bis 1995 durch. Aufgrund der Feststellungen der Steuerfahndungsprüfung erließ es am —zum Teil geänderte— Ertragsteuer- und Umsatzsteuerbescheide betreffend die Streitjahre (1993 bis 2000). Nachdem zuvor verschiedene Schreiben an die Adresse des Klägers in Y als unzustellbar zurückgesandt worden waren, adressierte das FA die Bescheide an eine Privatadresse des S mit dem Zusatz „für (Name und Anschrift des Klägers)”.
Mit Schriftsatz vom erhob der Kläger Einspruch gegen die Bescheide vom ; zur Begründung machte er u.a. die Unwirksamkeit der Bekanntgabe der Bescheide wegen fehlender Empfangszuständigkeit des S geltend. Hilfsweise beantragte er im Hinblick auf die Versäumung der Einspruchsfristen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das FA verwarf die Einsprüche wegen Versäumung der Einspruchsfristen als unzulässig; zur Begründung führte es in der Einspruchsentscheidung aus, S sei als faktischer Vorstand des Klägers als dessen Verfügungsberechtigter i.S. von § 35 der Abgabenordnung (AO) anzusehen; er sei deshalb richtiger Bekanntgabeadressat gewesen. Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lehnte das FA ab, weil die geltend gemachte Erkrankung des S nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die deswegen erhobene Klage hat das abgewiesen. Es hatte zuvor durch Vernehmung des S als Zeuge Beweis erhoben.
Der Kläger beantragt die Zulassung der Revision gegen das FG- Urteil und begründet sein Begehren mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, mit der Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts und mit Verfahrensmängeln.
Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist wegen eines Verfahrensfehlers (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
1. Das FG hat den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verletzt.
a) Gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Beweis in der mündlichen Verhandlung zu erheben. Dies bedeutet neben dem Erfordernis eigener Anschauung durch die Richter des erkennenden Spruchkörpers, dass diese die für die Entscheidung notwendigen Tatsachen im weitest möglichen Umfang aus der Quelle selbst schöpfen müssen, d.h. bei mehreren in Betracht kommenden Beweismitteln die Beweisaufnahme mit demjenigen durchzuführen haben, das ihnen den „unmittelbarsten” Eindruck von dem streitigen Sachverhalt vermittelt (Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, vgl. , BFH/NV 2005, 1613; Seer in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 81 FGO Rz 26). Das bloß mittelbare Beweismittel darf deshalb grundsätzlich zulässigerweise nur verwendet werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar erscheint. Zwar dürfen in Behördenakten protokollierte Auskünfte und Wahrnehmungen grundsätzlich im Wege des Urkundenbeweises in den finanzgerichtlichen Prozess eingeführt werden. Die Verwertung von Aussagen Dritter in anderen Verfahren im Wege des Urkundenbeweises ist aber dann nicht zulässig, wenn sich dem Gericht eine eigene Vernehmung dieser Personen als Zeugen aufdrängen muss (, BFH/NV 2001, 941, m.w.N.; vom II R 67/94, BFH/NV 1997, 767; BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 1613).
b) Diese Grundsätze hat das FG im Streitfall verletzt.
aa) Nach der Rechtsauffassung des FG kam es für die Wirksamkeit der Bekanntgabe der angefochtenen Bescheide sowohl unter dem Gesichtspunkt der „faktischen” Vorstandsstellung (Verfügungsberechtigung i.S. von § 35 AO) als auch unter dem der Empfangsbevollmächtigung des S auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage an, ob S auch nach dem formellen Ausscheiden als Vorstandsmitglied noch die wesentlichen Entscheidungen des Klägers getroffen und diesen nach außen vertreten hat. Das FG hat dies bejaht und sich im Rahmen seiner Beweiswürdigung unter anderem auf Aussagen „beteiligter Personen” gestützt, die wiederholt ausgesagt hätten, ihnen seien die anderen für den Kläger tätigen Personen nicht bekannt und S sei die einzige Bezugsperson für sie gewesen. Damit sind offenbar die in der vom FG in Bezug genommenen Einspruchsentscheidung des FA beschriebenen schriftlichen bzw. fernmündlichen Erklärungen der vormaligen Vorstandsmitglieder C, D, E und F gegenüber dem FA gemeint. Auf die schriftliche Erklärung des E vom nimmt das FG in den Entscheidungsgründen ausdrücklich Bezug.
bb) Kam es mithin nach Auffassung des FG für die Entscheidung des Rechtsstreits jedenfalls auch auf den Inhalt der Erklärungen der genannten Personen zur Stellung des S innerhalb des Klägers an, hätte es sie nach den zuvor beschriebenen Grundsätzen in der mündlichen Verhandlung als Zeugen vernehmen müssen. Aus welchen Gründen eine Zeugenvernehmung unterblieben ist, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nicht. In den richterlichen Verfügungen vom und vom hatte das FG die Beteiligten noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme für unerlässlich halte und hatte um Mitteilung ladungsfähiger Adressen aller aktuellen und vormaligen Vorstandsmitglieder gebeten. Den Zeugen F hat das FG ordnungsgemäß zum Termin geladen; weder aus den Entscheidungsgründen noch aus dem Sitzungsprotokoll ergibt sich ein Hinweis darauf, aus welchem Grund das FG von der Vernehmung des unentschuldigt nicht erschienenen F ganz abgesehen hat. Lediglich im Hinblick auf den über den Prozessbevollmächtigten des Klägers zum Termin geladenen Zeugen . kann vermutet werden, dass das Unterlassen einer Vernehmung damit in Zusammenhang steht, dass dem FG eine ladungsfähige Adresse nicht bekannt war.
cc) Dass die Beteiligten ihr Einverständnis mit der Verwertung der gegenüber dem FA abgegebenen Erklärungen unter Verzicht auf eine Zeugenvernehmung erklärt haben, ist nicht zu ersehen. Insbesondere lässt sich der Sitzungsniederschrift kein Anhalt dafür entnehmen, dass das Erfordernis von weiteren Zeugenvernehmungen Gegenstand der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung war.
2. Das Urteil beruht auf dem Verfahrensverstoß. Denn die Möglichkeit, dass die Entscheidung ohne den Verfahrensfehler anders ausgefallen wäre, lässt sich nicht mit Sicherheit ausschließen. Soweit das FA demgegenüber auf den Inhalt der in den Körperschaftsteuerakten befindlichen schriftlichen Erklärung des F verweist, handelt es sich um eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung.
3. Der Kläger hat sein Recht, die Verletzung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme als Verfahrensfehler zu rügen, nicht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung dadurch verloren, dass er diese Rüge nicht schon in der mündlichen Verhandlung, in der er durch den Prozessbevollmächtigten vertreten war, erhoben hat. Zwar kann ein Beteiligter grundsätzlich auf den Verfahrensgrundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verzichten (vgl. BFH-Beschlüsse vom VII R 72/90, BFH/NV 1992, 115; vom IX B 131/02, BFH/NV 2003, 298). Das Unterlassen der Rüge in der mündlichen Verhandlung kann im Streitfall jedoch nicht zu Lasten des Klägers gehen. Denn dass das FG die gegenüber dem FA abgegebenen Erklärungen im Rahmen seiner Entscheidung verwerten würde, ohne die Zeugen persönlich anzuhören, ergab sich erst aus der Urteilsbegründung des FG. Das gilt insbesondere in Bezug auf den vom FG zum Termin geladenen Zeugen F. Der Sitzungsniederschrift ist kein Anhalt dafür zu entnehmen, dass die Abstandnahme von der ursprünglichen Absicht des FG, den Zeugen F zu vernehmen, Gegenstand der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung war. Auch von einem fürsorglichen und verantwortungsbewusst agierenden Prozessvertreter kann indes ohne Überspannung seiner Sorgfaltspflichten nicht verlangt werden, dass er in Voraussicht eines erst den schriftlichen Urteilsgründen zu entnehmenden Verfahrensfehlers des Gerichts auf der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme besteht (BFH-Urteil in BFH/NV 1997, 767, und BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 1613).
4. Da die Beschwerde des Klägers bereits wegen dieses Verfahrensfehlers Erfolg hat, kann offenbleiben, ob die des Weiteren vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargelegt sind und der Sache nach vorliegen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
AO-StB 2010 S. 13 Nr. 1
BFH/NV 2010 S. 45 Nr. 1
BAAAD-32801