EuGH Urteil v. - 261/83

Garantiertes Altersmindesteinkommen - Gleichbehnadlung

Leitsatz

1. Soziale Vergünstigung ist auch die Gewährung des durch die Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates garantierten Einkommens für ältere Personen.

2. Die Gewährung einer derartigen Vergünstigung wie des durch die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats garantierten Altersmindesteinkommens an Familienangehörige aufsteigender Linie, die von dem Arbeitnehmer unterhalten werden, hängt nicht vom Bestehen eines Gegenseitigkeitsabkommens zwischen diesem Mitgliedsstaat und dem Heimatstaat des Familienangehörigen ab.

Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig

Tatbestand

Der Sachverhalt, der Verfahrensablauf und die nach Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften eingereichten Erklärungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

I – Sachverhalt und Verfahren

Frau Carmela Castelli, geboren am 16. Februar 1890, verließ nach dem Tod ihres Mannes ihr Heimatland Italien und ließ sich bei ihrem Sohn in Belgien nieder, wo dieser als Arbeitnehmer beschäftigt war und derzeit eine Rente bezieht.

Frau Castelli, die seit Mai 1957 in Belgien wohnt und niemals Arbeitnehmerin war, bezieht eine Teilhinterbliebenenrente, die auf der Grundlage von Versicherungszeiten bewilligt wurde, die ihr Mann als Arbeitnehmer in Italien zurückgelegt hatte.

Mit Entscheidung vom versagte ihr das ONPTS die Zuerkennung des garantierten Altersmindesteinkommens nach dem Gesetz vom (Moniteur belge vom ) mit der Begründung, sie erfülle nicht die in Artikel 1 des Gesetzes vom niedergelegten Voraussetzungen, da sie weder belgische Staatsangehörige noch Angehörige eines Staates, mit dem Belgien ein Gegenseitigkeitsabkommen auf diesem Gebiet abgeschlossen habe, noch Staatenlose oder Flüchtling im Sinne des Gesetzes vom über die Ausländerpolizei sei und ??*la sie in Belgien keine Alters- oder Hinterbliebenenrente beziehe.

Frau Castelli focht diese Entscheidung vor dem Tribunal du travail Lüttich an und verwies unter anderem auf die Urteile des Gerichtshofes vom in der Rechtssache 1/72 (Frilli, Slg. 1972, 457) und vom in der Rechtssache 63/76 (Inzirillo, Slg. 1976, 2057). Mit Urteil vom wies dieses Gericht ihre Klage mit der Begründung ab, das Gesetz vom sei ein Gesetz der Sozialhilfe, das nur insoweit zu dem von den EWG-Regelungen erfaßten Bereich der sozialen Sicherheit gehöre, als es eine einem Angehörigen eines Mitgliedstaats von der belgischen Sozialversicherung gewährte Leistung ergänze. Da die Klägerin keine belgische Rente beziehe, könne sie die Ergänzung der Rente – darum handele es sich bei dem garantierten Altersmindesteinkommen – nicht beanspruchen.

In ihrer Berufung vor der Cour du travail Lüttich macht Frau Castelli geltend, das Fehlen eines Gegenseitigkeitsabkommens sei im Fall einer Angehörigen der EWG unerheblich. Sie fordert die Anwendung der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 1612/68 und unterstreicht, daß der Gedanke der Gegenseitigkeit den Gemeinschaftsverordnungen innewohne, in denen der Gleichbehandlungsgrundsatz verankert sei. Aus diesem folge der Grundsatz der Gegenseitigkeit.

Die Cour du travail Lüttich (Sechste Kammer) hat am gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. „Kann in Anbetracht des in den Gemeinschaftsverordnungen verankerten Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit das Fehlen eines Gegenseitigkeitsabkommens zwischen zwei Mitgliedstaaten der Gemeinschaft der Gewährung des garantierten Altersmindesteinkommens entgegenstehen, wenn die Antragstellerin, obwohl sie nie als Arbeitnehmerin in dem Staat, in dem sie zum Zeitpunkt ihres Antrags ansässig ist, tätig war, die Voraussetzung der in den Rechtsvorschriften dieses Staates für die Gewährung der beantragten Leistung geforderten Mindestwohndauer erfüllt, wenn sie von ihrem Sohn unterhalten wird, der in Belgien als Arbeitnehmer tätig gewesen ist und dort eine vorgezogene Rente oder eine Rente bezieht, und wenn sie eine Arbeitnehmerteilrente ihres Heimatlands Italien bezieht?

  2. Kann die Berufungsklägerin, die eine italienische Teilrente erhält, einer Person gleichgestellt werden, die in Belgien eine belgische Teilalters- oder Teilhinterbliebenenrente bezieht, so daß dies die Gewährung des garantierten Altersmindesteinkommens rechtfertigt?

  3. Kann die Berufungsklägerin im Sinne der Gemeinschaftsverordnungen, insbesondere der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 1612/68, als Familienangehörige ihres Sohnes, der in Belgien zunächst als Arbeitnehmer tätig war, sodann eine vorgezogene Rente bezogen hat und nunmehr Rentenempfänger ist, angesehen werden?”

Der Vorlagebeschluß ist am in das Register der Kanzlei des Gerichtshofes eingetragen worden.

Gemäß Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der EWG haben schriftliche Erklärungen abgegeben Frau Carmela Castelli, Berufungsklägerin des Ausgangsverfahrens, vertreten durch den Gewerkschaftsbeauftragten D. Rossini, das ONPTS, Berufungsbeklagte des Ausgangsverfahrens, vertreten durch den Administrateur général R. Masyn, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch das Mitglied ihres Juristischen Dienstes J. Griesmar als Bevollmächtigten, Beistand: Rechtsanwalt F. Herbert, Brüssel, die Regierung der Italienischen Republik, vertreten durch den Avvocato dello Stato O. Fiumara als Bevollmächtigten, und die Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch G. Dagtoglou, Treasury Solicitors Department, als Bevollmächtigte.

Der Gerichtshof hat auf Bericht des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.

Mit Beschluß vom hat der Gerichtshof gemäß Artikel 95 §§ 1 und 2 der Verfahrensordnung die Rechtssache an die Erste Kammer verwiesen.

II – Schriftliche Erklärungen gemäß Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der EWG

In ihrem Schriftsatz legt Frau Castelli dar, daß ihre italienische Hinterbliebenenrente monatlich 9 650 BFR betrage, während sich das garantierte Altersmindesteinkommen nach dem belgischen Gesetz vom auf 11 297 BFR pro Monat belaufe. Sie meint, die Differenz zwischen diesen beiden Beträgen beanspruchen zu können, und weist darauf hin, daß sie keine italienische „Sozialrente” beziehen könne – diese entspreche grundsätzlich dem belgischen garantierten Mindesteinkommen –, da sie in Italien eine Hinterbliebenenrente beziehe, die höher sei als die genannte „Sozialrente”.

Zur Begründung ihres Anspruchs auf das belgische garantierte Mindesteinkommen verweist Frau Castelli auf Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof. Unter Hinweis auf Artikel 2 Absatz 1, wonach „diese Verordnung … für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind …, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene [gilt]”, trägt sie vor, daß Artikel 1 Buchstabe f der genannten Verordnung für die Definition des Begriffs „Familienangehöriger” auf die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften verweise. In Belgien werde das garantierte Altersmindesteinkommen aber nicht danach gewährt, ob die betreffende Person Arbeitnehmer oder Familienangehöriger eines Arbeitnehmers sei, sondern ausschließlich aufgrund eines „personengebundenen Anspruchs”, der den Personen zustehe, die die Voraussetzungen im Hinblick auf Alter, Wohnsitz und finanzielle Mittel erfüllten.

Nach Ansicht von Frau Castelli kann das von dem belgischen Gesetz vom vorgeschriebene Erfordernis der Gegenseitigkeit für die Gewährung des belgischen garantierten Mindesteinkommens an eine betagte ausländische Person bei Angehörigen der Mitgliedstaaten der EWG keine Geltung beanspruchen. Ein derartiges Erfordernis sei unvereinbar mit dem „Gleichbehandlungsgebot …, das eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts ist” (Urteil in der Rechtssache Frilli, Randnr. 19 der Entscheidungsgründe). Da der Gedanke der Gegenseitigkeit den Gemeinschaftsverordnungen innewohne, könne die Gleichbehandlung der Bürger einer Gemeinschaft nicht vom Bestehen eines Gegenseitigkeitsabkommens zwischen den Staaten abhängen, die den Vertrag über die Gründung dieser Gemeinschaft unterzeichnet hätten. Frau Castelli vertritt daher die Auffassung, daß ihr das garantierte Altersmindesteinkommen ebenso wie den belgischen Staatsangehörigen zustehe, auch wenn sie niemals in Belgien gearbeitet und deshalb keinen Anspruch auf eine belgische Rente erworben habe.

Unabhängig davon, daß es sich nach Ansicht von Frau Castelli bei dem garantierten Altersmindesteinkommen um einen personengebundenen, d. h. von den Eigenschaften der Person als solcher abhängigen Anspruch handelt, geht sie auf die Frage ein, ob das Bestehen dieses Anspruchs von der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in Belgien abhängig gemacht werden könne. Für diesen Fall räumt sie ein, daß ihr dieser Anspruch nicht unmittelbar zustehe. Gleichwohl stehe ihr dieser Anspruch mittelbar als Mutter eines Arbeitnehmers zu, der mehrere Jahre in Belgien tätig gewesen sei und dort einen Rentenanspruch erworben habe. Unter Berufung auf das Urteil des Gerichtshofes vom in der Rechtssache 40/76 (Kermaschek, Slg. 1976, 1669) macht sie ein abgeleitetes Recht in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige eines Arbeitnehmers geltend.

Hilfsweise führt Frau Castelli aus, wenn man das garantierte Altersmindesteinkommen im vorliegenden Fall nicht als eine zur sozialen Sicherheit gehörende Vergünstigung ansehen könne, weil sie niemals in Belgien gearbeitet habe, müsse dieses garantierte Mindesteinkommen aber als soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 betrachtet werden. Diese Vergünstigung könne sie nämlich aufgrund von Artikel 10 dieser Verordnung beanspruchen, der als Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers auch die mit ihm lebenden Verwandten aufsteigender Linie bezeichne. Das Urteil in der Rechtssache Inzirillo gehe im übrigen in diese Richtung, denn dort heiße es: „Unter dem Blickwinkel der mit der Verordnung Nr. 1612/68 angestrebten Gleichbehandlung … ist der sachliche Anwendungsbereich von Artikel 7 Absatz 2 in der Weise abzugrenzen, daß er alle sozialen und steuerlichen Vergünstigungen umfaßt – ob diese nun an den Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht –, …”.

Frau Castelli schlägt daher vor, die von der Cour du travail Lüttich gestellten Vorabentscheidungsfragen wie folgt zu beantworten:

„In Anbetracht des in den Gemeinschaftsverordnungen verankerten Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit kann die Gewährung einer Leistung wie des garantierten Altersmindesteinkommens aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht von dem Bestehen eines Gegenseitigkeitsabkommens zwischen zwei Mitgliedstaaten abhängen.

Sofern alle anderen rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine derartige Leistung den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, die zwar niemals als Arbeitnehmer in dem betreffenden Staat tätig waren, die aber dort wohnen und Familienangehörige eines Wanderarbeitnehmers sind, nicht versagt werden.”

Das ONPTS richtet sein Augenmerk zunächst auf die von der Cour du travail Lüttich gestellte Vorabentscheidungsfrage b). Hierfür beruft es sich auf die Vorgehensweise des Gerichtshofes in Randnummer 4 der Entscheidungsgründe in der Rechtssache Frilli. Die Prüfung, wie das garantierte Mindesteinkommen im Hinblick auf den Begriff der „sozialen Vergünstigungen” im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 zu qualifizieren sei, könne nur dann in Betracht kommen, wenn feststehe, daß es sich nicht um eine Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 3 (nunmehr durch die Verordnung Nr. 1408/71 ersetzt) handele.

Nach Auffassung des ONPTS hat der Gerichtshof mit diesem Urteil das garantierte Mindesteinkommen denjenigen Personen vorbehalten, die eine Rente aufgrund einer Berufstätigkeit in dem Mitgliedstaat bezögen, der einen Rentenanspruch anerkenne. Da sie selbst niemals Arbeitnehmerin in Belgien gewesen sei, könne sich Frau Castelli daher für das von ihr beanspruchte garantierte Altersmindesteinkommen nach dem belgischen Gesetz nicht auf die Verordnung Nr. 1408/71 berufen.

Das ONPTS verweist ausführlich auf die einschlägige Rechtsprechung und Verwaltungspraxis in Belgien und meint, daß damit sowohl auf gerichtlicher als auch auf Verwaltungsebene ihre Auslegung des Urteils in der Rechtssache Frilli bestätigt werde; nunmehr stehe rechtlich eindeutig fest, daß nach dem belgischen Gesetz vom das garantierte Mindesteinkommen denjenigen betagten Personen zu gewähren sei, die eine belgische Rente bezögen. Außerdem werde dieser Standpunkt durch Artikel 122 des belgischen Gesetzes vom über die Haushaltsvorschläge für 1979/1980 erhärtet; durch dieses Gesetz sei Artikel 1 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes vom wie folgt gefaßt worden: „Als Leistungsberechtigte kommen in Betracht: Belgier, Staatenlose oder anerkannte Flüchtlinge im Sinne des Gesetzes vom über die Ausländerpolizei, Angehörige eines Staates, mit dem Belgien ein Gegenseitigkeitsabkommen auf diesem Gebiet abgeschlossen oder für das Belgien eine tatsächliche Gegenseitigkeit festgestellt hat, oder andere ausländische Staatsangehörige, vorausgesetzt, diesen steht ein Anspruch auf eine Arbeitnehmeralters- oder Arbeitnehmerhinterbliebenenrente in Belgien zu.”

Aus den vorbereitenden Arbeiten zu diesem Gesetz ergebe sich eindeutig, daß mit der Änderung von Artikel 1 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes vom die belgischen Rechtsvorschriften dem Urteil in der Rechtssache Frilli hätten angepaßt werden sollen.

Das ONPTS schlägt daher vor, die von der Cour du travail Lüttich gestellte Vorabentscheidungsfrage b) wie folgt zu beantworten:

„Angesichts von Artikel 122 des Gesetzes vom , der Artikel 1 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes vom zur Einführung eines garantierten Altersmindesteinkommens geändert hat und damit dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften in der Rechtssache Frilli nachgekommen ist, kann eine Person, die eine italienische Teilrente erhält, nicht einer Person gleichgestellt werden, die in Belgien eine belgische Teilalters- oder Teilhinterbliebenenrente bezieht, die die Gewährung des garantierten Altersmindesteinkommens rechtfertigt.”

Das ONPTS untersucht im Hinblick auf die Vorabentscheidungsfragen a) und c) eingehend die Urteile des Gerichtshofes vom (Michel S., Slg. 1973, 457), vom (Eheleute F. Slg. 1975, 679) und vom (Inzirillo, Slg. 1976, 2057) sowie die Schlußanträge der Generalanwälte in diesen Verfahren; es kommt zu dem Ergebnis, daß der Gerichtshof nach Billigkeitsgesichtspunkten bislang nur in den Sonderfällen behinderter Kinder von Arbeitnehmern entschieden habe. Somit könne man kaum den Standpunkt vertreten, das Recht der Mutter eines in einem Mitgliedstaat tätigen Arbeitnehmers, dort Wohnung zu nehmen, führe zu einer Verpflichtung dieses Mitgliedstaats, ein bestimmtes monatliches Einkommen zu garantieren; eine andere Auffassung würde Mißbräuche zur Folge haben und gegen den Geist der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 1612/68 verstoßen. Aus Inhalt und Ziel dieser Verordnungen ergebe sich, daß den Familienangehörigen lediglich Rechte zustünden, die sich aus der Tätigkeit eines Arbeitnehmers aus einem anderen Mitgliedstaat ableiteten. Das garantierte Mindesteinkommen sei aber eine ganz und gar personengebundene Vergünstigung, da zwischen der Gewährung dieser Vergünstigung und der Eigenschaft als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers keinerlei Zusammenhang bestehe. Das Vorhandensein oder das Fehlen von Kindern sei im übrigen ebenfalls ohne Bedeutung.

Das ONPTS meint, Frau Castelli könne sich für ihren Anspruch auf das garantierte Mindesteinkommen nicht darauf berufen, daß ihr Sohn eine vorgezogene Rente oder eine Rente des belgischen Staates beziehe. Dies gelte um so mehr, als Frau Castelli keinen Beweis dafür erbracht habe, daß ihr Sohn ihr Unterhalt gewähre, so daß sie mit Sicherheit nicht die in Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 niedergelegte Voraussetzung erfülle.

Nach Ansicht des ONPTS sind daher die von der Cour du travail Lüttich gestellten Vorabentscheidungsfragen a) und c) wie folgt zu beantworten:

„Da die Gewährung des garantierten Mindesteinkommens eine ganz und gar personengebundene Vergünstigung darstellt, muß der Antragsteller in seiner Person die von den Rechtsvorschriften über diese Vergünstigung aufgestellten Voraussetzungen erfüllen.

Der Begriff des Familienangehörigen im Sinne der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 1612/68 ist also für die Gewährung dieser Vergünstigung ohne Bedeutung.

Selbst wenn dem so wäre, muß der Antragsteller nachweisen, daß ein Angehöriger eines Mitgliedstaats ihm im Sinne von Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 Unterhalt gewährt.”

Nach Ansicht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften geht es in der vorliegenden Rechtssache im wesentlichen um die Frage einer möglichen Ausdehnung des Urteils in der Rechtssache Frilli im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Leistungen der sozialen Sicherheit gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 und Leistungen der Sozialhilfe, die von dieser Verordnung ausgenommen seien. Sie weist darauf hin, daß im vorliegenden Fall Frau Castelli – im Unterschied zu Frau Frilli – keinerlei Leistungen der sozialen Sicherheit von belgischen Stellen erhalte, niemals in Belgien gearbeitet habe und eine Leistung der sozialen Sicherheit von italienischen Stellen erhalte und daß ihr Sohn, der in Belgien eine Rente beziehe und bei dem sie wohne, ihr Unterhalt gewähre.

In dem Urteil in der Rechtssache Frilli heiße es: „Das in allgemeinen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die alten Menschen mit gewöhnlichem Aufenthalt in diesem Staat einen Anspruch auf eine Mindestrente gewährleisten, vorgesehene ‚garantierte Einkommen‘ ist bei Arbeitnehmern und ihnen Gleichgestellten im Sinne der Verordnung Nr. 3 [Verordnung Nr. 1408/71], denen in demselben Staat ein Rentenanspruch zusteht, als ‚Leistung bei Alter‘ im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c [Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1408/71] derselben Verordnung anzusehen.” Für die Kommission beschränkt sich das Problem auf die Frage, ob diese Antwort des Gerichtshofes auf eine der in der Rechtssache Frilli gestellten Vorabentscheidungsfragen insoweit erschöpfend sei, als sie ohne weiteres davon ausgehe, daß die Vergünstigung des garantierten Altersmindesteinkommens als eine Leistung der sozialen Sicherheit anzusehen sei. Da Frau Castelli kein Rentenanspruch in Belgien zustehe, falle sie nicht in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71, so wie er im Urteil in der Rechtssache Frilli umschrieben worden sei.

Nach Ansicht der Kommission gehen daher die von der Cour du travail Lüttich gestellten Fragen dahin, ob das sachliche Anknüpfungskriterium auch im vorliegenden Fall erfüllt sei, und zwar entweder weil Frau Castelli eine Rente in Italien beziehe oder weil ihr Sohn eine Rente in Belgien beziehe.

Nach Auffassung der Kommission können die in dem Urteil in der Rechtssache Frilli und in der späteren Rechtsprechung entwickelten Grundsätze nicht auf den Fall ausgedehnt werden, in dem der Arbeitnehmer eine Rente in einem anderen Mitgliedstaat als dem beziehe, nach dessen Rechtsvorschriften das garantierte Mindesteinkommen beantragt werde. Dazu verweist die Kommission darauf, daß im Tenor des Urteils in der Rechtssache Frilli ausdrücklich davon die Rede sei, daß der Rentenanspruch aufgrund einer vorherigen Berufstätigkeit in demselben Mitgliedstaat bestehen müsse. Dieser Grundsatz werde auch durch die Urteile vom in der Rechtssache 187/73 (Callemeyn, Slg. 1974, 553), vom in der Rechtssache 24/74 (Biason, Slg. 1974, 999), vom in der Rechtssache 39/74 (Costa, Slg. 1974, 1253) sowie vom in der Rechtssache 139/82 (Piscitello, Slg. 1983, 1427) bestätigt. Die Kommission schließt sich voll und ganz den Ausführungen unter Randnr. 12 im letztgenannten Urteil an; darin heiße es: „Bei der weiten Umschreibung des Kreises der Leistungsempfänger erfüllen solche Rechtsvorschriften [d. h. Rechtsvorschriften über ein garantiertes Altersmindesteinkommen] in Wirklichkeit eine doppelte Aufgabe: Einerseits sollen sie Personen, die völlig außerhalb des Systems der sozialen Sicherheit stehen, ein Existenzminimum gewährleisten, andererseits den Empfängern unzureichender Leistungen der sozialen Sicherheit ein zusätzliches Einkommen sichern.”

Wenn man davon ausgehe, daß eine italienische Rente einen Anspruch auf das garantierte Altersmindesteinkommen in Belgien eröffne, und damit dieser Leistung den Charakter einer Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 verleihe, so bedeute dies, daß man damit im Rahmen der Auslegung von Artikel 4 dieser Verordnung einen Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit in einem Mitgliedstaat schaffe, in dem der Betreffende niemals gearbeitet habe und deshalb auch nicht versichert sei. Die Verordnung Nr. 1408/71 beschränke sich dann nicht mehr auf die von Artikel 51 EWG-Vertrag angestrebte Koordinierung, sondern würde zur Grundlage für einen Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit.

Zur Frage, inwieweit ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 das garantierte Mindesteinkommen als Leistung der sozialen Sicherheit beanspruchen könne, vertritt die Kommission den Standpunkt, daß es der ergänzende Charakter dieses Einkommens gegenüber einer Leistung der sozialen Sicherheit gemäß Artikel 4 dieser Verordnung bedinge, daß es sich um ein und dieselbe Person handeln müsse. Angesichts der ausdrücklichen Vorschriften der Artikel 2 Absatz 1 und 1 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 sei es daher nicht möglich, das belgische garantierte Altersmindesteinkommen deswegen der Verordnung Nr. 1408/71 zuzuordnen, weil Frau Castelli möglicherweise als Familienangehörige eines Arbeitnehmers anzusehen sei.

Im übrigen meint die Kommission, die Situation von Frau Castelli sei von Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 geregelt; dort heiße es: „Bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit Wohnung nehmen: … b) seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt”.

Da die personelle Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1612/68 feststehe, könne nicht zweifelhaft sein, daß das garantierte Altersmindesteinkommen in Belgien eine soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 dieser Verordnung darstelle. In diesem Fall unterliege die Gewährung dieser Vergünstigung dem Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Artikel 7 Absatz 1. Die Kommission verweist dazu auf die Urteile vom in der Rechtssache 32/75 (Cristini, Slg. 1975, 1085), vom in der Rechtssache 63/76 (Inzirillo, Slg. 1976, 2057) und vom in der Rechtssache 65/81 (Reina, Slg. 1982, 33). Nach Auffassung der Kommission ist die Ansicht unhaltbar, daß Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 ausschließlich die Gleichbehandlung im Hinblick auf den Arbeitnehmer im Auge habe. Die Urteile in den Rechtssachen Cristini und Inzirillo bestätigten nämlich, daß die in Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 vorgeschriebene Gleichbehandlung ebenfalls die Diskriminierung von Familienangehörigen des Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 10 dieser Verordnung untersage.

Es laufe deshalb dem Ziel und dem Geist der Gemeinschaftsregelung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zuwider, wenn man die Gewährung bestimmter sozialer Vergünstigungen an die Familienangehörigen des Wanderarbeitnehmers von Voraussetzungen abhängig mache, die nicht den Voraussetzungen für die Gewährung derselben Vergünstigung an die Familienangehörigen der einheimischen Arbeitnehmer entsprächen.

Die Kommission meint daher, daß die staatliche Gewährung des garantierten Altersmindesteinkommens an Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in diesem Staat bei einem Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers im Sinne von Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht vom Bestehen eines Gegenseitigkeitsabkommens mit dem Mitgliedstaat, aus dem der betreffende Familienangehörige stamme, abhängig sein könne.

Die Kommission schlägt vor, die von der Cour du travail Lüttich gestellten Fragen wie folgt zu beantworten:

  1. „Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß Rechtsvorschriften über die Gewährung eines garantierten Altersmindesteinkommens an Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat nur dann in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, wenn diese Rechtsvorschriften dadurch, daß sie den Begünstigten ohne ermessensmäßige Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit oder Lage eine gesetzlich umschriebene Stellung einräumen, den von Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßten Personen ein Einkommen gewährleisten, das eine Leistung der sozialen Sicherheit ergänzt, die diese Personen in dem betreffenden Mitgliedstaat beziehen.

  2. Gemäß Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 sind die Verwandten aufsteigender Linie des Arbeitnehmers und seines Ehegatten, denen der Arbeitnehmer Unterhalt gewährt, als Familienangehörige zu betrachten und haben somit das Recht, bei ihm Wohnung zu nehmen.

  3. Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 ist dahin auszulegen, daß die Gewährung einer sozialen Vergünstigung, wie das in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehene garantierte Altersmindesteinkommen, an die Familienangehörigen des Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht von anderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann, als sie für die Gewährung dieser Vergünstigung an die Familienangehörigen des einheimischen Arbeitnehmers gelten.”

Nach den Ausführungen der Regierung der Italienischen Republik ist das vorlegende Gericht davon ausgegangen, daß sich der dem Urteil in der Rechtssache Frilli zugrunde liegende Sachverhalt von dem durch ihn zu entscheidenden Sachverhalt unterscheide. In der Rechtssache Frilli sei es um eine Person gegangen, die eine belgische Altersrente bezogen habe, während es sich hier um eine Person handele, die eine Rente eines anderen Mitgliedstaats beziehe. Dieser Unterschied falle allerdings nicht ins Gewicht, da Frau Castelli Anspruch auf eine Teilhinterbliebenenrente aufgrund des Systems der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats habe. Zur ersten Vorlagefrage sei folgendes zu bemerken: Ebenso wie es nicht möglich sei, Voraussetzungen aufzustellen, die sich auf die Staatsangehörigkeit der betreffenden Person oder auf das Bestehen eines Gegenseitigkeitsabkommens zwischen Mitgliedstaaten bezögen, könne man auch keine Voraussetzung in bezug auf den Ursprung der Altersrente aufstellen, ohne in beiden Fällen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu verletzen.

Was die zweite von dem vorlegenden Gericht gestellte Frage angehe, müßten natürlich bei der Zahlung des garantierten Altersmindesteinkommens aufgrund des belgischen Gesetzes Leistungen der sozialen Sicherheit oder der Sozialhilfe in einem anderen Mitgliedstaat insoweit berücksichtigt werden, als diese Leistungen in Belgien berücksichtigt würden.

Zur dritten Frage ergibt sich nach den Darlegungen der italienischen Regierung aus dem Urteil in der Rechtssache Inzirillo, daß der in Belgien bei seinem Sohn wohnende und von ihm unterhaltene Verwandte aufsteigender Linie ebenso wie der Verwandte absteigender Linie, dem ein Wanderarbeitnehmer Unterhalt gewähre, gemäß Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1612/68 das Recht habe, bei diesem Wohnung zu nehmen. Somit könne auch er Leistungen der sozialen Sicherheit beanspruchen.

Nach Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs geht es in der zweiten Frage der Cour du travail um den entscheidenden Punkt, nämlich darum, ob der Fall von Frau Castelli ebenso behandelt werden könne wie der Fall einer Person, die in Belgien eine belgische Teilalters- oder Teilhinterbliebenenrente beziehe. Wenn man diese Frage bejahe, sei die Beantwortung der anderen Fragen für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts nicht mehr erforderlich. Zunächst müsse bestimmt werden, aufgrund welcher Verordnung sich Frau Castelli auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen könne. Wenn sie ihre italienische Rente als Hinterbliebene eines Arbeitnehmers oder eines Selbständigen erhalte, folge der Gleichbehandlungsgrundsatz aus Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71. Wenn dies nicht der Fall sei, müsse der Gleichbehandlungsgrundsatz im Lichte der Verordnung Nr. 1612/68 betrachtet werden; Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b dieser Verordnung verleihe den Familienangehörigen aufsteigender Linie eines Wanderarbeitnehmers das Recht, bei diesem Wohnung zu nehmen.

Selbst wenn der Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 Anwendung finden müsse, ergebe sich daraus nicht zwingend, daß eine in einem Mitgliedstaat zu zahlende Rente einer Leistung wie dem belgischen garantierten Altersmindesteinkommen in einem anderen Mitgliedstaat den Charakter einer Leistung der sozialen Sicherheit verleihe, die zu einer anderen unzureichenden Leistung der sozialen Sicherheit hinzutrete. Andernfalls – so die britische Regierung – bestehe die Gefahr, daß man zu einem „Zwangsexport” des belgischen garantierten Altersmindesteinkommens aufgrund einer Verbindung der Urteile in den Rechtssachen Biason und Piscitello komme.

Zur Veranschaulichung dieser Schlußfolgerung führt die britische Regierung das Beispiel einer Person an, die nur in einem Mitgliedstaat als Arbeitnehmer tätig gewesen sei, die von diesem Staat eine Altersrente nach von Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßten Rechtsvorschriften beziehe, und deren finanzielle Mittel so unbedeutend seien, daß sie auch einen Anspruch auf ein garantiertes Altersmindesteinkommen habe. Nach dem Urteil in der Rechtssache Frilli müsse diese Leistung als eine Leistung der sozialen Sicherheit angesehen werden, die in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 falle.

Wenn die betreffende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt später in einen Mitgliedstaat 2 verlege, könne sie auf der Grundlage der Urteile in den Rechtssachen Biason und Piscitello die beiden Leistungen weiterhin in dem neuen Staat ihres gewöhnlichen Aufenthalts beziehen. Wenn nunmehr das Existenzminimum im Mitgliedstaat 2 höher liege als der gesamte Betrag der Leistungen, die diese Person bereits erhalte, und wenn ihre finanziellen Mittel so beschaffen seien, daß sie die Gewährung des garantierten Mindesteinkommens in diesem Staat beanspruchen könne, so hätte die betreffende Person – bejahe man die von der Cour du travail Lüttich gestellte Vorabentscheidungsfrage b) – Anspruch auf dieses garantierte Mindesteinkommen. Diese Leistung müßte dann ebenfalls als eine vom sachlichen Geltungsbereich des Artikels 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßte Leistung der sozialen Sicherheit angesehen werden, da sie zu Zahlungen hinzutrete, die in den Geltungsbereich dieser Vorschrift fielen.

Schließlich verlege die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Mitgliedstaat 3. Aufgrund von Artikel 10 Absatz 1 dieser Verordnung, so wie er in den Urteilen in den Rechtssachen Biason und Piscitello ausgelegt worden sei, würde die in Mitgliedstaat 2 geltende Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts entfallen, und die betreffende Person könnte in Mitgliedstaat 3 diejenigen Leistungen beziehen, die sie habe beanspruchen können, als sie in den beiden anderen Staaten gewohnt habe. Wenn im Anschluß daran diese Person in den ersten Mitgliedstaat, in dem das Existenzminimum niedriger liege, zurückkehre, so verliere sie ihren Anspruch auf das garantierte Altersmindesteinkommen in diesem Staat, behalte aber ihren Anspruch auf das von Mitgliedstaat 2 garantierte Mindesteinkommen, auch wenn sie niemals in diesem Staat gearbeitet oder zum dortigen Wirtschaftsleben beigetragen habe.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs vertritt – ausgehend von diesem Beispiel – die Ansicht, daß die Gleichbehandlung nicht über das absolut notwendige Maß hinausgehen dürfe, damit eine dynamische und nicht den Absichten seiner Urheber entsprechende Anwendung von Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 vermieden werde.

III – Mündliche Verhandlung

In der Sitzung vom haben die Berufsklägerin des Ausgangsverfahrens, vertreten durch D. Rossini als Bevollmächtigten des Patronato ACLI, die Berufsbeklagte des Ausgangsverfahrens, vertreten durch J. Peltot, Beamter des ONPTS als Bevollmächtigten, die italienische Regierung, vertreten durch O. Fiumara, Avvocato dello Stato, und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsanwalt F. Herbert, mündliche Ausführungen gemacht.

Der Generalanwalt hat seine Schlußanträge in derselben Sitzung vorgetragen.

Gründe

1 Die Cour du travail Lüttich hat mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2) und der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) im Zusammenhang mit der Anwendung des belgischen Gesetzes vom über die Einführung eines garantierten Altersmindesteinkommens zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen sind im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Castelli und dem Office national des pensions des travailleurs salariés (ONPTS) aufgeworfen worden.

3 Frau Castelli ist italienische Staatsangehörige und bezieht in Italien eine Teilhinterbliebenenrente. Seit Mai 1957 wohnt sie bei ihrem Sohn in Belgien, der eine belgische Altersrente bezieht. Frau Castelli hat niemals in Belgien gearbeitet.

4 Mit Entscheidung vom versagte das ONPTS Frau Castelli die Zuerkennung des garantierten Altersmindesteinkommens nach dem Gesetz vom mit der Begründung, sie erfülle nicht die von Artikel 1 dieses Gesetzes aufgestellten Voraussetzungen, da sie weder belgische Staatsangehörige noch Angehörige eines Staates sei, mit dem Belgien ein Gegenseitigkeitsabkommen abgeschlossen habe, und auch in Belgien keine Alters- oder Hinterbliebenenrente beziehe.

5 Frau Castelli focht die ablehnende Entscheidung des ONPTS vor dem Tribunal du travail Lüttich an. Mit Urteil vom wurde ihre Klage abgewiesen. Frau Castelli legte daraufhin bei der Cour du travail Lüttich Berufung mit der Begründung ein, das von dem belgischen Gesetz aufgestellte Erfordernis der Gegenseitigkeit verstoße gegen das Gemeinschaftsrecht.

6 Da die Cour du travail Lüttich eine Entscheidung des Gerichtshofes vor Erlaß ihres Urteils für erforderlich hält, hat sie die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. „Kann in Anbetracht des in den Gemeinschaftsverordnungen verankerten Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit das Fehlen eines Gegenseitigkeitsabkommens zwischen zwei Mitgliedstaaten der Gemeinschaft der Gewährung des garantierten Altersmindesteinkommens entgegenstehen, wenn die Antragstellerin, obwohl sie nie als Arbeitnehmerin in dem Staat, in dem sie zum Zeitpunkt ihres Antrags ansässig ist, tätig war, die Voraussetzung der in den Rechtsvorschriften dieses Staates für die Gewährung der beantragten Leistung geforderten Mindestwohndauer erfüllt, wenn sie von ihrem Sohn unterhalten wird, der in Belgien als Arbeitnehmer tätig gewesen ist und dort eine vorgezogene Rente oder eine Rente bezieht, und wenn sie eine Arbeitnehmerteilrente ihres Heimatlands bezieht?

  2. Kann die Berufungsklägerin, die eine italienische Teilrente erhält, einer Person gleichgestellt werden, die in Belgien eine belgische Teilalters- oder Teilhinterbliebenenrente bezieht, so daß dies die Gewährung des garantierten Altersmindesteinkommens rechtfertigt?

  3. Kann die Berufungsklägerin im Sinne der Gemeinschaftsverordnungen, insbesondere der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 1612/68, als Familienangehörige ihres Sohnes, der in Belgien zunächst als Arbeitnehmer tätig war, sodann eine vorgezogene Rente bezogen hat und nunmehr Rentenempfänger ist, angesehen werden?”

7 Die gestellten Fragen beziehen sich auf die Situation einer Angehörigen eines Mitgliedstaats, die eine Leistung der sozialen Sicherheit in diesem Staat bezieht und die sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat, in dem sie nie gearbeitet hat und in dem sie von ihrem Sohn unterhalten wird, der seinerseits eine Leistung der sozialen Sicherheit in diesem letztgenannten Staat bezieht. Mit diesen Fragen soll geklärt werden, ob diese Person das von den Rechtsvorschriften des letztgenannten Staates vorgesehene garantierte Altersmindesteinkommen oder zumindest die Differenz zwischen diesem Einkommen und dem geringeren Betrag der in dem erstgenannten Mitgliedstaat gezahlten Leistung der sozialen Sicherheit beanspruchen kann, sei es als eine Leistung bei Alter gemäß der Verordnung Nr. 1408/71, sei es als eine soziale Vergünstigung im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates.

8 Dieses Problem ist zunächst aus dem Blickwinkel der Verordnung Nr. 1612/68 zu untersuchen, auf die sich insbesondere die dritte Frage des vorlegenden Gerichts bezieht.

9 Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 gibt den Familienangehörigen aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit das Recht, bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, Wohnung zu nehmen. Das Recht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, ist außerdem durch die Verordnung Nr. 1251/70 (ABl. L 142, S. 24) auf diejenigen Familienangehörigen aufsteigender Linie ausgedehnt worden, die von einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der in dem erstgenannten Staat als Arbeitnehmer beschäftigt war, unterhalten werden. Es steht somit fest, daß die Berufungsklägerin des Ausgangsverfahrens zum Kreis der Begünstigten der Verordnung Nr. 1612/68 gehört.

10 Gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 genießt der Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Wie sich aus den Urteilen vom in der Rechtssache 32/75 (Cristini, Slg. 1975, 1085) und vom in der Rechtssache 63/76 (Inzirillo, Slg. 1976, 2057) ergibt, soll die von Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 vorgeschriebene Gleichbehandlung auch die Diskriminierung von Familienangehörigen aufsteigender Linie, die – wie die Berufungsklägerin des Ausgangsverfahrens – vom Arbeitnehmer unterhalten werden, ausschließen.

11 Wie der Gerichtshof mehrfach festgestellt hat (Urteile vom in der Rechtssache 207/78, Even, Slg. 1979, 2019, und vom in der Rechtssache 65/81, Reina, Slg. 1982, 33), umfaßt der Begriff der sozialen Vergünstigung alle Vergünstigungen, „die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern im allgemeinen hauptsächlich wegen deren objektiver Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnsitzes im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern”. Gemäß dieser vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertretenen Definition des Begriffs der sozialen Vergünstigung ist hierzu auch das von den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehene Altersmindesteinkommen zu zählen.

12 Es ist also festzustellen, daß Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen ist, daß die Gewährung einer sozialen Vergünstigung wie des durch die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats garantierten Altersmindesteinkommens an Familienangehörige aufsteigender Linie, die von dem Arbeitnehmer unterhalten werden, nicht vom Bestehen eines Gegenseitigkeitsabkommens zwischen diesem Mitgliedstaat und dem Heimatstaat des Familienangehörigen abhängt.

13 Da diese Feststellung dem vorlegenden Gericht gestattet, das Ausgangsverfahren zu entscheiden, ist es nicht erforderlich, auf die Frage einzugehen, ob in der vorliegenden Situation eine Angehörige eines Mitgliedstaats das durch die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats garantierte Altersmindesteinkommen aufgrund der Verordnung Nr. 1408/71 beanspruchen kann, sei es als Familienangehörige eines in diesem Staat wohnenden Wanderarbeitnehmers, sei es als Empfängerin einer Leistung der sozialen Sicherheit in ihrem Heimatstaat.

Kosten

14 Die Auslagen der italienischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Fundstelle(n):
OAAAD-31842