BSG Urteil v. - B 4 AS 78/08 R

Leitsatz

1. Gegen die Versagung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung ist grundsätzlich nur die reine Anfechtungsklage gegeben (Bestätigung von = BVerwGE 71, 8 und = SozR 4-1200 § 66 Nr 1).

2. Eine unmittelbare Klage auf existenzsichernde Leistungen kommt in Betracht, wenn sich bei einer Aufhebung der Entscheidung über die Versagung wegen fehlender Mitwirkung das Verwaltungsverfahren lediglich wiederholen würde.

Gesetze: SGG § 54 Abs 1; SGG § 54 Abs 4; SGG § 54 Abs 5; SGG § 62; SGB I § 60 Abs 1 S 1; SGB I § 66 Abs 1 S 1; GG Art 103; GG Art 19 Abs 4; SGB II F: § 7 Abs 3 Nr 3 Buchst b; SGB II § 9 Abs 2 S 1; SGB II § 60 Abs 4 S 1 Nr 1

Instanzenzug: SG Koblenz, S 13 AS 218/06 vom LSG Mainz, L 5 AS 112/07 vom

Gründe

I

Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem .

Der Kläger bezog seit dem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Am stellte er einen Folgeantrag für den Bewilligungszeitraum ab . Mit Schreiben vom forderte das Jobcenter den Kläger unter Hinweis auf § 60 SGB I auf, im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten sämtliche Einkommens- und Vermögensnachweise von seiner Lebensgefährtin L (L) bis zum vorzulegen. Mit Bescheid vom versagte der Beklagte Leistungen ganz, weil die fehlenden Unterlagen/Nachweise trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vorgelegt worden seien. Den Widerspruch wies der Beklagte mit der Begründung zurück, er habe nicht den Eindruck gewinnen können, dass zwischen dem Kläger und L keine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft und folglich auch keine eheähnliche Gemeinschaft bestehe. Vielmehr sei davon auszugehen, der Kläger habe seine Wohnsituation nach Ankündigung eines Hausbesuchs so hergerichtet, dass der Eindruck gewonnen werden sollte, er verfüge über einen eigenen Wohnbereich. Zur Bedarfsgemeinschaft gehörten also der Kläger und L. Der Aufforderung, die Einkommens- und Vermögensnachweise vorzulegen, sei der Kläger auch im Widerspruchsverfahren nicht nachgekommen (Widerspruchsbescheid vom ).

Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat L als Zeugin gehört und den Versagensbescheid aufgehoben. Die auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab gerichtete weitergehende Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom ): Die Versagung von Leistungen wegen fehlender Mitwirkung sei schon deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte keinerlei Ermessenserwägungen angestellt habe. Außerdem habe der Kläger seine Mitwirkungspflicht nicht verletzt, weil er Beweismittel in Form von Nachweisen der Hilfebedürftigkeit der Partnerin nicht vorzulegen habe. Eine Verurteilung zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts komme gleichwohl nicht in Betracht, weil das Gericht die anspruchsbegründende Voraussetzung der Hilfebedürftigkeit nicht feststellen könne, wobei die Beweislast hierfür den Kläger treffe.

Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Klägers mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Klage bereits unzulässig war (Urteil vom ): Ein die begehrte Leistung versagender Verwaltungsakt könne grundsätzlich nur mit der reinen Anfechtungsklage angefochten werden. Die Leistungsklage sei ausnahmsweise zulässig, wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen feststehe. In dem Fall, in dem der Kläger das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen behaupte, diese aber streitig und zur Klärung des Vorliegens der materiellen Anspruchsvoraussetzungen Ermittlungen erforderlich seien, sei eine Ausnahme von dem Grundsatz nicht gerechtfertigt und lasse sich auch nicht aus Gründen der Prozessökonomie herleiten.

Zur Begründung der vom LSG zugelassenen Revision trägt der Kläger vor, die tatbestandlichen Feststellungen des LSG seien insoweit unvollständig und falsch, als im streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid auch die Entscheidung getroffen worden sei, er lebe in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit L. Zu Unrecht habe das LSG die erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage als unzulässig angesehen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe im Urteil vom - B 1 KR 4/02 R eine unmittelbare Klage auf die Leistungsgewährung für zulässig gehalten, wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen behauptet werde oder zwischen den Beteiligten unstreitig sei. Das LSG habe durch sein Vorgehen das Grundrecht des Klägers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip) sowie das rechtliche Gehör verletzt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom sowie den Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm für die Zeit ab Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er weist darauf hin, dass er mit dem Bescheid vom , gegen den der Kläger fristgerecht Widerspruch eingelegt habe, den Antrag auf Fortzahlung der Leistungen ab abgelehnt habe.

II

Die Revision ist unbegründet.

1. Der vom Kläger gerügte Verfahrensfehler der Verletzung rechtlichen Gehörs ist dem LSG nicht unterlaufen, sodass das angefochtene Urteil nicht bereits als Überraschungsentscheidung aufzuheben ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 GG; § 62 SGG) wurde nicht dadurch verletzt, dass das LSG sein Urteil auf Gesichtspunkte gestützt hat, die bisher nicht erörtert worden wären und der Rechtsstreit dadurch eine unerwartete Wendung genommen hätte (vgl zur Überraschungsentscheidung etwa BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 4; , veröffentlicht in Juris). Auch wenn das Vorgehen des LSG beim Kläger zunächst den Eindruck erwecken konnte, dass es zu einer Entscheidung über den SGB II-Leistungsanspruch kommen werde, hat das Gericht jedenfalls in der zur Entscheidung führenden mündlichen Verhandlung den Prozessbevollmächtigten darauf hingewiesen, dass es die Leistungsklage möglicherweise als unzulässig ansehen werde. Auf Grund dieses Hinweises musste der rechtskundig vertretene Kläger mit der vom LSG getroffenen Entscheidung rechnen. Soweit er diesen Hinweis nach eigenem Vorbringen für unverständlich gehalten hat, bot der Hinweis jedenfalls Veranlassung, nachzufragen oder eine Vertagung zu beantragen. Wird von derartigen Möglichkeiten kein Gebrauch gemacht, kann eine Verletzung rechtlichen Gehörs jedenfalls nicht geltend gemacht werden.

2. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage nur teilweise zulässig gewesen ist. Das auf die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von SGB II-Leistungen mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) verfolgte Begehren ist unzulässig.

Die Vorschrift des § 54 Abs 4 SGG, deren Verletzung die Revision behauptet, ist für das Begehren nicht einschlägig. Nach § 54 Abs 4 SGG kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsaktes gleichzeitig die Leistung verlangt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Regelung setzt nämlich voraus, dass die Verwaltung über die begehrte Leistung entschieden hat. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn der Leistungsträger die Leistung ohne abschließende Ermittlung bis zur Nachholung der Mitwirkung nach § 66 SGB I versagt. Gegen einen solchen Versagensbescheid ist grundsätzlich nur die Anfechtungsklage eröffnet (BSG SozR 1200 § 66 Nr 13; BSG SozR 4-1200 § 66 Nr 1).

Bei dem hier streitigen Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom handelte es sich um eine vorläufige Versagung der Zahlung von Arbeitslosengeld II (Alg II) ab . Dies ergibt sich aus den vom LSG unter Bezugnahme auf die Verwaltungsakten des Beklagten getroffenen Feststellungen. Soweit die Revision rügt, die tatbestandlichen Feststellungen seien unvollständig und deshalb falsch, weil im streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid auch und insbesondere die - vorgreifliche - Feststellung getroffen worden sei, der Kläger lebe mit L in einer eheähnlichen Gemeinschaft, vermag dieses Vorbringen die rechtliche Einordnung des angefochtenen Bescheids als Versagensbescheid nicht zu erschüttern. Denn der - aus anderen Gründen durch das SG bestandskräftig aufgehobene - Bescheid stützte die Versagung darauf, dass dem Kläger die Vorlage von Einkommens- und Vermögensnachweisen der L obliege. Hierzu musste aus der Sicht des Beklagten dargelegt werden, warum vom Vorliegen einer Partnerschaft iS des § 7 Abs 3 Nr 3c SGB II auszugehen sei, weil nur dann die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Dritten Bedeutung erlangen konnten. Das Vorbringen des Klägers ist deshalb nicht geeignet, die rechtliche Einordnung des Versagensbescheides in Frage zu stellen.

Schließlich liegen auch die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass lediglich die isolierte Anfechtung des Versagensbescheides statthaft ist, nicht vor (vgl hierzu BSG USK 87161; BSG SozR 1200 § 66 Nr 13; BSG SozR 4-1200 § 66 Nr 1; vgl auch BVerwGE 71, 8, 11 = Buchholz 435.11 § 66 SGB I Nr 1). Für diese Rechtsprechung werden Gründe der Prozessökonomie und des effektiven Rechtsschutzes angeführt. Eine zusätzliche Klage auf Leistungsgewährung ist danach zulässig, wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen zwischen den Beteiligten unstreitig ist oder vom Kläger behauptet wird. Eine derartige Situation liegt hier nicht vor. Es ist zwischen den Beteiligten nicht unstreitig gewesen, dass die Leistungsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Alg II vorliegen, denn der Kläger hatte bereits die Entscheidungserheblichkeit der von dem Beklagten begehrten Informationen bestritten. Ebenso wenig hat der Kläger behauptet, die Anspruchsvoraussetzung der Hilfebedürftigkeit sei anderweitig geklärt, zB weil dem Beklagten die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der L auf andere Weise bekannt geworden wären. Schließlich hat der Kläger nicht einmal dargelegt, dass die übrigen Voraussetzungen des § 7 SGB II für einen Anspruch auf Alg II (unstreitig) geklärt gewesen wären. Das Vorbringen, der Kläger habe bis zum Alg II bezogen, genügt insoweit nicht. In einer derartigen Situation, in der bereits Vorfragen zwischen den Beteiligten streitig und die Anspruchsvoraussetzungen insgesamt nicht geklärt sind, kann nicht aus Gründen der Prozessökonomie auf die Durchführung eines vorgehenden Verwaltungsverfahrens zur Klärung sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen verzichtet werden. Eine Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes kann hierin nicht gesehen werden.

Keine andere Beurteilung ergibt sich im Hinblick darauf, dass vorliegend die Gewährung von (existenzsichernden) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II streitig ist und folglich ein nachrangiges Leistungssystem für den Kläger nicht zur Verfügung steht. Allein dieser Umstand führt auch unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes jedoch nicht dazu, die Leistungsklage ausnahmsweise auch ohne vorherige Durchführung eines verwaltungsrechtlichen Verfahrens als zulässig anzusehen. Denn dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zur Erlangung der für den Lebensunterhalt erforderlichen Mittel kann in Fällen der vorliegenden Art bereits im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes hinreichend Rechnung getragen werden.

Eine Ausnahme von den vorstehenden Grundsätzen erwägt der Senat aber bei Streitigkeiten um existenzsichernde Leistungen für den Fall, dass sich bei einer Aufhebung der Entscheidung über die Versagung wegen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I das bisherige Verwaltungsverfahren lediglich wiederholen würde, zB weil sich der Grundsicherungsträger erneut an den Antragsteller wenden müsste, um Kenntnis über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Mitbewohnerin zu erlangen und im Ergebnis die Leistung in der Sache voraussichtlich mit der gleichen Begründung ablehnen würde. Auch diese Fallgestaltung liegt hier allerdings nicht vor, weil § 60 Abs 4 SGB II dem Grundsicherungsträger die Möglichkeit eröffnet, sich unmittelbar an den Dritten zu wenden. Nach § 60 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB II hat der Partner der Agentur für Arbeit auf Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit Einkommen oder Vermögen des Partners zu berücksichtigen sind. Während § 60 Abs 1 Nr 1 SGB I nur den Antragsteller oder Leistungsempfänger selbst betrifft, erfasst § 60 SGB II Auskunftspflichten Dritter, die für den Leistungsanspruch des Antragstellers von Bedeutung sein können (vgl zu den Pflichten und Grenzen auch Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 60 RdNr 38; Herold-Tews in Löns/Herold-Tews, Grundsicherung für Arbeitsuchende, 2. Aufl 2009, § 60 RdNr 10, 12; Schoch in LPK-SGB II, 2. Aufl 2006, § 60 RdNr 30; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Stand IX/08, § 60 RdNr 21 ff). Hierbei erfasst § 60 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB II die Fälle einer Partnerschaft nach § 7 Abs 3 Nr 3 SGB II.

Erst nach Ausschöpfung der gesetzlich vorgesehenen Ermittlungsmöglichkeiten kann der Grundsicherungsträger über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs, also insbesondere über die Hilfebedürftigkeit des Klägers, entscheiden. Bevor der Träger der Grundsicherung keine Anstrengung unternommen hat, seinen Auskunftsanspruch nach § 60 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB II durchzusetzen, dürfte eine Beweislastentscheidung zu Lasten des Klägers nicht statthaft sein. Gegen eine die Leistung versagende Sachentscheidung findet sodann die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statt (§ 54 Abs 4 SGG). Im Rahmen einer derartigen Klage hat das Gericht ggf zu prüfen, ob der Grundsicherungsträger zu Recht vom Bestehen einer Partnerschaft nach § 7 Abs 3 Nr 3 SGB II ausgegangen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Fundstelle(n):
QAAAD-29884