BGH Urteil v. - 2 StR 229/09

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: StPO § 261

Instanzenzug: LG Kassel, vom

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten, auf die Sachrüge gestützten Revision dagegen, dass die Angeklagte nicht wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts verurteilt worden ist. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen absolvierte die Angeklagte nach dem Erwerb der mittleren Reife erfolgreich eine Lehre als pharmazeutischkaufmännische Angestellte; nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit arbeitete sie etwa sieben Jahre lang in ihrem erlernten Beruf.

"Anfang des Jahres 2007, etwa im Zeitraum Ende Februar/Anfang März" (UA 6), stellte die Angeklagte fest, dass sie trotz praktizierter Verhütung schwanger geworden war. Diesen Umstand verheimlichte sie sowohl gegenüber ihrem Lebenspartner, dem Zeugen H. , als auch gegenüber ihrer Familie und ihren Bekannten. Die Angeklagte beabsichtigte zunächst, eine Hausgeburt durchzuführen. Am frühen Morgen des platzte die Fruchtblase und es setzten unregelmäßige, teilweise bereits sehr schmerzhafte Wehen ein. Ihr Lebensgefährte versorgte sie mit Tee und begab sich anschließend zur Arbeit. Nach seiner Rückkehr forderte er die unverändert ersichtlich unter Schmerzen leidende Angeklagte auf, sich mit dem Hausarzt in Verbindung zu setzen. Dies lehnte die Angeklagte, die sich inzwischen entschlossen hatte, sich in das Krankenhaus H. in F. zu begeben, ebenso ab wie seinen weiteren Vorschlag, sie in ein Krankenhaus zu fahren. Stattdessen veranlasste sie ihren Lebensgefährten, einer Einladung zur Jagd alleine Folge zu leisten.

Anschließend fuhr sie mit ihrem Pkw nach F. und erreichte ihre Aufnahme in das Krankenhaus unter Vorspiegelung falscher Personalien sowie einer nicht bestehenden Krankenversicherung durch die AOK. Wegen des bei der Aufnahme diagnostizierten "Geburtsstillstands" - trotz zunehmender Wehentätigkeit öffnete sich der Muttermund nicht weiter - ordnete der diensthabende Gynäkologe einen Kaiserschnitt an. Mit dessen Hilfe brachte die Angeklagte - wie von ihr gewünscht - unter Vollnarkose einen gesunden, reifen, normalgewichtigen männlichen Säugling zur Welt. Sie lehnte es ab, das Baby zu stillen und wollte dieses zunächst auch nicht bei sich behalten.

Am nächsten Morgen entfernte der Gynäkologe auf Wunsch der Angeklagten die bei dieser gelegte Drainage sowie Braunülen und Katheter. Da das Pflegepersonal ihrem Wunsch, mit ihrem Lebensgefährten zu telefonieren, nicht Rechnung trug, kleidete sie sich an und begab sich ins Erdgeschoss des Krankenhauses zu einem dort befindlichen Münzfernsprecher. Sie teilte ihrem Lebensgefährten mit, sie sei operiert worden, es gehe ihr gut und sie werde gegen Nachmittag nach Hause zurückkehren. Anschließend drängte sie auf umgehende Entlassung aus dem Krankenhaus, was jedoch abgelehnt wurde. Auf Nachfrage erklärte sie, dass sie beabsichtige, ihr Kind "K. " zu nennen. Nach mehrfachem Drängen wurde ihr gegen 12.15 Uhr das Kind gebracht.

Einige Zeit später verließ sie mit dem Säugling das Krankenhaus und fuhr mit ihrem Fahrzeug in Richtung ihres Heimatortes. Als das Kind zu weinen anfing, steuerte sie einen Parkplatz an, stieg aus und nahm das Kind auf den Arm, um es zu beruhigen. Im Hinblick auf die sich steigernde Aufregung ihres schreienden Säuglings wurde die Angeklagte zunehmend ratloser und schüttelte das Kind mehrmals. Anschließend streichelte sie es und drückte es in der Absicht an sich, es zu beruhigen. Auf diese Weise bedeckte sie die Mund- und Nasenöffnungen des Säuglings vollständig mit ihrem "korpulenten Oberkörper" (UA 12), was sie allerdings nicht wahrnahm. Sie erkannte nicht die nahe liegende, sich aus dieser Bedeckung ergebende Gefahr eines möglichen Erstickens des Kindes. Wegen der nun ausbleibenden Schreie ging sie davon aus, dieses erfolgreich beruhigt zu haben, bis der Säugling infolge der Atemnot wahrnehmbar begann zu krampfen. Sie bewegte sodann das Kind auf und ab, das nunmehr wieder zu schreien begann; dies nahm die Angeklagte wiederum zum Anlass, ihren Säugling an sich zu drücken. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals über einen Zeitraum "von zwischen wenigstens 3 bis 4 Minuten und längstens 20 bis 35 Minuten" (UA 13). Durch die fortgesetzte und wiederholte Bedeckung seiner Atemwege verlor der Säugling schließlich das Bewusstsein und verstarb kurz darauf infolge Erstickens, ohne das Bewusstsein noch einmal wieder erlangt zu haben. Die Angeklagte bemerkte, wie der Körper des Kindes erschlaffte und sein Köpfchen zur Seite fiel; sie fuhr mit dem Leichnam in einen Wald und versteckte das tote Kind im Kofferraum ihres Pkw in einem bereits zum Teil gefüllten Müllbeutel.

Nach Rückkehr in die gemeinsame Wohnung behauptete sie gegenüber ihrem Lebensgefährten sowie ihrer Familie und Bekannten, sich einer "Zystenoperation" unterzogen zu haben. Durch die Klinik veranlasste Ermittlungen der Polizei führten zur Identifizierung der Angeklagten; als sie am mit einem Dienstwagen der Polizei zur Feststellung einer zurückliegenden Schwangerschaft ins Krankenhaus gebracht werden sollte, äußerte die Angeklagte gegenüber den anwesenden beiden Polizeibeamten: "Ihr könnt mich festnehmen, ich habe es getan". Auf ihren Hinweis wurde der Leichnam des Säuglings in ihrem Pkw gefunden.

Das Schwurgericht hat in der Abdeckung der Atemwege des Säuglings ein sorgfaltswidriges Verhalten der Angeklagten erkannt, ein vorsätzliches Handeln hingegen ausgeschlossen (UA 39). Es hat eine Mehrzahl von Indizien im Einzelnen geprüft. Diese reichten aber nach Ansicht des Tatrichters weder allein noch zusammen aus, die Angeklagte eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zu überführen. Daran ändere sich auch nichts dadurch, dass sie im Ermittlungsverfahren wechselnde Angaben gemacht habe.

II.

Dies hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei oder sieht er von einer weiterreichenden Verurteilung ab, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Dieses hat insoweit nur zu beurteilen, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 238; 2005, 147). Aus den Urteilsgründen muss sich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11; Beweiswürdigung, unzureichende 1; BGH NStZ 1983, 133; 2002, 48; BGH NStZ-RR 2000, 45; 2004, 238).

1.

Es ist zu besorgen, dass das Landgericht bei der Beurteilung des Beweiswerts und des Gewichts der Indizien von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist und zu hohe Anforderungen gestellt hat. So führt das Schwurgericht auf UA 30 aus, die im Hinblick auf eine mögliche Todesursache wechselnden Angaben der Angeklagten erlaubten "nicht zwingend" den Schluss, dass die Angeklagte ein Fehlverhalten zu verschleiern versuche. Nach UA 45 gestattet der Umstand, dass die Angeklagte bereits am Tag nach der Geburt frühzeitig aufgestanden ist, keinen zwingenden Schluss auf ihre Absicht, ihr Kind zu töten. Das Schwurgericht meint auf UA 47, aus der Erfolglosigkeit der Öffentlichkeitsfahndung und von Befragungen könne nicht zwingend auf die Unwahrheit der Angaben der Angeklagten zu einer Babyschale geschlossen werden. Nach UA 51 führt die denkbare, von der Angeklagten empfundene Unvereinbarkeit ihres bisherigen Lebens mit einem Kind "keinesfalls zwingend" dazu, dass sie keine andere Möglichkeit gesehen habe, als das Kind umzubringen. Die Anforderungen an eine Verurteilung dürfen aber nicht überspannt werden (vgl. BGH NStZ 1999, 153; 205; NStZ-RR 2000, 171; NJW 2007, 92, 94); es genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht aufkommen lässt ().

2.

Den Urteilsfeststellungen ist auch nicht zu entnehmen, dass das Landgericht im vorliegenden Fall tatsächlich eine Gesamtwürdigung aller Indizien vorgenommen hat. Auf UA 33 wird lediglich von einer solchen Gesamtschau gesprochen. Gleiches gilt für UA 53; dort wird nur als Ergebnis mitgeteilt, dass sich "letztlich" auch nicht aus einer Gesamtschau aller Umstände ein "irgendwie gearteter Tötungsvorsatz der Angeklagten" ergebe. Weitergehendes folgt auch nicht aus der rechtlichen Würdigung, weil das Landgericht dort (UA 59 f.) von dem festgestellten Ansich-Drücken ausgeht und sich mit der nach seiner Auffassung aus objektiver Sicht nicht fern liegenden Möglichkeit des Erstickungstodes befasst. Angesichts der Fülle der Indizien und ihrem zum Teil durchaus gewichtigen belastenden Charakter lässt die zusammenfassende Wertung hier nicht erkennen, ob wirklich alle einzelnen belastenden Indizien im Zusammenhang mit den anderen gesehen und auch zueinander in Bezug gesetzt worden sind. Hinzu kommt, dass das Landgericht zahlreichen Indizien wegen möglicher unverfänglicher Erklärungen allein keinen Beweiswert beigemessen hat. Es steht daher zu besorgen, dass es diese Indizien bei der Gesamtwürdigung nicht berücksichtigt hat, obwohl ihnen im Zusammenhang mit anderen Indizien durchaus ein belastender Beweiswert zukommen kann.

3.

Im Übrigen würdigt das Landgericht eine Mehrzahl einzelner Indizien in fehlerhafter bzw. unvollständiger Weise.

a)

Nach Auffassung des Schwurgerichts spricht der Umstand, dass die Angeklagte am Morgen nach der Entbindung entschieden habe, ihren Sohn auf den Namen "K. " zu taufen, "ganz wesentlich" gegen eine vorgefasste Tötungsabsicht (UA 52). Ausweislich der Feststellungen (UA 11) erfolgte diese Äußerung der Angeklagten jedoch auf Nachfrage des Pflegepersonals. Damit verliert das vom Schwurgericht angeführte Indiz seinen Beweiswert.

b)

Die Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahin eingelassen, dass sie Ende Februar/Anfang März 2007 ihre letzte Periode gehabt und anschließend ihre Schwangerschaft bemerkt habe (UA 16). Das Landgericht ist dieser Angabe gefolgt (UA 6, 35). Zutreffen kann sie indes nicht: Der behandelnde Gynäkologe hat bestätigt, dass der Säugling ein reifes, normal gewichtiges Kind gewesen sei. Es habe sich nicht um eine erkennbare Frühgeburt gehandelt. Frühgeburten können nach seiner Aussage nur vor der 36. Schwangerschaftswoche erkannt werden. Zwischen dem von der Angeklagten angegebenen Empfängniszeitpunkt und der Geburt liegen indes nur etwa 32 Wochen. Die Wahrheit ihrer Zeitangaben unterstellt hätte es sich also um eine "erkennbare Frühgeburt" handeln müssen. Dennoch hinterfragt das Landgericht diese unzutreffenden Angaben der Angeklagten nicht.

c)

Das Landgericht hat seinen Feststellungen die Angaben der Angeklagten zugrunde gelegt, sie habe den Säugling in einer - beim Sperrmüll gefundenen - mitgeführten Babyschale transportiert und diese später, nach zwischenzeitlicher Aufbewahrung auf einem Hochsitz, an einem Supermarkt abgestellt. Dies lässt wie an anderen Stellen der Beweiswürdigung besorgen, dass das Schwurgericht der Reichweite des Grundsatzes "in dubio pro reo" nicht hinreichend Rechnung getragen hat. In seiner Beweiswürdigung bewertet das Landgericht diese Einlassung lediglich als unwiderlegt (UA 47). Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist aber keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuldund Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 24, 27). Es ist daher verfehlt, ihn isoliert auf einzelne Indizien anzuwenden; er kann erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung zum Tragen kommen (vgl. BGHSt 49, 112, 122 f.; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 20; BGH NStZ 2001, 609; NStZ-RR 2004, 238, 239; Urt. vom - 1 StR 37/06). Diesen Grundsätzen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts offensichtlich nicht gerecht.

Auch ist der Tatrichter nicht verpflichtet, einer Einlassung zu folgen, nur weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt, mittels derer die Behauptung sicher widerlegt werden kann (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 261 Rdn. 26 m.w.N.). Das gilt besonders, wenn, wie hier, die Angeklagte ihre ursprüngliche Einlassung so ändert, dass ein überprüfbarer Gesichtspunkt - hier das zunächst behauptete Entleihen der Babyschale von einer Jagdfreundin -entfällt.

d)

Vergleichbares gilt, soweit das Schwurgericht der Einlassung der Angeklagten folgt, sie habe in der gesamten Zeit ihrer Schwangerschaft nicht den "passenden" Moment gefunden, ihren Lebensgefährten hierüber zu unterrichten, obwohl dieser einem Kind nicht ablehnend gegenüberstand.

e)

Rechtsfehlerhaft, weil lückenhaft, ist die Beweiswürdigung, soweit das Schwurgericht es unterlässt, die Äußerung der Angeklagten im Dienstwagen der Polizei - "Ihr könnt mich festnehmen, ich habe es getan" - einer näheren Würdigung zu unterziehen und diese mit dem ihr zukommenden Gewicht in die Gesamtabwägung einzustellen. Im Übrigen fällt auf, dass die vom Landgericht für unwiderlegt erachtete Einlassung der Angeklagten in der Hauptverhandlung keinen Anhalt bietet, was genau die Angeklagte mit ihrer bestimmten Behauptung, sie habe "es" getan, gemeint haben könnte.

f)

Das Landgericht hat es bei seinen Feststellungen über die Rückstände von Medikamenten im Leichnam des Säuglings bewenden lassen und diese nicht erkennbar in seine Beweiswürdigung einbezogen; hierzu bestand jedoch, wie der Generalbundesanwalt in seiner Terminszuschrift an den Senat und in der Hauptverhandlung zutreffend ausgeführt hat, schon angesichts der pharmazeutischen Kenntnisse der Angeklagten Anlass.

g)

Auf UA 60 führt das Schwurgericht aus, dass die Möglichkeit eines Erstickungstodes aus objektiver Sicht nicht fern lag. Gleichwohl verneint es sowohl das Wissens- als auch das Willenselement des bedingten Vorsatzes, "zumal auch keine solche Handlung vorlag, die wegen ihrer hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit diesen Rückschluss quasi aufzwang. Im Gegenteil handelt es sich ersichtlich um ein gewaltarmes bzw. gewaltfreies Vorgehen ...". Das ist ersichtlich falsch, weil diese Wertung nach dem zugrunde gelegten Tatgeschehen - dem Ansich-Drücken an den Oberkörper - nicht zutrifft.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
BAAAD-29850

1Nachschlagewerk: nein