Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 20; BerHG § 1 Abs. 1; BerHG § 2 Abs. 1
Instanzenzug: AG Halle, 103 II 549/09 vom
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG).
I.
1.
Dem Beschwerdeführer war von dem zuständigen Rentenversicherungsträger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit gewährt worden. Sein Antrag auf wiederholte Gewährung wurde abgelehnt, weil über den Wegfallzeitpunkt hinaus eine volle Erwerbsminderung nicht vorliege. Ihm sei eine Tätigkeit im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes möglich.
Die beim Amtsgericht beantragte Beratungshilfe für den Widerspruch gegen diesen Bescheid wurde vom Rechtspfleger zurückgewiesen. Die Auskunfts- und Belehrungspflicht der Behörde sei eine andere zumutbare Möglichkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG und schließe einen Anspruch auf Bewilligung von Beratungshilfe aus.
Die Erinnerung, mit der der Beschwerdeführer die Unzumutbarkeit der behördlichen Beratung geltend machte und auf fehlerhafte medizinische Sachverhalte und Feststellungen hinwies, wurde mit dem angegriffenen richterlichen Beschluss zurückgewiesen. Es bedürfe für die Einlegung des Widerspruchs nicht der rechtlichen Beratung durch einen Anwalt. Es sei lediglich eine andere Bewertung der körperlichen Beschwerden des Antragstellers vorzunehmen. Hierzu bedürfe es keiner rechtlichen, sondern eher medizinischer Kenntnisse. Demzufolge sei eine Rechtsberatung nicht notwendig.
2.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG sowie des Willkürverbots. Das Beratungshilfegesetz beziehe in § 2 Abs. 1 BerHG das Merkmal der Erforderlichkeit nur auf die Vertretung, nicht aber auf die Beratung. Unabhängig davon komme es für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente auf die juristische Bewertung und die ausreichende Aufklärung des medizinischen Sachverhalts an. Rechtliche Hilfe sei daher notwendig.
3. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
1.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
2.
Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).
Es wird insoweit auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des , [...] - verwiesen, wonach die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird.
Das Amtsgericht hat keine ausreichenden Umstände angeführt, die die Notwendigkeit fremder Hilfe hier in Frage stellen könnten.
Ein Verweis auf die Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein (generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl., 2008, § 1 Rn. 52; für Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses: Kalthoener/
Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl., 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten wäre aber jedenfalls dann kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter in vergleichbarer Angelegenheit die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde.
Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht erkennbar. Die Beantwortung der Frage, ob volle Erwerbsminderung vorliegt, erfordert die Aufklärung medizinischer Sachverhalte und eine juristische Bewertung der Erwerbsfähigkeit nach § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch. Deshalb kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es für den Widerspruch gegen einen ablehnenden Bescheid der Rentenversicherung keiner rechtlichen Kenntnisse bedarf, wenn es um die richtige Feststellung und Bewertung von Krankheiten oder Behinderungen geht.
Eine Verweisung auf die Beratung durch dieselbe Behörde, deren Entscheidung die Beschwerdeführerin angreifen will, überschreitet die Grenze der Zumutbarkeit.
III.
Die angegriffene Entscheidung wird gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut zu entscheiden hat.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Fundstelle(n):
GAAAD-29549