Sinn und Zweck der verlängerten Festsetzungsfrist ist nicht Erstattungsansprüche über die reguläre Verjährungsfrist hinaus zu realisieren
Leitsatz
Die verlängerte Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO setzt einen hinterzogenen Betrag im Sine eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraus, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung bislang nicht realisiert werden konnte. An dem so definierten hinterzogenen Betrag fehlt es, wenn der Steuergläubiger die geschuldete Einkommensteuer durch Steuerabzug bereits erhoben hatte und objektiv nie ein Anspruch auf eine Abschlusszahlung zu seinen Gunsten bestand.
Unehrliche Steuerpflichtige dürfen in Erstattungsfällen nicht ohne sachlichen Grund günstiger gestellt werden als ehrliche Steuerpflichtige.
Vergleichbar .
Gesetze: AO § 169 Abs. 2 Satz 2, AO § 370, FGO § 126a, EStG § 36 Abs. 4
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Streitig ist, ob Einkommensteuerveranlagungen für die Jahre 1993 bis 1997, die im Ergebnis durch Anrechnung einbehaltener Kapitalertragsteuer jeweils zu Erstattungen führen würden, noch aufgrund der verlängerten Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) —Steuerhinterziehung— durchgeführt werden können.
Die am . 1907 geborene und am . 2003 verstorbene Frau X gab für die Streitjahre 1993 bis 1997 keine Einkommensteuererklärungen ab, obgleich sie neben Renteneinkünften auch Einkünfte aus Geldanlagen bei verschiedenen inländischen Bankinstituten in der Größenordnung von jeweils über 20 000 DM erzielt hatte. Die Banken hatten jeweils Kapitalertragsteuer einbehalten und an den Fiskus abgeführt. Wäre es zu einer Einkommensteuerveranlagung gekommen, so hätte die Anrechnung der Kapitalertragsteuer jeweils zu einer Steuererstattung zugunsten der Steuerpflichtigen geführt.
Frau X wurde von verschiedenen Personen beerbt. Zu den Miterben zählte der Kläger und Revisionskläger (Kläger). Dieser gab am Einkommensteuererklärungen für die Erblasserin ab.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) lehnte es ab, Einkommensteuerveranlagungen für die Jahre 1993 bis 1997 durchzuführen. Zur Begründung führte das FA an, dass die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen sei. Die Festsetzungsfrist betrage nicht zehn Jahre, da die Erblasserin keine Steuern hinterzogen habe. Zu einer Steuerverkürzung sei es nicht gekommen, weil die Abzugssteuern einbehalten und an den Staat abgeführt worden seien.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) ließ in dem angegriffenen Urteil dahinstehen, ob der subjektive Tatbestand der Steuerhinterziehung nachgewiesen sei. Denn jedenfalls sei es in objektiver Hinsicht nicht zu einer Verkürzung von Steuern gekommen. Es fehle an einem Schaden des Staates, wenn die Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen zu einer Steuererstattung führe.
Das FG habe zu Unrecht den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung verneint. Die Steuer werde im Steuerbescheid festgesetzt. Hiervon sei die Anrechnungsverfügung zu unterscheiden. Für die Erfüllung des Straftatbestandes komme es allein darauf an, ob aufgrund der nicht abgegebenen Steuererklärungen festzusetzende Einkommensteuer tatsächlich nicht festgesetzt worden sei. Das (BFHE 220, 229, BStBl II 2008, 659) rechtfertige keine andere Beurteilung des Streitfalles. Die vom BFH vorgenommene Auslegung führe dazu, dass, je nachdem, ob sich Abschlusszahlungen für den Fiskus oder Steuererstattungsansprüche für den Steuerpflichtigen ergeben würden, unterschiedliche Festsetzungsfristen für Steuerfestsetzungen zugunsten oder zu Lasten des Steuerpflichtigen im Falle der Steuerhinterziehung Geltung beanspruchten, obgleich Verjährungsfristen grundsätzlich sowohl für Ansprüche des Gläubigers als auch des Schuldners gelten würden. Die in §§ 169 ff. AO geregelten Verjährungsvorschriften seien grundsätzlich neutral hinsichtlich der Frage, wer von einer Vorschrift profitiere.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Hessischen aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Der Senat entscheidet gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Beschluss. Er hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden; sie hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
1. Das FG hat zu Recht entschieden, dass dem begehrten Erlass von Einkommensteuerbescheiden der Eintritt der Verjährung entgegenstand.
Es kann offenbleiben, ob die Erblasserin durch die Nichtabgabe von Einkommensteuererklärungen den Tatbestand der Einkommensteuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO verwirklicht hatte. Selbst wenn sie sich strafbar gemacht haben sollte, ist in einem solchen Fall die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht auf zehn Jahre verlängert. Denn diese Regelung ist dahin zu interpretieren, dass sie einen hinterzogenen Betrag im Sinne eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraussetzt, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung bislang nicht realisiert werden konnte. An dem so definierten hinterzogenen Betrag fehlt es vorliegend aber, weil der Steuergläubiger die geschuldete Einkommensteuer durch Steuerabzug bereits erhoben hatte und objektiv nie ein Anspruch auf eine Abschlusszahlung zu seinen Gunsten bestand. Wegen der weiteren Begründung wird auf das —den Beteiligten bereits bekannte— Senatsurteil in BFHE 220, 229, BStBl II 2008, 659 verwiesen. Der Senat hat sich in dieser Entscheidung auch mit dem von der Revision besonders herausgestellten Gesichtspunkt befasst, wonach Verjährungsregelungen im Allgemeinen gleichermaßen im Interesse des Steuergläubigers als auch des Steuerpflichtigen liegen. Im speziellen Fall der Steuerhinterziehung gilt es jedoch, nicht nur das Verhältnis des steuerunehrlichen Bürgers zum Fiskus in den Blick zu nehmen, sondern auch dessen steuerliche Behandlung im Vergleich zur steuerlichen Behandlung des steuerehrlichen Bürgers. Unehrliche Steuerpflichtige dürfen in Erstattungsfällen nicht ohne sachlichen Grund günstiger gestellt werden als ehrliche Steuerpflichtige.
2. Der Senat hält es für sachgerecht, im Streitfall von der durch § 126a Satz 1 FGO eröffneten Möglichkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung Gebrauch zu machen. Die Einschätzung des Senats zu der im Streitfall maßgeblichen Rechtsfrage ist dem Kläger aus dem Senatsurteil in BFHE 220, 229, BStBl II 2008, 659 hinreichend bekannt. Der Kläger hat hierzu umfassend und wiederholt —zuletzt im Rahmen der nach § 126a Satz 2 FGO gebotenen Anhörung— Stellung genommen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 1397 Nr. 9
SAAAD-25929