BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 2355/08

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 103 Abs. 1; VwGO § 124 Abs. 2

Instanzenzug: OVG Mecklenburg-Vorpommern, 2 L 90/08 vom VG Greifswald, 2 A 671/07 vom

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer meldete unter dem und unter dem bei dem im Ausgangsverfahren beklagten Zweckverband Wasserversorgung und Abwasserbehandlung Rügen (im Folgenden: Beklagter) eine Grundstücksentwässerungsanlage sowie eine Wasseranlage zur Herstellung des Hausanschlusses an. In Gestalt handschriftlicher Vermerke auf den Anmeldeformularen vom gab der Beklagte dem Beschwerdeführer auf, an der Grundstücksgrenze je einen (Frisch-)Wasserzählerschacht und einen Schmutzwasserschacht zu errichten.

Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom zurück. Rechtsgrundlage für die Ausgangsbescheide sei in Bezug auf den (Frisch-)Wasserzählerschacht § 12 Abs. 1 Buchstabe b der Wasserversorgungssatzung (im Folgenden: WVS). Nach § 12 Abs. 1 WVS kann der Beklagte verlangen, dass der Anschlussberechtigte auf eigene Kosten nach seiner Wahl an der Grundstücksgrenze einen geeigneten Wasserzählerschacht oder Wasserzählerschrank errichtet, wenn a) das Grundstück unbebaut ist oder b) die Versorgung des Gebäudes mit Anschlussleitungen erfolgt, die unverhältnismäßig lang sind oder nur unter besonderen Erschwernissen verlegt werden können, oder c) kein Raum zur frostsicheren Unterbringung des Wasserzählers vorhanden ist.

a) Der Beschwerdeführer erhob Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht. Am fand ein Ortstermin statt, anlässlich dessen die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichteten. Ihnen wurde ausweislich des Protokolls über den Ortstermin "Gelegenheit gegeben, innerhalb von zwei Wochen nach Übersendung des Protokolls des Ortstermins zu den Ergebnissen Stellung zu nehmen". Das Protokoll wurde mit einem auf den datierten gerichtlichen Begleitschreiben übersandt und ging dem damaligen Bevollmächtigten des Beschwerdeführers am zu.

Mit am per Telefax bei dem Verwaltungsgericht eingegangenem Schriftsatz nahm der Beschwerdeführer Stellung. Neben der Vertiefung seines bisherigen Vorbringens machte er geltend, dass selbst wenn man davon ausgehen wolle, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 12 WVS vorlägen, das dann satzungsmäßig eröffnete Ermessen zum einen überhaupt nicht ausgeübt worden sei und zum anderen auch nicht pflichtgemäß hätte ausgeübt werden können. Mit Schriftsatz vom , bei Gericht eingegangen am , erwiderte er abschließend auf einen Schriftsatz des Beklagten vom , der ihm nach eigenem Vorbringen am zugegangen war.

Mit Urteil vom , dem damaligen Bevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt am , hob das Verwaltungsgericht die Anordnungen des Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom auf, soweit sie die Errichtung eines Schmutzwasserschachtes betrafen. Nach den Feststellungen in dem Termin zur Augenscheinseinnahme bestehe bereits ein Revisionsschacht, so dass der weitere Schmutzwasserschacht nicht erforderlich sei. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die Anschlussleitung sei sowohl unverhältnismäßig lang als auch nur unter besonderen Erschwernissen zu verlegen.

b) Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin die Zulassung der Berufung und führte zur Begründung unter anderem aus, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem das Urteil beruhen könne (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletze seinen Anspruch auf rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO), da der Schriftsatz des Beschwerdeführers vom nicht berücksichtigt worden sei.

Mit Beschluss vom lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Der Beschwerdeführer rüge zu Unrecht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 124 Abs. 2 Nr. 5, § 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Es sei nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht über die Klage bereits am entschieden habe, so dass die danach eingegangenen Schriftsätze des Beschwerdeführers nicht mehr hätten berücksichtigt werden können. Das Gericht habe sich damit nicht in Widerspruch zu seinem Verhalten im Ortstermin am gesetzt. Eine förmliche Zustellung sei vom Gericht nicht angekündigt worden. Wenn der Beschwerdeführer das Protokoll tatsächlich erst am erhalten habe, wovon das Gericht ausgehe, hätte er sich nicht darauf verlassen dürfen, sich noch innerhalb weiterer zwei Wochen äußern zu können. Es hätte vielmehr nahe gelegen, dem Gericht mitzuteilen, dass er das auf den datierte Schreiben mit dem Protokoll erst am erhalten habe und diesen Tag als Beginn seiner Äußerungsfrist erachte. Da er dies nicht getan habe, habe das Gericht davon ausgehen können, dass der Beschwerdeführer das Protokoll drei Tage nach Absendung erhalten würde (Rechtsgedanke aus § 152a Abs. 2 Satz 3 VwGO), so dass das Urteil - wie geschehen - am habe erlassen werden können. Die Berufung sei auch nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) oder wegen besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen.

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 14 GG.

4. Die Gerichtsakten sowie der Verwaltungsvorgang des Beklagten wurden beigezogen.

5. Das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern und der Beklagte hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

1. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG liegen vor.

Die für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. etwa BVerfGE 12, 110 <113> ; 22, 267 <273> ; 49, 212 <215>; 64, 224 <227> ; 69, 145 <148> ; 89, 381 <392> ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 70/94 -, [...]). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet.

a) Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

aa) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit sie nicht aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht bleiben müssen oder können, sowie entscheidungserhebliche Beweisanträge zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 22, 267 <273> ; 69, 145 <148> ; stRspr). Dabei verpflichtet diese Bestimmung das Gericht, selbst gesetzte Äußerungsfristen abzuwarten und nicht vorher zu entscheiden. Das gilt auch, wenn dem Gericht die Sache schon vorher entscheidungsreif erscheint (vgl. BVerfGE 12, 110 <113> ; 49, 212 <215>; 64, 224 <227> ).

bb) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

Das Verwaltungsgericht hat dadurch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, dass es den am per Telefax eingegangenem Schriftsatz des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt hat. Da das Protokoll über den Ortstermin dem damaligen Bevollmächtigten des Beschwerdeführers erst am zuging, endete die vom Verwaltungsgericht gesetzte Zwei-Wochen-Frist ab "Übersendung des Protokolls" am . Der am eingegangene Schriftsatz des Beschwerdeführers hätte daher bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen. Indem das Oberverwaltungsgericht den auch auf § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO gestützten Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung abgelehnt hat, hat es diesen Gehörsverstoß perpetuiert.

Es ist unerheblich, ob sich das Verwaltungsgericht mit dem Urteilserlass am "in Widerspruch zu seinem Verhalten im Ortstermin" gesetzt hat oder ob es davon ausgehen konnte, dass der Beschwerdeführer das Protokoll drei Tage nach der Absendung erhalten würde. Denn auf ein etwaiges Verschulden des Verwaltungsgerichts bei dem Gehörsverstoß kommt es nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 70/94 -, [...]; ebenso im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG BVerfGE 58, 163 <167 f.> ).

Der Annahme der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, dass das gerichtliche Begleitschreiben zu dem Protokoll auf den datiert ist. Zwar wäre die Annahme dann nicht zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt, wenn der Beschwerdeführer ohne weiteres die Gelegenheit gehabt hätte, eine Gehörsverletzung zu vermeiden (vgl. beispielsweise zur Obliegenheit geordneten Vorbringens BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 142/96 -, NJW 2001, S. 1200 <1202 f.> ). Hiervon kann vorliegend allerdings - anders als das Oberverwaltungsgericht offenbar meint - nicht ausgegangen werden. Es kann dahinstehen, ob es in der Situation des Beschwerdeführers "nahe gelegen" hätte, dem Gericht mitzuteilen, dass das auf den datierte Schreiben mit dem Protokoll erst am zugegangen sei, anstatt die Zwei-Wochen-Frist ab Übersendung des Protokolls (annähernd) auszuschöpfen. Eine diesbezügliche rechtliche Obliegenheit traf den Beschwerdeführer, der nachvollziehbar darauf hinweist, dass er keinen Einblick in die internen Geschäftsabläufe des Gerichts habe, allerdings nicht.

cc) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf dem aufgezeigten Verfassungsverstoß (vgl. hierzu etwa BVerfGE 28, 17 <19 f.> ; 86, 133 <147> ). Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Verwaltungsgericht anders entschieden hätte, wenn es das Vorbringen des Beschwerdeführers in dessen Schriftsatz vom - insbesondere betreffend den dort gerügten Ermessensausfall - zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hätte. Hieraus ergibt sich zugleich, dass auch der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts auf der Perpetuierung des Gehörsverstoßes beruht. Denn es liegt ein vom Oberverwaltungsgericht nicht als solcher erkannter Verfahrensmangel vor, auf dem das Urteil des Verwaltungsgerichts beruhen kann (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).

Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, denen zufolge ein Ermessensfehler des Beklagten nicht aufgrund der Wahl des konkreten Standorts des Wasserzählerschachtes anzunehmen sei (vgl. S. 4 der oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidung). Denn das Oberverwaltungsgericht führt dort lediglich aus, dass der konkrete Standort nicht durch den Beklagten festgelegt worden sei. Mit der Rüge eines Ermessensausfalls beziehungsweise der Frage einer pflichtgemäßen Ermessensausübung setzt sich das Oberverwaltungsgericht im Übrigen nicht auseinander.

b) Ob die angegriffenen Entscheidungen gegen die weiteren als verletzt bezeichneten Grundrechte des Beschwerdeführers verstoßen, bedarf nach alledem keiner Entscheidung.

Die angegriffenen Entscheidungen sind aufzuheben und die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
NJW 2009 S. 3779 Nr. 52
GAAAD-25800