Leitsatz
[1] Sind die Vorschriften der Artt. 21 ff. der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und im Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (Brüssel IIa-Verordnung = EuEheVO) über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten nach Art. 2 Nr. 4 EuEheVO auch auf vollstreckbare einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts i.S. von Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung anwendbar?
Gesetze: Verordnung (EG) Nr. 1347/2000; Brüssel IIa-VO Art. 20 Abs. 1; Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 21
Instanzenzug: OLG Stuttgart, 17 WF 211/08 vom AG Stuttgart, 20 F 835/08 vom
Gründe
I.
Die Parteien streiten um die Vollstreckbarkeit einer einstweiligen Maßnahme eines spanischen Gerichts zum Aufenthaltsbestimmungsrecht und zur Kindesherausgabe in Deutschland.
Mitte 2005 zog die Antragsgegnerin zu dem Antragsteller nach Spanien, wo beide dann in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebten. Nach einer komplizierten Schwangerschaft wurden am die Zwillingskinder der Parteien als Frühgeburten geboren. Der Sohn Merlin konnte das Krankenhaus im September 2006 verlassen. Die Tochter Samira konnte nach zwischenzeitlich eingetretenen Komplikationen erst im März 2007 entlassen werden.
Zuvor hatte sich das Verhältnis der Parteien deutlich verschlechtert. Die Antragsgegnerin wollte mit ihren Kindern nach Deutschland zurückkehren, während der Antragsteller damit zunächst nicht einverstanden war. Am schlossen die Parteien eine notarielle Vereinbarung, wonach die Antragsgegnerin mit den Kindern nach Deutschland zurückkehren durfte und dem Antragsteller ein Umgangsrecht mit den Kindern zustehen sollte. Die Antragsgegnerin beabsichtigte sodann gemeinsam mit ihrem (aus einer früheren Beziehung hervorgegangen) Sohn D. und den beiden gemeinsamen Kindern nach Deutschland zurückzukehren. Als notwendige Begleitpersonen für den Flug der Kleinkinder waren die Antragsgegnerin einerseits und der Bruder des Antragstellers andererseits vorgesehen.
Als die gemeinsame Tochter Samira wegen eingetretener Komplikationen und eines notwendigen chirurgischen Eingriffs nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, reiste die Antragsgegnerin am mit dem gemeinsamen Sohn Merlin nach Deutschland. Nach ihrem Vortrag sollte die Tochter Samira nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ebenfalls nach Deutschland gebracht werden.
Der Antragssteller, der sich in der Folgezeit nicht mehr an die notarielle Vereinbarung gebunden fühlte, leitete im Juni 2007 in Spanien ein einstweiliges Sorgerechtsverfahren ein. In diesem Verfahren erließ das spanische Gericht erster Instanz in San Lorenzo De El Escorial am die hier relevante einstweilige Maßnahme mit folgendem Inhalt:
"Als dringende und sofortige einstweilige Maßnahme wird in Entscheidung des Antrags von G. V. P. gegen Frau B. P. vorsorglich beschlossen:
1.
Die Übertragung des gemeinsamen Sorgerechts für die beiden Kinder Samira und Merlin V. P. an den Vater G. V. P. ; die elterliche Gewalt verbleibt bei beiden Elternteilen.
Zur Ausführung dieser Verfügung muss die Mutter den minderjährigen Sohn Merlin seinem in Spanien ansässigen Vater zurückgeben. Es sind geeignete Maßnahmen zu treffen, die es der Mutter ermöglichen, mit dem Jungen zu reisen und Samira und Merlin zu besuchen, wann immer sie es wünscht, bzw. ist ihr eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, die der familiäre Treffpunkt sein kann oder von dem Verwandten oder der dritten Vertrauensperson gestellt werden kann, die bei den Besuchen während der ganzen Zeit, die die Mutter mit den Kindern verbringt, anwesend sein muss, oder die väterliche Wohnung sein kann, falls beide Parteien dies vereinbaren sollten.
2.
Verbot, ohne vorherige gerichtliche Genehmigung mit den beiden Kindern das spanische Hoheitsgebiet zu verlassen.
3.
Verbleib der Reisepässe der beiden Kinder in der Gewalt des Elternteils, der das Sorgerecht ausübt.
4.
Unterstellung sämtlicher Wohnungswechsel der beiden Kinder Samira und Merlin unter vorheriger richterlicher Genehmigung.
5.
Die Festsetzung einer Unterhaltspflicht zu Lasten der Mutter erfolgt nicht.
Es erfolgt keine Kostenverurteilung.
Dieser Beschluss ist bei Eröffnung eines Hauptverfahrens in die entsprechende Verfahrensakte aufzunehmen.
Dieser Beschluss ist in der gesetzlichen Form und unter Hinweis auf seine Unanfechtbarkeit den Parteien und der Staatsanwaltschaft zuzustellen."
Nach der Bescheinigung des spanischen Gerichts gemäß Art. 39 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und im Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (EuEheVO; im Folgenden Brüssel IIa-Verordnung) ist die einstweilige Maßnahme nach spanischem Recht vollstreckbar.
Schon vor der Entscheidung des spanischen Gerichts hatte die Antragsgegnerin am in einem Hauptsacheverfahren vor dem Amtsgericht Albstadt beantragt, ihr das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder zu übertragen. Das Sorgerechtsverfahren war vom 19. März bis zum nach Art. 16 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom (im Folgenden HKÜ) ausgesetzt und wurde sodann gemäß § 13 IntFamRVG an das Amtsgericht Stuttgart abgegeben. Das Amtsgericht Stuttgart hat den Erlass einer neuen einstweiligen Anordnung über das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder abgelehnt. In der Hauptsache hat es noch nicht entschieden, sondern Bedenken gegen seine internationale Zuständigkeit geäußert. Es beabsichtigt eine Aussetzung des Sorgerechtsverfahrens nach Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-Verordnung im Hinblick auf ein in Spanien anhängiges Hauptsacheverfahren zur Übertragung der elterlichen Sorge.
Im vorliegenden Verfahren hatte der Antragsteller zunächst u.a. Herausgabe des gemeinsamen Kindes Merlin verlangt und nur vorsorglich die Vollstreckbarerklärung der spanischen Entscheidung beantragt. Später hat er die Vollstreckbarkeitserklärung vorrangig weiterbetrieben. Entsprechend haben das Amtsgericht und das Oberlandesgericht die Entscheidung des spanischen Gerichts mit der Vollstreckungsklausel versehen und ein Ordnungsgeld gegen die Antragsgegnerin angedroht. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin, mit der sie nach wie vor Abweisung des Antrags auf Vollstreckbarerklärung begehrt.
II.
1.
Das Beschwerdegericht hat in der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Gründe, die einer Vollstreckbarkeit der Entscheidung des spanischen Gerichts entgegenstünden, seien nicht ersichtlich. Zwar handele es sich um eine einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts. Die Brüssel IIa-Verordnung unterscheide im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten in Art. 2 Nr. 4 aber nicht nach der Entscheidungsform, sondern fordere lediglich eine "gerichtliche Entscheidung". Auch wenn die gemeinsamen Kinder nicht von dem spanischen Gericht angehört worden seien, verletze dies keine wesentlichen verfahrensrechtlichen Grundsätze des deutschen Rechts, zumal die Kinder im Zeitpunkt der Entscheidung erst eineinhalb Jahre alt gewesen seien. Soweit die Antragsgegnerin wegen einer verspäteten Einleitung des Hauptsacheverfahrens die Vollstreckbarkeit der spanischen Entscheidung in Zweifel stelle, stehe dem die Bescheinigung des spanischen Gerichts nach Art. 39 der Brüssel IIa-Verordnung entgegen. Auch Versagungsgründe nach Art. 23 der Brüssel IIa-Verordnung lägen nicht vor. Insbesondere sei kein Verstoß gegen den deutschen ordre public ersichtlich; das rechtliche Gehör der Antragsgegnerin sei durch ihre Ladung zum Termin gewahrt gewesen. Dass sie den Termin nicht persönlich wahrgenommen, sondern sich lediglich anwaltlich habe vertreten lassen, beruhe auf ihrer eigenen Entscheidung. Eine Sachprüfung des in Spanien entschiedenen Sorgerechtsverfahrens sei dem Gericht im Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren verwehrt.
2.
Die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin greift die Entscheidung des Oberlandesgerichts mit der Begründung an, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten erfasse nach Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung nicht einstweilige Maßnahmen i.S. von Art. 20 Brüssel IIa-Verordnung, weil diese nicht als "Entscheidungen über die elterliche Verantwortung" zu qualifizieren seien.
Dafür spreche schon der Erwägungsgrund 16 der Verordnung, wonach die vorliegende Verordnung die staatlichen Gerichte nicht an einstweiligen Maßnahmen hindere. Einstweilige Maßnahmen, die nach Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung ungeachtet der Bestimmungen der Verordnung zulässig seien, seien vom Regelungsumfang der Verordnung deswegen nicht umfasst.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Rs. 125/79 -Denilauler = IPRax 1981, 95) seien die Vorschriften des Brüsseler EWG-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom in der Fassung des 4. Beitrittsübereinkommens vom (im Folgenden EuGVÜ) zwar grundsätzlich auch auf einstweilige Maßnahmen anwendbar; dies gelte aber nicht für einstweilige oder auf eine Sicherung gerichtete Maßnahmen, die ohne Ladung der Gegenpartei ergangen seien oder die ohne vorherige Zustellung vollstreckt werden sollen. Dies gelte nach Auffassung des - NJW-RR 2007, 1573) in gleicher Weise für die Artt. 32, 34 Abs. 2 der Verordnung EG Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO; im Folgenden Brüssel I-Verordnung).
Zwar könne diese Rechtsprechung nicht unmittelbar auf den vorliegenden Fall übertragen werden, weil die Brüssel I-Verordnung lediglich auf Zivil- und Handelssachen anwendbar sei, während Ehe- und Kindschaftssachen allein dem Anwendungsbereich der Brüssel IIa-Verordnung unterlägen. Der Begriff "Entscheidung" in Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung sei im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH aber unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck dieser Verordnung auszulegen. Die Zielsetzung der Verordnung bilde eine Grenze für eine Auslegung, so dass eine teleologische Auslegung erforderlich sei.
Nach dem Erwägungsgrund Nr. 19 der Verordnung komme der Anhörung des betroffenen Kindes eine wichtige Rolle zu, die durch die Anhörung der Eltern nicht ersetzt werden könne. Es sei deswegen geboten, einstweilige Maßnahmen aufgrund ihrer Vorläufigkeit von der erleichterten Anerkennung und Vollstreckung nach der Brüssel IIa-Verordnung auszunehmen und die Verordnung einer Vollstreckung von Hauptsacheentscheidungen vorzubehalten. Schließlich verstoße die spanische Entscheidung auch gegen den deutschen ordre public.
III.
1.
Die Rechtsbeschwerde ist nach Art. 34 Brüssel IIa-Verordnung i.V.m. § 28 IntFamRVG und § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch zulässig, weil die Rechtsfrage, ob die Vorschriften der Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten nach Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung auch für einstweilige Maßnahmen i.S. von Art. 20 Brüssel IIa-Verordnung oder nur für Entscheidungen in der Hauptsache gelten, in der Literatur umstritten und in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt ist.
2.
Auch in der Sache ist die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde von dieser Rechtsfrage abhängig. In der Literatur werden insoweit Rechtsauffassungen vertreten, die vom vollständigen Ausschluss einstweiliger Maßnahmen bis hin zur umfassenden Einbeziehung solcher Entscheidungen in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-Verordnung reichen.
a)
Teilweise werden - gestützt auf den Wortlaut - einstweilige Maßnahmen im Sinne des Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung grundsätzlich von dem Anwendungsbereich der Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung nach den Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung ausgenommen. Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung, der in dringenden Fällen ungeachtet der weiteren Bestimmungen der Verordnung einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats zulässt, wird von den Vertretern dieser Auffassung als reine Zuständigkeitsregelung eingestuft. Dafür könnte auch die Entscheidung des sprechen, wonach einstweilige Maßnahmen im Sinne von Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung vorübergehender Art sein müssen und sich deren Durchführung und Bindungswirkung nach nationalem Recht bestimmt (EuGH - Rs. C-523/07 - FamRZ 2009, 843 Tz. 46 ff.).
Zwar seien einstweilige Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH vom Regelungsgehalt des EuGVÜ (Art. 24 EuGVÜ) und der seit dem geltenden Brüssel I-Verordnung (Art. 31 Brüssel I-Verordnung) erfasst, wobei lediglich die ungeschriebenen Einschränkungen zu beachten seien, die der Europäische Gerichtshof für die Vollstreckung solcher einstweiliger Maßnahmen vorsehe. Nur Maßnahmen, die ohne vorherige Anhörung des Verfahrensgegners - also nicht in einem kontradiktorischen Verfahren - erlassen seien, blieben von der Anerkennung nach diesen Vorschriften ausgeklammert. Auf den ersten Blick entspreche die Rechtslage für einstweilige Maßnahmen im Rahmen der Brüssel IIa-Verordnung zwar derjenigen nach der Brüssel I-Verordnung. Indem Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-Verordnung einstweilige Maßnahmen und Schutzmaßnahmen nach dem Recht eines Mitgliedstaats "in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände" zulasse, erschöpfe sich der Wortlaut aber in einer Konkretisierung der realen Verknüpfung zwischen dem Gegenstand der einstweiligen Maßnahme und der gebietsbezogenen Zuständigkeit des Erlassstaates, die der Europäische Gerichtshof auch für Art. 24 der Brüssel I-Verordnung fordere. Aus dem Wortlaut der Artt. 2 Nr. 4 und 20 Abs. 1 der Brüssel IIa-Verordnung folge, dass der Geltungsbereich der Verordnung - anders als der nach Art. 25 EuGVÜ und Art. 32 der Brüssel I-Verordnung - expressis verbis auf Entscheidungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Brüssel IIa-Verordnung, mithin auf Entscheidungen in der Hauptsache, beschränkt sei (Dilger in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen Nr. 545 Art. 20 Rdn. 23 f.; Dilger Die Regelung zur internationalen Zuständigkeit in Ehesachen in der Verordnung [EG] Nr. 2201/2003 Rdn. 312 ff.; Wannenmacher Einstweilige Maßnahmen im Anwendungsbereich von Art. 31 EuGVVO in Frankreich und Deutschland Seite 16 f.; Zöller/Geimer ZPO 27. Aufl. Anh. II EG-VO Ehesachen, Verfahren betreffend elterliche Verantwortung Art. 2 Rdn. 8 und Art. 20 Rdn. 13; zur Brüssel II-Verordnung vgl. Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 63. Aufl. Anh. I § 606 a [EheGVVO] Art. 13 Rdn. 4; für Österreich Fuchs/Tülk ZfRV 2002, 95, 101 f.).
b)
Teilweise wird der Geltungsbereich des Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung auf solche vorläufigen Anordnungen ausgedehnt, die ein zuständiges Gericht innerhalb eines Hauptsacheverfahrens erlässt, soweit das rechtliche Gehör zumindest nachträglich gewährleistet ist. Anders als das EuGVÜ und die Brüssel I-Verordnung sei die Brüssel IIa-Verordnung nicht auf ein zweiseitiges Rechtsverhältnis ausgerichtet, sondern diene der Handhabung von Dreiecksverhältnissen, bei denen einer dritten Person, nämlich dem Kind, besondere Schutzbedürftigkeit zukomme. Es müsse deswegen sichergestellt werden, dass rechtliches Gehör überhaupt, gegebenenfalls auch nach Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen einer Rechtsbehelfsmöglichkeit, gewährleistet sei. Das entspreche der Rechtsprechung des EuGH (Rs. 166/80 - Klomps/Michel = RIW 1981, 781 f.), wonach auch eine nachträgliche Anhörung zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreiche (Holzmann Brüssel IIa-VO: Elterliche Verantwortung und internationale Kindesentführung S. 228 ff.; AnwK-BGB/Andrae Anh. I zum III. Abschnitt EGBGB Art. 21 Rdn. 5; Hüßtege in: Thomas/Putzo/Hüßtege ZPO 29. Aufl. EuEheVO Art. 21 Rdn. 3; Saenger/Dörner Hk-ZPO 2. Aufl. EheGVVO Art. 2 Rdn. 5 und Helms FamRZ 2001, 257, 260 zur Brüssel II-Verordnung).
c)
Wieder andere Stimmen beschränken die Geltung der Brüssel IIa-Verordnung auf einstweilige Maßnahmen, die - ggf. in einem kontradiktorischen Verfahren - nach Gewährung rechtlichen Gehörs erlassen worden sind. Eine bloße Nachholung rechtlichen Gehörs könne einstweilige Maßnahmen ohne vorherige Anhörung nicht dem Anerkennungssystem der Brüssel IIa-Verordnung unterziehen. Der Grundfehler der Verordnung, die Übernahme der für kontradiktorische Verfahren konzipierten Instrumente für Sorgerechtssachen statt der Übernahme des ausgewogenen Systems des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, könne nicht zum Anlass genommen werden, den Anwendungsbereich der Verordnung zu Lasten des ausgewogenen Systems auszudehnen (Rauscher Europäisches Zivilprozessrecht 2. Aufl. Brüssel IIa-VO Art. 2 Rdn. 15, Art. 20 Rdn. 18 und Art. 21 Rdn. 2; vgl. auch OLG Schleswig FamRZ 2008, 1761, 1762).
d)
Schließlich wird auch eine umfassende Einbeziehung einstweiliger Maßnahmen in das System der Brüssel IIa-Verordnung zur Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen befürwortet. Teilweise werden einstweilige Maßnahmen nach Art. 20 Brüssel IIa-Verordnung als Entscheidungen im Sinne des Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung angesehen, für die die Vorschriften der Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung über die Anerkennung und Vollstreckung gelten (Staudinger/ Spellenberg BGB IntVerfREhe [2005] EheG-VO Art. 20 Rdn. 51 und Art. 21 Rdn. 32; AnwK/Gruber BGB Anh. I zum III. Abschnitt EGBGB Art. 20 Rdn. 12). Teilweise wird von den Vertretern dieser Auffassung sogar vorgebracht, dass einstweilige Maßnahmen im Sinne des Art. 20 der Brüssel IIa-Verordnung zwar nicht von der Definition in Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-Verordnung erfasst seien. Gleichwohl seien für solche Maßnahmen die Vorschriften der Artt. 21 ff. über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten anwendbar (MünchKomm/Gottwald ZPO 3. Aufl. Bd. 3 EheGVO Art. 20 Rdn. 10).
3.
Der durch eine Auslegung der Art. 2 Nr. 4, 20, 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung zu ermittelnde Anwendungsbereich der Brüssel IIa-Verordnung lässt sich danach nicht eindeutig bestimmen.
Folgt man der unter III 2 a dargestellten Auffassung, könnte die einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts nicht nach den Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung für vollstreckbar erklärt werden und die Rechtsbeschwerde hätte Erfolg.
Folgt man hingegen den unter III 2 b und c dargestellten Auffassungen, hängt der Erfolg der Rechtsbeschwerde davon ab, ob der Antragsgegnerin im Verfahren der einstweiligen Maßnahme ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden ist. Dafür spricht allerdings, dass sie zu der mündlichen Verhandlung geladen war und die Kinder ein Alter hatten, in dem von einer Anhörung keine weiteren Erkenntnisse erwartet werden konnten (vgl. unten 4 c).
Nur auf der Grundlage der unter III 2 d dargestellten Auffassung wären die Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung zweifelsfrei auf die einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts anwendbar. Die Rechtsbeschwerde hätte dann - vorbehaltlich der weiteren Ausführungen zur Erheblichkeit - keinen Erfolg.
4.
Die Auslegungsfrage ist für die Entscheidung des Rechtsstreits auch erheblich. Wenn die Vorschriften der Artt. 21 ff. Brüssel IIa-Verordnung auch für einstweilige Maßnahmen im Sinne des Art. 20 dieser Verordnung gelten, haben die Instanzgerichte den spanischen Sorgerechtsbeschluss zu Recht mit einer Vollstreckungsklausel versehen. Denn die weiteren Einwände der Antragsgegnerin gegen die angefochtene Entscheidung überzeugen nicht. Insbesondere verletzt die einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts nicht den deutschen ordre public (Artt. 23, 31 Abs. 2 Brüssel IIa-Verordnung).
a)
Wenngleich das deutsche materielle Recht eine Übertragung der elterlichen Sorge auf einen nichtehelichen Vater nur mit Zustimmung der Mutter vorsieht, widerspricht das spanische Recht, das auch für nichteheliche Kinder von einem gemeinsamen Sorgerecht der Eltern ausgeht, nicht dem deutschen ordre public. Auch das deutsche Recht sieht die Möglichkeit der Übertragung des Sorgerechts auf den nichtehelichen Vater vor (§ 1626 a Abs. 1 BGB; vgl. auch Senatsbeschluss vom - XII ZB 229/06 - FamRZ 2007, 1969). Zwar ist die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater von einer Zustimmung der Mutter abhängig. Indem das Bundesverfassungsgericht diese Regelung für verfassungsgemäß erachtet hat (BVerfG, FamRZ 2003, 285 ), hat es sie jedoch nicht als einzige verfassungsrechtlich zulässige Regelungsmöglichkeit bezeichnet. Vielmehr hat es dem Gesetzgeber aufgegeben, die Entwicklung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Umstände zu beachten. Aus diesem Grund hat das Bundesministerium der Justiz jüngst ein Forschungsvorhaben zum Thema "gemeinsames Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern" in Auftrag gegeben.
b)
Auch soweit das spanische Gericht seiner einstweiligen Maßnahme den Vortrag des Antragstellers zugrunde gelegt hat, kann dies keine Gründe gegen eine Anerkennung der Entscheidung gemäß Art. 23 der Brüssel IIa-Verordnung rechtfertigen. Denn die Antragsgegnerin war zu der Verhandlung geladen und dabei auch anwaltlich vertreten. Sie hätte rechtzeitig vor Erlass der einstweiligen Maßnahme abweichend vortragen können. Ihr neuer Vortrag im Vollstreckbarkeitsverfahren führt nicht zu einem Verfahrensverstoß durch das spanische Gericht im Ausgangsverfahren i.S. von Art. 23 der Brüssel IIa-Verordnung.
c)
Zu Recht weist das Beschwerdegericht schließlich darauf hin, dass die fehlende Anhörung des gemeinsamen Kindes nicht zu einem erheblichen Verfahrensverstoß führt. Zwar liegt ein solcher Verstoß nach Art. 23 Ziff. b der Brüssel IIa-Verordnung dann vor, wenn die Entscheidung - ausgenommen in dringenden Fällen - ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden. Das Kind war hier im Zeitpunkt der Entscheidung allerdings erst knapp eineinhalb Jahre alt und hätte sich zur Übertragung des Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrechts ohnehin noch nicht äußern können. Eine Anhörung des Kindes wäre deswegen auch im Rahmen eines Sorgerechtsverfahrens in Deutschland unterblieben.
5.
Für die Beantwortung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage bedarf es einer Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, die nach Art. 234 EGV dem Europäischen Gerichtshof obliegt.
Fundstelle(n):
RAAAD-24807
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja