§ 128 ZPO im finanzgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar; Anspruch auf rechtliches Gehör; Anspruch auf ein faires Verfahren
Gesetze: FGO § 90 Abs. 2, FGO § 96 Abs. 2, ZPO § 128, GG Art. 103, GG Art. 2
Instanzenzug: (Kg)
Gründe
I. Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hob die Kindergeldfestsetzung für die Tochter (T) der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ab August 2002 auf, da die Tätigkeit der T als Außendienstangestellte in Ausbildung mangels Nachweises nicht als Berufsausbildung anerkannt werden könne.
Mit ihrer im Dezember 2005 eingegangenen Klage begehrte die Klägerin Kindergeld für die Zeit von August 2002 bis März 2003 und trug zur Begründung vor, dass sich T in der Zeit von November 2002 bis März 2003 in Ausbildung zur Versicherungssachbearbeiterin befunden habe. Die Ausbildungszeit sei von Schulungen geprägt gewesen, die mehr als 10 Wochenstunden in Anspruch genommen hätten. T habe nur ein geringfügiges Entgelt erzielt. Nach Beendigung der Ausbildung habe sie aufgrund der höheren Qualifizierung weitaus mehr verdienen können als mit ihrer bereits abgeschlossenen Ausbildung als Industriekauffrau. Entsprechende Verdienstbescheinigungen würden nachgereicht.
Mit der Eingangsbestätigung bat das Finanzgericht (FG) die Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Dezember 2005 u.a. um Mitteilung, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden/Berichterstatter bestehe. Die Familienkasse erteilte ein entsprechendes Einverständnis in ihrem Klageerwiderungsschriftsatz im Januar 2006.
Am wurden der Prozessbevollmächtigten der Klägerin der Einzelrichterübertragungsbeschluss und die Ladung zu dem auf Montag, den anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung zugestellt. Am beantragte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Vertagung. Daraufhin bat die Einzelrichterin um Glaubhaftmachung des angegebenen Vertagungsgrundes oder um Erteilung des Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Mit Schriftsatz vom legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Unterlagen für die Glaubhaftmachung ihrer Verhinderung vor und bat nochmals um Terminsverlegung. Zudem teilte sie mit, dass sie einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren bereits mit Telefax vom zugestimmt habe; ob dies aufrecht erhalten bleibe, teile ihr die Klägerin in den nächsten Tagen mit; sie werde hierzu zu gegebener Zeit nochmals Stellung nehmen.
Ausweislich eines Aktenvermerks der Einzelrichterin über ein Telefonat mit der Prozessbevollmächtigten der Klägerin kläre diese am Freitag, dem , mit der Klägerin, ob noch Unterlagen vorgelegt werden könnten und ob auf mündliche Verhandlung verzichtet werde. Ferner heißt es in dem Vermerk, dass sich der ursprüngliche Verzicht auf mündliche Verhandlung nicht in der Gerichtsakte befinde.
Mit Schriftsatz vom , beim FG eingegangen am , legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Schriftsatz vom nebst Fax-Bestätigung vom gleichen Tag vor. Ferner teilte sie mit, „T befindet sich derzeit bis zum im Urlaub, weitere Unterlagen können deshalb zurzeit nicht vorgelegt werden”.
Daraufhin verfügte die Einzelrichterin noch am Freitag, dem , die Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung; hiervon wurde die Prozessbevollmächtigte der Klägerin am Montag, dem , durch Hinterlassen einer entsprechenden Nachricht auf dem Anrufbeantworter benachrichtigt.
Mit Urteil vom , das am gleichen Tag zur Geschäftsstelle gelangte, ausgefertigt und zur Poststelle gegeben wurde, wies das FG die Klage als unbegründet ab, da die Klägerin für die Tätigkeit der T weder einen Ausbildungsvertrag vorgelegt noch nähere Angaben zu Inhalt und zeitlichem Umfang der Ausbildung sowie zu den hierbei zu erwerbenden Kenntnissen und Fähigkeiten gemacht habe. Daher liege auch für die Monate August bis Oktober 2002 keine Übergangszeit i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes (EStG) vor. Zudem bestehe auch deshalb ab August 2002 kein Kindergeldanspruch, weil die fachkundig vertretene Klägerin entgegen eigener Ankündigung keine Nachweise über die Einkünfte und Bezüge der T vorgelegt habe und somit nicht nachgewiesen sei, dass der Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG unterschritten gewesen sei.
Das Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am zugestellt.
Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO), da das FG das Recht auf Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) verletzt und gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) verstoßen habe.
Auf telefonische Anfrage des sei der Schriftsatz vom nochmals übersandt worden. Zudem habe die Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen, dass sie die Klägerin am ergänzend um die Verdienstunterlagen gebeten habe. Die Richterin habe mitgeteilt, dass „Zuarbeit der Klägerin zum Ausbildungsplan und Verdienst” noch fehlten. Dem FG sei mit Schriftsatz vom mitgeteilt worden, dass sich die Unterlagen bei T befänden und T bis zum in Urlaub sei. Bei dieser Sachlage hätte das FG nicht am ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Vielmehr hätte es eine Ausschlussfrist zur Vorlage der Unterlagen nach Urlaubsrückkehr der T setzen müssen. Da dies nicht geschehen sei, habe das FG auch nicht ohne weitere Ermittlungen entscheiden dürfen.
Da Termin zur mündlichen Verhandlung auf den anberaumt gewesen sei, habe sie nicht mit einer Entscheidung vor diesem Termin rechnen müssen. Der Termin sei erst gleichzeitig mit dem Urteil aufgehoben worden. Sie habe daher keine Möglichkeit mehr gehabt, sich nochmals im Wege des schriftlichen Verfahrens zu äußern.
Zudem hätte das FG nicht im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen, da die Voraussetzungen nach § 155 FGO i.V.m. § 128 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nicht vorgelegen hätten. Insbesondere habe die erneute Übermittlung des Schriftsatzes vom keine weitere Zustimmung beinhaltet, sondern lediglich der Auffindung des verloren gegangenen Schriftstücks gedient. Im Übrigen habe sie von einer mündlichen Verhandlung ausgehen können, solange der Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt gewesen sei. Weder habe ihr das Einverständnis der Familienkasse zum schriftlichen Verfahren vorgelegen noch ein entsprechender Beschluss des FG.
Aus den nun vorgelegten Unterlagen ergebe sich, dass sich T noch bis zum in Ausbildung befunden habe und die maßgeblichen Einkommensgrenzen in den Jahren 2002 und 2003 nicht überschritten worden seien.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).
Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen, weil ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
1. Das FG konnte zwar grundsätzlich nach § 90 Abs. 2 FGO im schriftlichen Verfahren entscheiden. Denn auch die Klägerin hatte sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Ihre Prozessbevollmächtigte hatte dem FG am mitgeteilt, dass sie bereits mit Telefax vom einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt habe und jenen Schriftsatz vom nebst Fax-Bestätigung am (erneut) übersandt.
An einer Entscheidung nach § 90 Abs. 2 FGO war das FG schon deshalb nicht nach § 128 Abs. 2 Sätze 2 und 3 ZPO gehindert, weil § 128 ZPO im finanzgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar ist (z.B. , BFH/NV 1995, 807).
2. Das FG hat aber dadurch, dass es bereits am entschieden hat, den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes —GG—, § 96 Abs. 2 FGO) und auf ein faires Verfahren verletzt.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist u.a. darauf gerichtet, die Beteiligten vor Überraschungen zu schützen. Hierdurch soll verhindert werden, dass ein Beteiligter mit dem Urteil von einem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt „überfahren” wird, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit dem auch ein Kundiger nach dem bisherigen Verlauf nicht zu rechnen brauchte (z.B. , BFH/NV 2001, 627; vgl. auch , BFH/NV 2009, 293). Aus der Gewährleistung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich zudem als allgemeines Prozessgrundrecht ein Anspruch auf ein faires Verfahren. Danach ist ein Richter u.a. zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (z.B. Entscheidung des u.a., BVerfGE 78, 123).
b) Zwar müssen die Beteiligten im Falle eines Verzichts auf mündliche Verhandlung im Regelfall jederzeit mit einem Urteil rechnen (z.B. , BFH/NV 1997, 298). Im vorliegenden Fall bestand jedoch die Besonderheit, dass das FG zunächst Termin zur mündlichen Verhandlung auf den anberaumt hatte, die Klägerin, der zur Vorlage von Unterlagen auch keine Ausschlussfrist nach § 79b Abs. 2 FGO gesetzt worden war, also davon ausgehen konnte, Unterlagen noch in der mündlichen Verhandlung am vorlegen zu können. Von der Aufhebung des Verhandlungstermins wurde sie erst am und zu diesem Zeitpunkt auch lediglich durch Hinterlassen einer Nachricht auf dem Anrufbeantworter benachrichtigt. Bei dieser Sachlage durfte das FG nicht bereits am ein Urteil im schriftlichen Verfahren treffen und der Poststelle zur Absendung übergeben. Denn auf diese Weise wurde die Klägerin, die zu diesem Zeitpunkt noch darauf vertrauen konnte, Unterlagen bis zum vorlegen zu können, an einer entsprechenden Vorlage gehindert. Damit wurde ihr Anspruch auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren verletzt. Dies gilt hier umso mehr, als das FG dem Schriftsatz der Klägerin vom entnehmen konnte, dass sie ggf. noch weitere Unterlagen rechtzeitig zu dem (damals noch) anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung vorlegen könnte.
3. Die angegriffene Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das FG, das die Abweisung der Klage mit dem Fehlen von Nachweisen begründet hat, bei Berücksichtigung der nun vorgelegten Unterlagen, die die Klägerin dem FG wegen des Verfahrensfehlers nicht mehr vorlegen konnte, zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Fundstelle(n):
ZAAAD-24061