Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: StPO § 477 Abs. 3; GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 1
Instanzenzug: LG Hamburg, 611 - 28/07 vom LG Hamburg, 611 - 28/07 vom
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung von Akteneinsicht an eine Privatperson im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren.
1.
Der Beschwerdeführer war Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Hamburg wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung. Die Tat aus dem Jahr 2003 hatte zunächst zu einem Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt geführt, da das Opfer den Täter nicht identifizieren konnte. Zwei Jahre später gab eine anonym bleibende Frau erst telefonisch und dann schriftlich gegenüber der Polizei an, bei dem Täter handele es sich um den Beschwerdeführer. Dies führte zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer, der sich schriftlich gegen den Tatvorwurf verteidigte. Das Ermittlungsverfahren wurde schließlich am gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
2.
Am beantragte ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter des Bruders des Beschwerdeführers Akteneinsicht. Er erklärte dazu, dass sein Mandant einen derzeit in der Berufungsinstanz anhängigen Zivilrechtsstreit um Pflichtteilsansprüche führe, in dem der Beschwerdeführer als Zeuge ausgesagt habe. Da Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers als Zeugen bestünden, diene die Akteneinsicht zur Ermittlung weiterer Gesichtspunkte. Daraus ergebe sich das berechtigte Interesse seines Mandanten.
Die Staatsanwaltschaft bot daraufhin ausweislich eines Formulars in der Akte dem Rechtsanwalt am Akteneinsicht an. Eine Verfügung eines Staatsanwalts über die Gewährung der Akteneinsicht findet sich in der Akte nicht. Nach Gewährung der Akteneinsicht wandte sich der Rechtsanwalt an den zuständigen Staatsanwalt und sprach ihn unter Nennung des Aktenzeichens auf das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer an. Er fragte, ob das Ermittlungsverfahren wieder aufgenommen würde, wenn die anonyme Hinweisgeberin namhaft gemacht würde. Der Staatsanwalt bejahte dies. Der Rechtsanwalt benannte sodann mit Schreiben vom die Ehefrau des Bruders des Beschwerdeführers als die bisher anonyme Hinweisgeberin. Dies führte zu ihrer Vernehmung als Zeugin, zur der sie von demselben Rechtsanwalt, der auch ihren Ehemann vertrat, begleitet wurde.
3.
Der Beschwerdeführer erlangte durch die Akteneinsichtnahme seines Verteidigers Kenntnis davon, dass dem Rechtsanwalt seines Bruders Akteneinsicht gewährt worden war. Er beantragte deswegen mit Schriftsatz vom , durch gerichtliche Entscheidung festzustellen, dass die Gewährung von Akteneinsicht rechtswidrig gewesen sei. Er rügte unter anderem, vor Gewährung der Akteneinsicht nicht angehört worden zu sein. Zudem ergebe sich aus dem Gesuch kein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht. Die Akteneinsicht habe lediglich dazu dienen sollen, die Ehefrau seines Bruders als Belastungszeugin aufzubauen. Der Beschwerdeführer habe dagegen, zumal nach Einstellung des Verfahrens, ein schutzwürdiges Interesse daran, dass die sich aus der Ermittlungsakte ergebenden Umstände nicht leichtfertig Dritten bekannt gemacht würden.
Der für das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer zuständige Staatsanwalt erklärte in einem Vermerk zu diesem Antrag, es sei nicht feststellbar, wer die Erteilung der Akteneinsicht genehmigt habe. In der Akte fehle eine entsprechende Verfügung, und im Aktenkontrollsystem sei eine Dezernentenvorlage in dem fraglichen Zeitraum nicht vermerkt.
4.
Das Landgericht Hamburg wies den Antrag mit Beschluss vom zurück. Zur Begründung führte das Gericht aus, es bestünden bereits Bedenken, ob der Beschwerdeführer ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse habe. Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung sei nur minimal, da die Strafakte zum Zeitpunkt der Akteneinsicht nur sehr wenige ihn betreffende Daten enthalten habe. Dies könne aber dahinstehen, da die Gewährung der Akteneinsicht im Ergebnis rechtmäßig gewesen sei. Daher komme es letztlich auch nicht darauf an, dass eine diesbezügliche Verfügung nicht dokumentiert sei. Die Interessen des Bruders des Beschwerdeführers an der Akteneinsicht seien zwar völlig belanglos und scheinheilig gewesen, doch führe dies nicht zur Rechtswidrigkeit der gewährten Akteneinsicht. Die Gewährung der Akteneinsicht sei eine im Rahmen des staatsanwaltlichen Ermessens liegende taktische Ermittlungsmaßnahme gewesen. Für die Staatsanwaltschaft sei erkennbar gewesen, dass die anonyme Anzeige gegen den Beschwerdeführer von Familienmitgliedern herrührte, doch zur Aufklärung des Tatverdachts sei sie auf die freiwillige Kooperation des Anzeigenden angewiesen gewesen. Die als nahe liegend anzunehmende Erwartung der Staatsanwaltschaft, dass sich der Bruder des Beschwerdeführers oder dessen Ehefrau als Urheber der Anzeige zu erkennen geben würde, habe sich schließlich auch erfüllt, so dass die Akteneinsicht als taktisches Mittel der Sachaufklärung vollen Erfolg gehabt habe. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stelle sich die Frage nach der Eignung dieses Mittels zum taktischen Zweck daher nicht mehr. Die Eignung werde auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Zeugin möglicherweise Kenntnis vom Akteninhalt gewonnen habe. Die tatbezogenen Umstände fielen ohnehin kaum in ihre Aussagekompetenz, außerdem könnten ihre Angaben durch weitere Ermittlungsmaßnahmen abgeklärt werden. Aufgrund der gewährten Akteneinsicht hätten sich deshalb so wertvolle Ermittlungsansätze ergeben, dass die minimalen Interessen des Beschwerdeführers an der Geheimhaltung seiner personenbezogenen Daten bei der gebotenen Güterabwägung nicht nennenswert ins Gewicht fielen.
5.
Auf die dagegen vom Beschwerdeführer erhobene Gegenvorstellung hin entschied das die Gegenvorstellung gebe keine Veranlassung, den Beschluss der Kammer abzuändern.
6.
Gegen den Beschwerdeführer wurde später Anklage erhoben. Das Verfahren wurde schließlich gemäß § 153a Abs. 2 StPO eingestellt.
II.
1.
Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Die Gewährung der Akteneinsicht ohne vorherige Anhörung des Beschwerdeführers verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Ein berechtigtes Informationsinteresse an der Akteneinsicht habe hier nicht vorgelegen, doch die Staatsanwaltschaft habe die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Akteneinsicht ersichtlich nicht geprüft. Das Landgericht habe die Gewährung von Akteneinsicht als rechtmäßig angesehen, obwohl es selbst die im Akteneinsichtsgesuch geltend gemachten Interessen für belanglos gehalten habe. Damit hätten sich die Staatsanwaltschaft und das Landgericht bewusst über die Systematik der Interessenabwägung und der abgestuften Informationsgewährung in § 475 StPO und § 477 Abs. 3 StPO hinweggesetzt, die der verfassungsrechtlichen Relevanz einer Akteneinsichtsgewährung an Dritte als Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Rechnung trügen. Das Landgericht habe mit seinen hypothetischen Überlegungen zu den Gründen für die Gewährung der Akteneinsicht ein staatsanwaltschaftliches Recht postuliert, Akteneinsicht an private Dritte zur taktischen Verfolgung von Ermittlungszwecken zu gewähren. Dadurch habe es sich von Systematik, Zweck und Wortlaut der §§ 475 ff. StPO so weit entfernt, dass die Entscheidungen gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzesbindung von Verwaltung und Justiz verstießen.
2.
Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hat von der Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer ergebenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1.
Prüfungsmaßstab für die Frage, ob die angegriffenen Entscheidungen mit der Verfassung vereinbar sind, ist das Recht des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Dieses Recht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten grundsätzlich selbst zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1 <43>; 78, 77 <84> ; 80, 367 <373> ). Einschränkungen dieser Befugnis bedürfen einer gesetzlichen Grundlage und müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen; sie dürfen nicht weiter gehen als zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich (vgl. BVerfGE 65, 1 <44>; 78, 77 <85> ).
2.
Die Erteilung von Auskünften aus Verfahrensakten oder die Gewährung von Akteneinsicht stellt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung solcher Personen dar, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 742/02 -, NJW 2003, S. 501; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 67/06 -, NJW 2007, S. 1052). Die schutzwürdigen Interessen dieser Personen können der Gewährung von Akteneinsicht daher entgegenstehen oder es erforderlich machen, den Zugang zu den Daten angemessen zu beschränken (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 67/06 -, NJW 2007, S. 1052). Wird durch die Gewährung der Akteneinsicht in Grundrechte Betroffener eingegriffen, sind diese in der Regel anzuhören (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 465/05 -, NStZ-RR 2005, S. 242 m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 67/06 -, NJW 2007, S. 1052).
3.
Daran gemessen verletzen die Gewährung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft und die diese Maßnahme bestätigenden Entscheidungen des Landgerichts den Beschwerdeführer in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
a)
Die Voraussetzungen, unter denen im Strafverfahren einer Privatperson Auskünfte aus Verfahrensakten erteilt oder Akteneinsicht gewährt werden darf, sind in den §§ 475 ff. StPO geregelt. Diese Vorschriften bilden die erforderliche gesetzliche Grundlage für den mit der Akteneinsicht verbundenen Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung. Ist das Verfahren eingestellt worden - wie es vorliegend zum Zeitpunkt der Akteneinsichtsgewährung der Fall war - dürfen Auskünfte aus den Akten oder Akteneinsicht gemäß § 477 Abs. 3 StPO nur gewährt werden, wenn ein rechtliches Interesse an der Kenntnis dargelegt und glaubhaft gemacht worden ist. Die Auskunftserteilung oder Gewährung von Akteneinsicht ist jedoch zu versagen, wenn der hiervon Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an der Versagung hat.
b)
Die Entscheidungen des Landgerichts, welche die Rechtmäßigkeit der Akteneinsichtsgewährung feststellen, verkennen dagegen Bedeutung und Reichweite des Rechts des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung. Das Landgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass die Akte des gegen den Beschwerdeführer gerichteten Ermittlungsverfahrens persönliche Daten von ihm enthält und deshalb mit der Gewährung auch ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden ist. Dem Beschluss des Landgerichts liegt jedoch die unter keinem Aspekt mehr vertretbare Auffassung zugrunde, dass Akteneinsicht an Privatpersonen auch dann gewährt werden dürfe, wenn die Voraussetzungen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen in §§ 475, 477 StPO nicht vorliegen. Das Landgericht ist bei seiner Entscheidung selbst davon ausgegangen, dass der Antragsteller in diesem Fall kein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht hatte. Dies wäre nach § 477 Abs. 3 StPO jedoch eine zwingende Voraussetzung für die Gewährung von Akteneinsicht gewesen.
c)
Die Akteneinsichtsgewährung als Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers kann dagegen nicht, wie das Landgericht annahm, aus ermittlungstaktischen Gründen gerechtfertigt werden.
Die Staatsanwaltschaft kann zwar auf der Grundlage des § 161 Abs. 1 StPO in freier Gestaltung des Ermittlungsverfahrens die erforderlichen Maßnahmen zur Aufklärung von Straftaten ergreifen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 103/92 -, NStZ 1996, S. 45). § 161 Abs. 1 StPO stellt als Ermittlungsgeneralklausel die Ermächtigungsgrundlage für Ermittlungen jeder Art dar, die nicht mit einem erheblichen Grundrechtseingriff verbunden sind und daher keiner speziellen Eingriffsermächtigung bedürfen. Für die Gewährung von Akteneinsicht an Privatpersonen enthalten die §§ 475 ff. StPO aber spezielle Vorschriften, die sowohl dem Schutz der Rechte des Beschuldigten als auch der Sicherung der Zwecke des Strafverfahrens (§ 477 Abs. 2 Satz 1 StPO) dienen. Diese besonderen gesetzlichen Voraussetzungen können nicht unter Berufung auf das allgemeine staatsanwaltschaftliche Ermessen bei der Auswahl der Ermittlungsmaßnahmen unterlaufen werden.
Darüber hinaus findet die Annahme des Landgerichts, die Staatsanwaltschaft habe aus ermittlungstaktischen Gründen Akteneinsicht gewährt, in dem dokumentierten Verfahrensablauf schon keine tatsächliche Grundlage. Ob überhaupt ein Staatsanwalt die entsprechende Anordnung getroffen hat, ist nicht feststellbar. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht gewährt hätte, um ein Ermittlungsziel zu erreichen, finden sich in der Akte nicht. Ein Vermerk über die getroffene Anordnung und die hierfür ausschlaggebenden Gründe fehlt. Auch in ihrer Stellungnahme zum Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung beruft sich die Staatsanwaltschaft nicht auf solche Erwägungen. Fehlen aber jegliche tatsächliche Hinweise auf eine von Ermittlungszwecken geprägte staatsanwaltschaftliche Ermessenentscheidung, stellt die gerichtliche Annahme einer solchen Entscheidung eine bloße Vermutung dar, die einen entsprechenden Grundrechtseingriff nicht im Nachhinein zu rechtfertigen vermag.
4.
Da die Entscheidungen schon wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG aufzuheben sind, bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob der Beschwerdeführer auch in weiteren von ihm geltend gemachten Rechten verletzt ist.
5.
Die Entscheidungen sind gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.
6.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 34a Abs. 2 BverfGG).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW 2009 S. 2876 Nr. 39
ZAAAD-19691