BVerwG Urteil v. - 1 C 2.08

Leitsatz

1. Auch ein von den Regelausweisungstatbeständen des § 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG nicht erfasstes verfassungsfeindliches Verhalten kann im Einzelfall einen schwerwiegenden Ausweisungsgrund im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG darstellen. Hierbei muss es sich nicht zwingend um ein strafbares Verhalten handeln.

2. Die Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die wegen Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik verboten worden ist, begründet für sich genommen in der Regel noch keine Gefährdung im Sinne des § 54 Nr. 5a AufenthG. Dies schließt eine andere Beurteilung bei Vorliegen besonderer Umstände jedoch nicht aus.

Gesetze: AufenthG § 54; AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 2; AufenthG § 56 Abs. 1

Instanzenzug: VGH Hessen, 11 UE 765/07 vom VG Frankfurt am Main, 1 E 5342/06 2 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein

Gründe

I

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland und erstrebt die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.

Der 1967 geborene Kläger kam 1978 im Wege des Familiennachzugs zu seinen hier lebenden Eltern. Nach Vollendung des 16. Lebensjahrs erhielt er eine befristete Aufenthaltserlaubnis, deren Verlängerung er im Juni 2003 beantragte.

1996 heiratete der Kläger eine türkische Staatsangehörige, mit der er drei gemeinsame minderjährige Kinder hat. Die Eheleute leben inzwischen getrennt; die Kinder wachsen bei den Großeltern mütterlicherseits auf.

Nach den Ermittlungen des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen ist der Kläger Anhänger der Organisation "Kalifatstaat". Diese Vereinigung wurde vom Bundesministerium des Innern mit bestandskräftiger Verfügung vom verboten. Außerdem ist der Kläger in Deutschland wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten, insbesondere wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Führens nicht versicherter Kraftfahrzeuge. Zuletzt wurde er im Dezember 2006 wegen Körperverletzung in fünf Fällen, begangen an seiner Ehefrau in den Jahren 2000 bis 2005 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Mit Bescheid vom wies die Beklagte den Kläger unter Anordnung des Sofortvollzugs aus, lehnte seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Die Ausweisung wurde auf die Regelausweisungsgründe des § 54 Nr. 5 und 6 AufenthG gestützt. Der Kläger sei Anhänger einer verbotenen Organisation und habe hierzu bei einer Sicherheitsbefragung in wesentlichen Punkten falsche bzw. unvollständige Angaben gemacht.

Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat der Verwaltungsgerichtshof im Januar 2006 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Klägers wieder hergestellt bzw. angeordnet und dies damit begründet, dass sich die Ausweisung voraussichtlich nicht auf die von der Beklagten herangezogenen Regelausweisungstatbestände stützen lasse.

Am wies das Regierungspräsidium Darmstadt den Widerspruch des Klägers zurück. In der Begründung hieß es, auch wenn kein Regelausweisungsgrund vorliege, sei die Ausweisung als Ermessensausweisung aufrechtzuerhalten. Der Kläger genieße zwar besonderen Ausweisungsschutz, es lägen jedoch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Es sei davon auszugehen, dass er Mitglied der verbotenen Kaplan-Vereinigung sei und auch ohne Verwirklichung eines gesetzlichen Regelfalls erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtige.

Die vom Kläger erhobene Klage, mit der er die Aufhebung der Bescheide und die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis begehrt, hatte beim Verwaltungsgericht und beim Verwaltungsgerichtshof keinen Erfolg. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Regelausweisung lägen zwar nicht vor, die Widerspruchsbehörde habe die Ausweisung aber zu Recht auf § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gestützt. Der Kläger sei zumindest Unterstützer der verbotenen Organisation "Kalifatstaat" und des ihr zuzurechnenden Mitgliedsvereins Ümmet-Moschee. Sein Name finde sich auf einer bei einem Vorstandsmitglied im September 2002 aufgefundenen Mitgliederliste des Vereins. Ferner seien in der Wohnung des Klägers im Dezember 2003 dem "Kalifatstaat" zuzurechnende Zeitschriften sichergestellt worden. Nach der Verbotsverfügung richte sich die Vereinigung gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung und gefährde die innere Sicherheit und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland. Durch die auch nach der bestandskräftigen Verbotsverfügung fortgesetzte weitere Unterstützung der Vereinigung und die strafrechtlichen Verurteilungen habe der Kläger den Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verwirklicht. Zwar genieße er nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz. In dem fortgesetzten Verstoß gegen die bestandskräftige Verbotsverfügung in Verbindung mit den hartnäckigen, von Uneinsichtigkeit geprägten Straftaten im unteren Bereich der Kriminalität lägen aber schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Dem stehe nicht entgegen, dass die Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht eingreife. Schwerwiegende Gründe könnten auch außerhalb des Bereichs von Straftaten gegeben sein und vorliegen, wenn jemand als passives oder einfaches Mitglied einem in § 54 Nr. 7 AufenthG genannten Verein angehöre. Die Ermessenserwägungen der Widerspruchsbehörde seien nicht zu beanstanden. Sie habe gegenwärtig vorliegende schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgestellt und sei bei der Ermessensausübung von einem gegenwärtigen erheblichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Ausweisung ausgegangen. Diese Einschätzung habe die Behörde durch die von ihr in das gerichtliche Verfahren eingeführte Verurteilung vom Dezember 2006 untermauert. In der kommentarlosen Übersendung des Urteils an das Verwaltungsgericht sei eine statthafte Ergänzung der Ermessenserwägungen zu sehen. Diese Verurteilung stelle die Verbindung her zu der in der Ausweisungsverfügung festgestellten verfassungsfeindlichen Einstellung des Klägers. Sie zeige, dass nicht nur seine gedankliche Einstellung, sondern auch sein Handeln nicht mit Grundsätzen der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der unbedingten Achtung der Menschenwürde, vereinbar sei. Schon die Widerspruchsbehörde habe festgestellt, dass der Kläger seine Frau wie sein persönliches Eigentum behandle. Aus der Verurteilung ergebe sich, dass er sie mehrfach und in entwürdigender Art und Weise misshandelt habe. Die gegenläufigen privaten Interessen des Klägers seien in die Ermessensausübung eingestellt worden. Nachdem er von seiner Familie getrennt lebe, habe er hinsichtlich der Berücksichtigung seiner familiären Situation im Hauptsacheverfahren keine Rügen mehr erhoben.

Mit der Revision wendet sich der Kläger in materieller Hinsicht gegen die Annahme schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die ihm vorgeworfenen verfassungsfeindlichen Bestrebungen lägen unterhalb der strafrechtlichen Schwelle und seien den Regelausweisungsgründen nicht gleichzustellen. Auch habe das Berufungsgericht zu Unrecht in der kommentarlosen Übersendung der letzten Verurteilung eine statthafte Ergänzung der Ermessenserwägungen gesehen. Außerdem rügt er Verfahrensfehler.

Die Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses treten der Revision entgegen.

II

Die Revision ist begründet. Die Berufungsentscheidung beruht in materieller Hinsicht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht auf den richtigen Zeitpunkt abgestellt (1.). Dagegen ist die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung zum Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, deretwegen es die Revision zugelassen hat, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (2.). Auch die Verfahrensrügen haben keinen Erfolg (3.). Das Verfahren ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO), da für eine abschließende Entscheidung des Senats in der Sache keine ausreichenden Feststellungen getroffen sind (4.).

1.

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom (BGBl. I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich (vgl. BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 11 ff.). Damit hatte das Berufungsgericht, das ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, etwaige Änderungen, die in tatsächlicher Hinsicht bis zu seiner Entscheidung am eingetreten sind, zu berücksichtigen. Dies ist nicht geschehen. Die Berufungsentscheidung enthält keine Aussage zu dem ihrer Prüfung zugrunde gelegten Beurteilungszeitpunkt. Diesem Umstand ist zusammen mit dem Hinweis auf die Ermessenserwägungen der Widerspruchsbehörde und die im Widerspruchsbescheid festgestellten "gegenwärtigen" Ausweisungsgründe (BA S. 11) zu entnehmen, dass dem Berufungsgericht die kurz zuvor ergangene Rechtsprechung des Senats zur Verlagerung des Beurteilungszeitpunkts offensichtlich nicht bekannt war und damit nicht zur Anwendung gekommen ist.

2.

Die Auffassung des Berufungsgerichts, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG könnten auch in der Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen liegen, ohne dass die Regelausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5, 5a oder 7 AufenthG erfüllt sein müssen, steht dagegen im Einklang mit Bundesrecht.

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ermessensausweisung nach § 55 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt, er jedoch nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießt. Dies hat nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zur Folge, dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden kann. Der Senat legt den - bereits in § 48 AuslG 1990 und § 11 AuslG 1965 verwandten - Begriff in ständiger Rechtsprechung an den Ausweisungszwecken orientiert dahin aus, dass das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers vor Ausweisung ein deutliches Übergewicht haben muss. Ob ein Verstoß diesen Tatbestand erfüllt, ist im Wesentlichen eine Frage des Einzelfalls und unterliegt voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG 1 C 24.94 - BVerwGE 101, 247 <253> m.w.N.).

Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG vor. Diese - durch das Änderungsgesetz 1997 in das Ausländergesetz eingefügte und auf Anregung des Vermittlungsausschusses in das Aufenthaltsgesetz übernommene und dabei auf die Regelausweisungsgründe des § 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG ausgeweitete (vgl. BTDrucks 15/3479 S. 9) - gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen (vgl. BVerwG 1 C 25.03 - BVerwGE 121, 356 <362> ).

Erfüllt ein Ausländer, der besonderen Ausweisungsschutz genießt, keinen der in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aufgeführten Ist- oder Regelausweisungsgründe, steht dies einer Ausweisung im Ermessenswege nicht entgegen. In diesem Fall fehlt es lediglich an einer gesetzlichen Vermutung für die Annahme schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung können aber auch bei Vorliegen eines sonstigen (Regel- oder Ermessens-)Ausweisungsgrundes gegeben sein (vgl. BTDrucks 13/4948 S. 9). Erforderlich ist jedoch, dass dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt. Dieses kann sich etwa bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit ergeben. Erfolgt die Ausweisung - wie hier - aus spezialpräventiven Gründen, müssen zudem Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Eine lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Störungen genügt nicht (vgl. Urteil vom a.a.O. m.w.N.). In Fällen mittlerer und schwerer Kriminalität sind die Voraussetzungen für eine spezialpräventive Ausweisung grundsätzlich zu bejahen (vgl. BVerwG 1 B 221.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 5).

Diese Grundsätze gelten auch für die durch die Regelausweisungstatbestände des § 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG angesprochenen Gefahren. Auch ein von diesen Tatbeständen nicht erfasstes verfassungsfeindliches Verhalten kann im Einzelfall einen schwerwiegenden Ausweisungsgrund im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG darstellen. Hierbei muss es sich auch nicht zwingend um ein strafbares Verhalten handeln. Erforderlich ist nach der Rechtsprechung des Senats aber, dass dem konkreten Ausweisungsanlass bei Würdigung der gesamten Umstände des Falles im Hinblick auf das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein deutliches Übergewicht zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers zukommt. Ob hierfür schon allein die einfache Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung genügt, kann hier dahinstehen.

Denn jedenfalls ist angesichts der weiteren Umstände im Falle des Klägers von einem hinreichend gewichtigen Ausweisungsanlass auszugehen. Der "Kalifatstaat" richtet sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdet die innere Sicherheit und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland (zur Rechtmäßigkeit der Verbotsverfügung vgl. auch BVerwG 6 A 4.02 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 35). Der Kläger ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die im Revisionsverfahren nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen worden (vgl. unten 3.) und damit für den Senat bindend sind (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO), Mitglied der Organisation und hat diese nach dem bestandskräftigen Verbot weiter unterstützt und damit fortgesetzt gegen das Vereinsverbot verstoßen. Darüber hinaus ist er in erheblichem und sich steigerndem Maße in Deutschland straffällig geworden. Insbesondere seine letzte Verurteilung wegen Körperverletzung in fünf Fällen zeigt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, dass er mit den verfassungsfeindlichen Zielen der verbotenen Vereinigung "Kalifatstaat" nicht nur gedanklich sympathisiert.

Diese Verurteilung ist entgegen der Auffassung der Revision in die Prüfung einzubeziehen. Dies ergibt sich schon daraus, dass - wie oben ausgeführt - für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Kläger seine Ehefrau bei den der Verurteilung zugrunde liegenden Taten immer wieder in besonders entwürdigender Weise misshandelt. Hieraus hat das Berufungsgericht geschlossen, dass nicht nur die gedankliche Einstellung des Klägers, sondern auch sein Handeln nicht mit Grundsätzen der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der unbedingten Achtung der Menschenwürde vereinbar ist. Die Gewichtigkeit der Körperverletzungen ergibt sich im Übrigen auch aus den der festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Monaten zugrunde liegenden Einzelstrafen von jeweils sechs Monaten für jede einzelne Körperverletzung.

3.

Die mit der Revision erhobenen Verfahrensrügen haben keinen Erfolg. Sie genügen schon nicht den Anforderungen an die ordnungsgemäße Darlegung eines Verfahrensmangels (vgl. dazu im Einzelnen BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26).

Soweit die Revision im Zusammenhang mit der aufgefundenen Mitgliederliste und den sichergestellten Zeitschriften einen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör rügt, setzt sie sich nicht damit auseinander, dass schon die angegriffenen Bescheide sich auf diese Umstände stützten und damit ausreichend Gelegenheit bestand, sich hierzu zu äußern. Auch legt die Revision die der Sache nach gerügte Verletzung der Aufklärungspflicht in Bezug auf die verwertete Mitgliederliste nicht weiter dar. Ebenso wenig wird aufgezeigt, warum das Berufungsgericht die zwischenzeitliche Einstellung des Strafverfahrens nicht berücksichtigt haben soll, obwohl es in seiner Entscheidung ausdrücklich hervorhebt, dass auch außerhalb des Bereichs von Straftaten schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegeben sein können (BA S. 10). Soweit die Revision die vom Berufungsgericht aus den festgestellten Tatsachen gezogenen Schlussfolgerungen beanstandet, wendet sie sich der Sache nach gegen die den Tatsachengerichten vorbehaltene Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Ein Verfahrensfehler wird in diesem Zusammenhang nicht dargelegt. Ein solcher ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Umstand, dass das Berufungsgericht dem einstweiligen Rechtsschutzbegehren des Klägers stattgegeben hatte, zumal sich die Sachlage durch den Widerspruchsbescheid nachträglich geändert und das Berufungsgericht die Beteiligten vor seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass und warum es die Berufung für unbegründet erachtet.

4.

Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts kann der Senat die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verfügung nicht abschließend beurteilen. Durch die Verlagerung des für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit maßgeblichen Zeitpunkts sind bei der Anfechtung einer Ausweisung nunmehr auch während des gerichtlichen Verfahrens neu eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen. Das Berufungsgericht wird daher im Rahmen der ihm nach § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht zu entscheiden haben, ob die Ausweisung bezogen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung rechtmäßig ist.

Dabei hat es auch der Frage nachzugehen, ob der Kläger nicht schon die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Regelausweisung nach § 54 Nr. 5a Alt. 1 AufenthG erfüllt. Denn in diesem Fall lägen nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel die für die Überwindung des besonderen Ausweisungsschutzes notwendigen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Dann käme dem Ausweisungsanlass im Rahmen der nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG auf eine Ermessensausweisung herabgestuften Ausweisung ein entsprechendes Gewicht zu.

Nach § 54 Nr. 5a Alt. 1 AufenthG wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (vgl. hierzu BVerwG 1 C 5.93 - BVerwGE 96, 86 <91> und vom - BVerwG 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <120> ). In diesem Zusammenhang ist der Senat davon ausgegangen, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die ihrerseits wegen Gefährdung der inneren Sicherheit verboten werden kann, für sich genommen noch nicht ausreicht, sondern dass sich bei einer Betätigung für eine Vereinigung der vereinsrechtliche Verbotsgrund nach polizeirechtlichen Grundsätzen in der Person des Ausländers konkretisiert haben muss (vgl. Urteil vom a.a.O. S. 120 f.). Entsprechend begründet nach Auffassung des Senats auch das Fortbestehen der Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die wegen Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik verboten worden ist, für sich genommen in der Regel noch keine Gefährdung im Sinne des § 54 Nr. 5a AufenthG. Dies schließt eine andere Beurteilung bei Vorliegen besonderer Umstände nicht aus. Derartige Umstände können sich im Einzelfall etwa aus der Art und der Gefährlichkeit der verbotenen Vereinigung ergeben (etwa im Fall eines besonders hartnäckigen Zuwiderhandelns gegen die Verbotsverfügung).

In diesem Sinne wird das Berufungsgericht hier vor allem zu klären haben, ob vom Kläger wegen fortbestehender Verbindungen zu der verbotenen Vereinigung "Kalifatstaat" - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - eine gegenwärtige Gefährdung ausgeht. Dabei wird den bei den Akten befindlichen Hinweisen des Verfassungsschutzes auf eine mögliche Beteiligung des Klägers bei der Finanzierung der verbotenen Organisation (vgl. Stellungnahme des Landesamtes für Verfassungsschutz vom , Ausländerakte Bd. II Bl. 276 ff.) zumindest durch Einholung einer aktualisierten Auskunft nachzugehen sein. Auf dieser neuen Tatsachengrundlage wird sich das Berufungsgericht sodann eine eigene Überzeugung bilden müssen.

Kommt das Berufungsgericht hierbei zu dem Ergebnis, dass - bezogen auf den Zeitpunkt seiner neuen Entscheidung - der Regelausweisungsgrund des § 54 Nr. 5a AufenthG nicht vorliegt und/oder die daran anknüpfende gesetzliche Vermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG keine Anwendung findet, wird es im Rahmen des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG weiter festzustellen haben, ob beim Kläger außer dem sich aus seinem bisherigen Verhalten ergebenden hinreichend gewichtigen Ausweisungsanlass auch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht.

Des Weiteren wird das Berufungsgericht ggf. zu prüfen haben, ob die Verfügung der Beklagten - bezogen auf den Zeitpunkt seiner erneuten Entscheidung - ermessensfehlerfrei ist. Durch die Zeitpunktverlagerung sind bei der Anfechtung einer Ausweisung während des gerichtlichen Verfahrens bis zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt neu eingetretene Tatsachen - sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Ausländers - zu berücksichtigen. Dies wirkt sich auch auf die Ermessensentscheidung aus. Diese bedarf bei Änderungen während des gerichtlichen Verfahrens der Aktualisierung. Hieraus ergeben sich sowohl für den Ausländer als auch für die Ausländerbehörde entsprechende Mitwirkungspflichten. Sind bei der Anfechtung einer Ausweisung nunmehr auch während des gerichtlichen Verfahrens neu eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, ist es primär Aufgabe des Ausländers, auf etwaige zu seinen Gunsten eingetretene persönliche Umstände hinzuweisen. Hierzu wird der Kläger im neuen Berufungsverfahren Gelegenheit haben. Werden vom Ausländer während des gerichtlichen Verfahrens neue zu seinen Gunsten sprechende Tatsachen vorgetragen, hat das Gericht der Ausländerbehörde Gelegenheit zu geben, ihre Verfügung im Hinblick darauf zu überprüfen und ggf. der neuen Sachlage anzupassen. Hierdurch erhält die Ausländerbehörde die Möglichkeit, in Erfüllung ihrer Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle ihre Ermessenserwägungen in Anwendung der prozessualen Möglichkeit des § 114 Satz 2 VwGO im laufenden Verfahren zu aktualisieren (vgl. BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 20, und vom - BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <309 f.> und - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <319 f.> ). Eine Pflicht zur Aktualisierung der Ermessensentscheidung besteht aber auch, wenn der Ausländerbehörde auf anderem Wege neue erhebliche Tatsachen bekannt werden. Sprechen diese zu Gunsten des Ausländers für einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet, hat die Ausländerbehörde zu entscheiden, ob sie an ihrer Verfügung dennoch festhält und ihre Ermessenserwägungen der neuen Sachlage anpasst. Sprechen die neuen Tatsachen dagegen zu Lasten des Ausländers gegen einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet, genügt die Ausländerbehörde ihrer Pflicht zur Ermessensaktualisierung regelmäßig, wenn sie - wie hier mit der kommentarlosen Übersendung des neuen Strafurteils - das Gericht auf die neuen, ihre ursprüngliche Ermessensentscheidung bestätigenden Umstände hinweist.

Darüber hinaus wird sich das Berufungsgericht im neuen Berufungsverfahren damit auseinanderzusetzen haben, ob die Ausweisung des Klägers, der sich seit seinem 11. Lebensjahr im Bundesgebiet aufhält, bezogen auf den neuen Beurteilungszeitpunkt und unter Berücksichtigung des durch Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhältnismäßig ist (vgl. u.a. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946 und vom - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300; EGMR, Urteile vom - 54273/00, Boultif - InfAuslR 2001, 476 , vom - 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279 , vom - 42034/04, Emre - InfAuslR 2008, 336 und vom - 1638/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333).

Kommt das Berufungsgericht danach zu dem Ergebnis, dass die Ausweisung - bezogen auf den neuen Beurteilungszeitpunkt - nach nationalem Recht nicht zu beanstanden ist, wird es schließlich darüber zu entscheiden haben, ob sie auch etwaigen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben entspricht. Das Berufungsgericht hat bisher nicht festgestellt, ob der Kläger sich auf ein aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei - ARB 1/80 - abgeleitetes Aufenthaltsrecht berufen kann. Insoweit spricht nach Aktenlage einiges dafür, dass der Kläger über seine Eltern ein aus Art. 7 Abs. 1 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht erworben hat. Dies wird das Berufungsgericht abschließend zu prüfen haben. Eine etwaige Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 hätte der Kläger auch nicht durch die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet wieder verloren. Denn nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften führt die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit nicht zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80 (vgl. BVerwG 1 C 47.06 - BVerwGE 129, 162 <166> m.w.N.).

Sollte dem Kläger nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 ARB 1/80 ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zustehen, genießt er nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 Ausweisungsschutz und kann (nur) aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausgewiesen werden. Ohne Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof kann derzeit nicht abschließend entschieden werden, welche Anforderungen sich hieraus nach dem Außerkrafttreten der Richtlinie 64/221/EWG und dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2004/38/EG vom - sog. Unionsbürger-RL - ergeben (zu den Anforderungen an die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzt, unter Geltung der Richtlinie 64/221/EWG vgl. BVerwG 1 C 29.02 - a.a.O. S. 318 f.; zur hier nicht einschlägigen Übergangsproblematik vgl. , Polat - NVwZ 2008, 59 Rn. 23 ff.). Sollte es auf diese europarechtliche Zweifelsfrage hier entscheidungserheblich ankommen, kommt eine Aussetzung des Berufungsverfahrens in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO durch den Verwaltungsgerichtshof im Hinblick auf das bereits anhängige Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. Beschluss vom - 13 S 1917/07 - [...]) in Betracht.

Auf der Grundlage der neu vorzunehmenden Bewertung der Ausweisungsentscheidung wird das Berufungsgericht auch über das weitere Begehren des Klägers auf Verpflichtung der Beklagten zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung zu entscheiden haben.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Fundstelle(n):
EAAAD-15923