Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: GG Art. 6 Abs. 5
Instanzenzug: OLG Nürnberg, 7 U 481/07 vom
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die erbrechtliche Stellung eines vor dem nichtehelich geborenen Kindes.
I.
1.
Die Beschwerdeführerin ist am als nichteheliche Tochter des am verstorbenen Erblassers geboren. Über 50 Jahre nach ihrer Geburt hatten ihre Eltern am die beiderseits erste Ehe geschlossen. In einem Erbvertrag vom hatte der Erblasser seine Ehefrau zur nicht befreiten Vorerbin und die Schwester der Beschwerdeführerin zur alleinigen Nacherbin bestimmt. Nach dem Tod des Erblassers verlangte die Beschwerdeführerin von ihrer Mutter die Zahlung des Pflichtteils. Ihre Mutter erhob daraufhin Klage auf Feststellung, dass die Beschwerdeführerin keinen Pflichtteilsanspruch nach dem Tod des Vaters habe. Nachdem die Mutter am ebenfalls verstorben war und die Schwester der Beschwerdeführerin den Rechtsstreit übernommen hatte, erhob die Beschwerdeführerin Widerklage auf Zahlung eines Pflichtteils in Höhe von 55.786,60 EUR wegen des Todes des Vaters. Die Klage erklärten die Parteien daraufhin übereinstimmend für erledigt.
Das Landgericht wies die Widerklage durch Endurteil ab. Die Beschwerdeführerin habe kein Pflichtteilsrecht. Denn vor dem geborene nichteheliche Kinder seien nach dem gemäß Art. 12 § 10 Abs. 2 des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (im Folgenden: NEhelG) vom (BGBl. I S. 1243) anwendbaren § 1589 Abs. 2 BGB a.F. nicht mit dem Vater verwandt. Diese Regelung habe das Bundesverfassungsgericht für verfassungsgemäß erachtet (vgl. BVerfGE 44, 1). Durch die Heirat der Eltern sei die Beschwerdeführerin nicht zum ehelichen Kind geworden, weil § 1719 BGB a.F., der die Legitimation durch nachfolgende Ehe regelte, durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsrechtsreformgesetz - KindRG) vom (BGBl. I S. 2942) zum aufgehoben worden und damit zum Zeitpunkt der Heirat der Eltern am bereits außer Kraft gewesen sei. Eine Weitergeltung der Vorschrift erachte das Gericht auch aus Billigkeitsgründen nicht für erforderlich, da durch die Einführung von Art. 12 § 10a NEhelG die Anwendung des Art. 12 § 10 NEhelG durch Vereinbarung ausgeschlossen werden könne. Eine derartige Vereinbarung sei jedoch nicht geschlossen worden. Auch mit der Streichung der §§ 1934a ff. BGB a.F. durch das Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder (Erbrechtsgleichstellungsgesetz - ErbGleichG) vom (BGBl. I S. 2968) habe sich die Stellung der Beschwerdeführerin nicht geändert.
Auf die dagegen eingelegte Berufung wies das Oberlandesgericht darauf hin, dass der Senat beabsichtige, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Das Landgericht gehe zutreffend davon aus, dass Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG vor dem geborene nichteheliche Kinder insgesamt vom Erbrecht und damit auch vom Pflichtteilsrecht ausschließe. Zu den "bisher geltenden Vorschriften", die für erbrechtliche Verhältnisse dieser Kinder weiter anzuwenden seien, gehöre § 1719 BGB a.F. nicht, da er erst mit Wirkung vom in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen worden sei. Ziel des "Reformgesetzes 1998" sei es zwar gewesen, die nichtehelichen Kinder den ehelichen gleichzustellen. Dieses Ziel habe der Gesetzgeber jedoch nicht uneingeschränkt verfolgt. Er habe es abgelehnt, die vor dem geborenen Kinder ebenfalls gleichzustellen, weshalb Art. 12 § 10a NEhelG auch nur als Angebot an den künftigen Erblasser verstanden werden könne, durch eigene vertragliche Regelung für eine Gleichstellung zu sorgen. Mangels Regelungslücke scheide eine analoge Anwendung von Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG aus.
Auf die Stellungnahme der Beschwerdeführerin führte das Oberlandesgericht in einem ergänzenden Hinweis aus, § 1719 BGB a.F. könne nicht zur Stützung des Anspruchs herangezogen werden. Denn er sei zum aufgehoben, die Ehe aber erst am geschlossen worden und nach der Übergangsvorschrift des Art. 227 Abs. 1 EGBGB gelte er nur noch für die vor dem eingetretenen Erbfälle. Als Ausgleich für den Wegfall der Legitimationswirkung sei Art. 12 § 10a NEhelG eingefügt worden. Mit den "bisher geltenden Vorschriften" in Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG sei ersichtlich nicht § 1719 BGB a.F. gemeint, weil diese Vorschrift erst 28 Jahre später aufgehoben worden sei. Die Frage der Legitimation nach § 1719 BGB a.F. spiele im Zusammenhang mit dem NEhelG keine Rolle. Auch eine teleologische Auslegung führe zu keinem anderen Ergebnis. Die unterschiedliche Behandlung nichtehelicher Kinder je nach dem, ob sie vor oder nach dem Stichtag des geboren seien, sei gewollt.
Unter Bezugnahme auf beide Hinweise wies das Oberlandesgericht die Berufung durch Beschluss vom , zugegangen am , zurück.
2.
Mit ihrer per Telefax ohne Anlagen am und im Original mit Anlagen am eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den und rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 5 GG sowie sinngemäß des aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Justizgewährleistungsanspruchs. Das Oberlandesgericht habe § 522 Abs. 2 ZPO willkürlich angewandt, um das Verfahren zu beenden. Die Auslegung des Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG durch das Oberlandesgericht führe zu einer Art. 6 Abs. 5 GG verletzenden Schlechterstellung vor dem nichtehelich geborener Kinder. Hinsichtlich der Versäumung der Begründungsfrist hat die Beschwerdeführerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
3.
Der Freistaat Bayern und die Gegnerin des Ausgangsverfahrens erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mitgeteilt, dass er mit der Frage, ob vor dem nichtehelich geborene Kinder auch dann erbrechtlich wie eheliche Kinder zu behandeln seien, wenn ihre Eltern erst nach dem miteinander die Ehe geschlossen hätten, bislang nicht befasst gewesen sei.
II.
1.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 5 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.
a)
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, obwohl die Anlagen, insbesondere die angegriffene Entscheidung und die vorangegangenen Hinweise des Oberlandesgerichts, erst nach Fristablauf am beim Bundesverfassungsgericht eingegangen sind.
Der Beschwerdeführerin ist hinsichtlich der gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG versäumten Frist zur Begründung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der auf dem Briefumschlag befindliche Poststempel stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit vom . Deshalb ist davon auszugehen, dass die Verfassungsbeschwerde samt Anlagen so rechtzeitig aufgegeben wurde, dass sie bei gewöhnlicher Postlaufzeit vor Fristablauf beim Bundesverfassungsgericht eingegangen wäre. Die Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Post AG kann der Beschwerdeführerin nicht als Verschulden zugerechnet werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 762/99 -, NJW-RR 2000, S. 726).
b)
Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 GG rügt.
Es bedarf keiner Entscheidung, ob bereits die der mangelnden Erfolgsaussicht der Berufung zugrunde gelegte Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts, § 1719 BGB a.F. sei erst im Jahr 1977 in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen worden und gelte nach der Übergangsvorschrift des Art. 227 Abs. 1 EGBGB lediglich noch für die vor dem eingetretenen Erbfälle, einfachrechtlich vertretbar ist oder einen Verfassungsverstoß begründet, weil sie sachlich nicht zu rechtfertigen und deswegen willkürlich ist. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist jedenfalls wegen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich zu beanstanden.
aa)
Gemäß Art. 6 Abs. 5 GG sind den nichtehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Art. 6 Abs. 5 GG enthält die Wertentscheidung, dass ein Kind nicht wegen seiner nichtehelichen Geburt benachteiligt werden darf (vgl. BVerfGE 17, 148 <154>). Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 5 GG beinhaltet insoweit eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes (vgl. BVerfGE 3, 225 <240>; 17, 280 <283 f.>; 26, 206 <210>; 44, 1 <18>; 84, 168 <184 f.>).
Der in erster Linie an den Gesetzgeber gerichtete Auftrag aus Art. 6 Abs. 5 GG ist auch von der Rechtsprechung bei der Anwendung des geltenden Rechts zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 8, 210 <217>; 26, 44 <63 f.>; 26, 265 <277>; 96, 56 <65>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1988/95 -, NJW 1999, S. 3112). Die praktische Bedeutung der Bindung der Gerichte an Art. 6 Abs. 5 GG besteht darin, dass die in der Verfassungsnorm ausgeprägte Wertauffassung bei der den Gerichten anvertrauten Interessenabwägung und vor allem bei der Interpretation der einfachen Gesetze zugrunde zu legen ist (vgl. BVerfGE 8, 210 <217>; BVerfGK 2, 136 <138>).
Die in Art. 6 Abs. 5 GG enthaltene verfassungsrechtliche Wertentscheidung kann nicht nur verfehlt sein, wenn nichteheliche Kinder im Verhältnis zu den ehelichen Kindern schlechter gestellt werden, sondern auch, wenn einzelne Gruppen nichtehelicher Kinder im Verhältnis zu anderen Gruppen mittelbar schlechter gestellt werden (BVerfGE 22, 163 <172>; 44, 1 <18>). Außerdem gebietet sie nicht nur, bei der Auslegung und Anwendung des Rechts dem Ziel des Art. 6 Abs. 5 GG soweit wie möglich Rechnung zu tragen, sie verbietet grundsätzlich auch eine Verschlechterung der bisherigen Rechtssituation nichtehelicher Kinder (vgl. BVerfGE 26, 44 <63 f.>; 26, 265 <277>).
bb)
Die angegriffene Entscheidung hält gemessen hieran einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Dem Oberlandesgericht war es aufgrund von Art. 6 Abs. 5 GG verwehrt, der Berufung die Erfolgsaussicht abzusprechen und sie gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Wäre die Übergangsvorschrift des Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG ohne Berücksichtigung des § 1719 BGB a.F. anzuwenden, wäre die Beschwerdeführerin gegenüber denjenigen vor dem nichtehelich geborenen Kindern benachteiligt, deren Eltern vor dem miteinander die Ehe geschlossen haben. Denn zugunsten dieser Kinder entfaltete § 1719 BGB a.F. mit dem Zeitpunkt der Eheschließung seine Legitimationswirkung. Damit sind diese nichtehelich geborenen Kinder auch erb- und pflichtteilsberechtigt, ohne dass es auf Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG ankommt, weil diese Vorschrift jedenfalls keine Anwendung findet, wenn die Eltern nichtehelicher Kinder vor dem geheiratet haben. Für vor dem nichtehelich geborene Kinder hätte sich also - nach der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts - mit Abschaffung der Legitimationsmöglichkeit ihre Rechtslage verschlechtert, soweit ihre Eltern nach dem miteinander die Ehe geschlossen haben.
Ungeachtet der dargestellten Verbote der Differenzierung und der Verschlechterung der bisherigen Rechtssituation nichtehelicher Kinder steht dieser Rechtsfolge auch der Zweck des Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts, im Rahmen dessen die Aufhebung des § 1719 BGB a.F. mit Wirkung zum erfolgte (vgl. Art. 1 Nr. 48 und Art. 17 § 1 KindRG), entgegen. Dieses hatte das ausdrückliche Ziel, die rechtlichen Unterschiede zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern, die in Teilbereichen noch bestanden, so weit wie möglich abzubauen (vgl. unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 5 GG und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks 13/4899, S. 76). § 1719 BGB a.F. wurde infolge davon als nicht mehr erforderlich angesehen (vgl. BTDrucks 13/4899, S. 70 und S. 116). Damit lässt sich die Interpretation der gesetzlichen Vorschriften in der angegriffenen Entscheidung nicht in Einklang bringen.
Der Verweis auf die in Art. 12 § 10a NEhelG durch das ErbGleichG geschaffene Möglichkeit einer notariellen Vereinbarung zum Ausschluss des Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG vermag einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 GG nicht zu vermeiden. Die Beteiligung des vor dem geborenen Kindes am Nachlass hängt danach vom Willen des Vaters ab, eine Vereinbarung zu schließen, ohne dass das nichteheliche Kind darauf einen Anspruch hätte. Der Erblasser hatte jedoch mit der Beschwerdeführerin keine entsprechende Vereinbarung geschlossen, die ihr ein Erb- oder Pflichtteilsrecht gewähren würde.
Die angegriffene Entscheidung verletzt daher die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 5 GG, ohne dass ihre Geburt vor dem dem entgegenstünde (vgl. zur Stichtagsregelung BVerfGE 44, 1).
2.
Die Entscheidung vom , die auf dem dargestellten Verfassungsverstoß beruht, ist aufzuheben; die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Wie eine mit Art. 6 Abs. 5 GG zu vereinbarende Lösung zu finden ist, gibt das Grundgesetz nicht vor. Es bleibt daher dem Oberlandesgericht überlassen, ob es etwa im Wege einer verfassungskonformen Auslegung die Beschwerdeführerin aufgrund der nachfolgenden Ehe ihrer Eltern nicht als "nichteheliches" Kind im Sinne des Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG ansieht, § 1719 BGB a.F. unter die "bisherigen Vorschriften" gemäß Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG fasst oder eine analoge Anwendung dieser Norm erneut prüft.
3.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswertes auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
DNotZ 2009 S. 548 Nr. 7
NJW 2009 S. 1065 Nr. 15
YAAAD-05427