BGH Beschluss v. - KVR 30/08

Leitsatz

[1] a) Das Vollzugsverbot des § 41 Abs. 1 GWB gilt für alle angemeldeten Zusammenschlussvorhaben, gleichgültig ob die formellen und materiellen Voraussetzungen für die Untersagung des Zusammenschlusses vorliegen.

b) Untersagt das Bundeskartellamt ein Zusammenschlussvorhaben, gilt das Vollzugsverbot des § 41 Abs. 1 GWB fort, bis die Untersagungsverfügung bestandskräftig geworden oder rechtskräftig aufgehoben worden ist.

c) Beantragen die Zusammenschlussbeteiligten nach Anfechtung der Untersagungsverfügung eine Befreiung vom Vollzugsverbot (§ 41 Abs. 2 GWB), hat hierüber das Beschwerdegericht im Rahmen seiner Zuständigkeit für den Erlass einstweiliger Anordnungen (§ 64 Abs. 3 Satz 1, § 60 Nr. 1 GWB) zu befinden. An die Befreiung stellt das Gesetz deutlich höhere Anforderungen als an die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 65 Abs. 3 Satz 2 i.V. mit Satz 1 Nr. 2 und 3 GWB.

d) Bei der Anwendung der Bagatellmarktklausel des § 35 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB bleiben Märkte außer Betracht, bei denen von vornherein abzusehen ist, dass der Zusammenschluss dort nicht zur Erlangung oder zur Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung eines Zusammenschlussbeteiligten führen wird.

Gesetze: GWB § 35 Abs. 2; GWB § 35 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2; GWB § 41; GWB § 41 Abs. 1; GWB § 41 Abs. 2; GWB § 60; GWB § 64 Abs. 3; GWB § 64 Abs. 3 Satz 1; GWB § 65 Abs. 3 Satz 3

Instanzenzug: OLG Düsseldorf, Kart 18/07 V vom

Gründe

I.

Die Betroffene zu 1 (nachfolgend Faber) ist ein Straßen- und Tiefbauunternehmen mit Tätigkeitsschwerpunkt im Umfeld von Schlierschied im Hunsrück. Sie gehört zur Faber-Gruppe, die nicht nur im Straßen- und Tiefbau, sondern auch in den Bereichen Hochbau, Erdbewegungen, Steinbrüche, Asphalt, Handel und Dienstleistungen tätig ist. Die Betroffene zu 2 (nachfolgend Basalt) ist Deutschlands größte Herstellerin von Asphaltmischgut und die größte Betreiberin von Steinbrüchen. Basalt gehört zur Werhahn-Gruppe, die schwerpunktmäßig auf dem Gebiet der Baustoffherstellung tätig ist. Zu den zahlreichen Tochtergesellschaften der Werhahn-Gruppe gehört auch die Werhahn & Nauen OHG. Diese ist mit einem Anteil von 50% an der AMK Asphaltmischwerk Kirchheimbolanden GmbH & Co. KG (nachfolgend AMK Kirchheimbolanden) beteiligt, die ein Asphaltmischwerk in Kirchheimbolanden betreibt. Die anderen 50% an der Gesellschaft hält ein Unternehmen der Faber-Gruppe.

Faber beabsichtigt, von Basalt Beteiligungen in Höhe von jeweils 30% an der neu zu gründenden Gesellschaft AML Asphaltmischwerk Langenthal GmbH & Co. KG mit Sitz in Langenthal (nachfolgend AML Langenthal) und der zugehörigen Komplementärgesellschaft AML Asphaltmischwerk Langenthal Verwaltungsgesellschaft mbH, Langenthal, zu erwerben. Die AML Langenthal soll nach Vollzug des Zusammenschlusses das derzeit von Basalt betriebene Asphaltmischwerk Langenthal betreiben. Langenthal ist etwa 35 km von Kirchheimbolanden entfernt.

Die Betroffenen (Faber und Basalt) haben den Zusammenschluss beim Bundeskartellamt angemeldet. Das Bundeskartellamt hat den Zusammenschluss untersagt, weil das Vorhaben die marktbeherrschende Stellung der Werhahn-Gruppe auf dem Regionalmarkt für Asphaltmischgut in Langenthal aufgrund eines verbesserten Zugangs zu den Absatzmärkten für Asphaltmischgut verstärken werde.

Gegen diesen Beschluss haben die Betroffenen Beschwerde eingelegt. Auf ihren Antrag hat das Beschwerdegericht die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen den Beschluss des Bundeskartellamts vom angeordnet (§ 65 Abs. 3 Satz 3 GWB). Mit der - vom Beschwerdegericht zugelassenen - Rechtsbeschwerde begehrt das Bundeskartellamt die Aufhebung des Beschlusses des Beschwerdegerichts und die Verwerfung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

II.

Das Beschwerdegericht hat die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung bejaht. Es hat angenommen, dass einem Antrag nach § 65 Abs. 3 Satz 3 GWB nicht die von ihm als abschließend angesehene Regelung des § 41 Abs. 2 GWB entgegenstehe, da deren Anwendungsbereich nicht eröffnet sei. § 41 GWB gelte nur für Vorhaben im Geltungsbereich der Zusammenschlusskontrolle (§ 35 GWB). Weil von dem Zusammenschluss lediglich ein Bagatellmarkt betroffen sei, falle das Vorhaben nicht unter die Zusammenschlusskontrolle.

III.

Die Rechtsbeschwerde des Bundeskartellamts hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

1.

Zu Unrecht hat das Beschwerdegericht den auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gerichteten Antrag der Betroffenen nach § 65 Abs. 3 Satz 3 GWB als statthaft angesehen. Im Verfahren der Zusammenschlusskontrolle ergibt sich das Vollzugsverbot, von dem die Betroffenen allein unter den Voraussetzungen des § 41 Abs. 2 GWB befreit werden können, bereits aus der gesetzlichen Bestimmung des § 41 Abs. 1 GWB; für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde ist daher kein Raum (hierzu a). Dies gilt auch im Streitfall; denn nach Anmeldung des Zusammenschlusses kann die Geltung des Vollzugsverbots des § 41 Abs. 1 GWB entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts nicht mit der Begründung verneint werden, der Zusammenschlusstatbestand sei nicht erfüllt (hierzu b).

a)

Mit Recht ist das Beschwerdegericht davon ausgegangen, dass § 41 GWB eine abschließende Regelung darüber trifft, ob ein angemeldeter Zusammenschluss vollzogen werden darf oder nicht.

Das System des einstweiligen Rechtsschutzes im Kartellverwaltungsverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass der Beschwerde gegen die Entscheidung der Kartellbehörde zwar nur ausnahmsweise aufschiebende Wirkung zukommt (§ 64 Abs. 1 GWB), dass die aufschiebende Wirkung aber unter anderem schon dann auf Antrag angeordnet werden kann, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen (§ 65 Abs. 3 Satz 3).

Für das Verfahren der präventiven Zusammenschlusskontrolle, für dessen ausschließliche Anwendung sich der Gesetzgeber der 6. GWB-Novelle entschieden hat, enthält das Gesetz im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die regelmäßig im Zusammenhang mit der Entflechtung eines vollzogenen Zusammenschlusses entstehen, eine abweichende Regelung (vgl. KG WuW/E OLG 2571 f.; Karsten Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 4. Aufl., § 65 Rdn. 10; Kollmorgen in Langen/Bunte, Kartellrecht, 10. Aufl., § 65 GWB Rdn. 11; Birmanns in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Stand: Sept. 2008, § 64 Rdn. 42; Zimmer/ Logemann, ZWeR 2008, 128 f.). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass schon während des Verfahrens vor dem Bundeskartellamt ein Vollzugsverbot gilt, von dem nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 41 Abs. 2 GWB eine Befreiung erteilt werden kann. Dieses Vollzugsverbot besteht - wenn sich das Verfahren nicht durch Ablauf der in § 40 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 GWB gesetzten Fristen erledigt - bis zur Freigabe des Zusammenschlusses durch das Bundeskartellamt. Auch wenn das Bundeskartellamt den Zusammenschluss untersagt, gilt das Vollzugsverbot des § 41 Abs. 1 GWB fort (vgl. OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 2069, 2071 f. mit zutreffendem Hinweis auf die Gesetzesgeschichte; ferner Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker aaO § 41 Rdn. 10; Ruppelt in Langen/Bunte aaO § 41 GWB Rdn. 1; MünchKomm.GWB/Mäger, § 41 Rdn. 17). Erst wenn die Untersagungsverfügung bestandskräftig geworden oder rechtskräftig aufgehoben worden ist, endet die Wirkung des (vorläufigen) Vollzugsverbots.

Mit dieser Regelung sollen nachträglich schwer oder überhaupt nicht mehr zu korrigierende Verschlechterungen der strukturellen Wettbewerbsbedingungen durch anmeldepflichtige Zusammenschlüsse bis zur Feststellung ihrer Unbedenklichkeit durch das Bundeskartellamt verhindert werden (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs zur 4. GWB-Novelle, BT-Drucks. 8/2136, S. 23; KG WuW/E OLG 2571, 2572).

b)

Das Beschwerdegericht hat dennoch angenommen, das Vollzugsverbot des § 41 Abs. 1 GWB entfalte im Streitfall keine Wirkung; auf das angemeldete Zusammenschlussvorhaben der Betroffenen finde nämlich entgegen der Auffassung des Bundeskartellamts die Bagatellmarktklausel des § 35 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB Anwendung. Gegen diese Auffassung wendet sich die Rechtsbeschwerde mit Erfolg.

aa)

Unbegründet ist allerdings der Einwand der Rechtsbeschwerde, das Beschwerdegericht habe in diesem Zusammenhang fälschlich auf den Markt für Asphaltmischgut statt auf den Markt für Straßenbauleistungen abgestellt. Auf diesem räumlich erheblich weiter abzugrenzenden Markt, auf dem wesentlich höhere Umsätze - ca. 700 Millionen Euro, wenn man diesen Markt mit den Grenzen des Landes Rheinland-Pfalz definiert - erzielt werden, ist Faber zwar tätig. Es steht aber von vornherein außer Zweifel, dass die materiellen Voraussetzungen der Zusammenschlusskontrolle auf diesem Markt nicht gegeben sind, weil Faber auf diesem Markt weit von einer beherrschenden Stellung entfernt ist. Dies ist im Rahmen einer Grobsichtung auch bereits bei dem Aufgreifkriterium des § 35 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB zu beachten: Ist von vornherein abzusehen, dass sich die Wettbewerbsverhältnisse auf einem Markt - wie hier auf dem Markt für Straßenbauleistungen - durch das Zusammenschlussvorhaben nicht in der Weise verändern werden, dass eines der am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung erlangt oder in einer bereits bestehenden marktbeherrschenden Stellung verstärkt wird, ist ein solcher Markt nicht betroffen i.S. von § 35 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB.

bb)

Aber auch wenn mit dem Beschwerdegericht auf den Markt für Asphaltmischgut abgestellt wird, kann die Anwendung des Vollzugsverbots des § 41 Abs. 1 nicht mit der Begründung verneint werden, es handele sich dabei um einen Bagatellmarkt i.S. von § 35 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB, so dass der Zusammenschlusstatbestand nicht erfüllt sei. § 41 Abs. 1 GWB ist in der Weise auszulegen, dass das Vollzugsverbot für alle angemeldeten Zusammenschlussvorhaben gilt, gleichgültig ob letztlich die formellen und materiellen Voraussetzungen für die Untersagung des Zusammenschlusses vorliegen.

Darüber, ob die sogenannten Aufgreifkriterien vorliegen - ob also die Umsatzgrenzen des § 35 überschritten und die Voraussetzungen des Zusammenschlusstatbestandes des § 37 GWB erfüllt sind -, bestehen häufig unterschiedliche Auffassungen. Nicht selten ist die Frage, ob es sich bei dem angemeldeten Vorhaben um einen Zusammenschluss i.S. des § 37 GWB handelt, der wesentliche Streitpunkt, mit dem die Untersagungsverfügung steht oder fällt. Ebenso verhält es sich mit der Bagatellmarktklausel, deren Anwendung häufig von der Marktabgrenzung und - wenn von dem Zusammenschluss mehrere kleine Märkte betroffen sind - davon abhängt, ob die auf diesen Märkten erzielten Umsätze nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zusammengerechnet werden können.

Eine Antwort auf diese Frage lässt sich in derartigen Fällen erst nach Abschluss des behördlichen Verfahrens und eventueller Rechtsmittelverfahren geben. Auch im Streitfall muss die Frage, ob die Bagatellmarktklausel Anwendung findet oder nicht, im Beschwerde- und gegebenenfalls im Rechtsbeschwerdeverfahren geklärt werden. Könnten angemeldete Vorhaben unter Berufung darauf vollzogen werden, dass die Voraussetzungen des Zusammenschlusstatbestands nicht erfüllt seien, müsste damit gerechnet werden, dass - entgegen der eindeutigen Zielsetzung des Gesetzes - in vielen Fällen aufgrund des vorweggenommenen Vollzugs strukturelle Verschlechterungen der Wettbewerbsbedingungen einträten, die auch durch eine spätere Entflechtung nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Es ist gerade das Wesen des vorläufigen Vollzugsverbots, dass das angemeldete Vorhaben ungeachtet der Frage, ob es letztlich untersagt werden kann oder nicht, während des laufenden Fusionskontrollverfahrens grundsätzlich nicht vollzogen werden darf. Für die Anwendung dieses vorläufigen Verbots kann nicht eine Frage maßgebend sein, die in dem laufenden Verfahren, für deren Dauer das Vollzugsverbot gilt, erst geklärt werden soll. Vielmehr ist allein auf den ohne weiteres zu bestimmenden Umstand abzustellen, dass das Vorhaben angemeldet worden ist.

2.

Die angefochtene Entscheidung des Beschwerdegerichts kann unter diesen Umständen keinen Bestand haben. Der von den Betroffenen begehrte einstweilige Rechtsschutz kann ausschließlich im Wege einer Befreiung vom Vollzugsverbot nach § 41 Abs. 2 GWB erreicht werden. Einen entsprechenden Antrag haben die Betroffenen bislang nicht ausdrücklich gestellt. Gleichwohl sieht sich der Senat nicht in der Lage, die gestellten Anträge zu verwerfen. Denn das Begehren der Betroffenen kann unter Umständen in der Weise ausgelegt werden, dass sie zumindest hilfsweise eine einstweilige Anordnung nach § 64 Abs. 3 Satz 1 i.V. mit § 60 GWB beantragen, mit der das Beschwerdegericht eine Befreiung vom Vollzugsverbot des § 41 Abs. 1 GWB erteilt. Entgegen der bereits in einem früheren Beschluss geäußerten Auffassung des Beschwerdegerichts kommt eine solche Anordnung des Beschwerdegerichts in Betracht.

a)

Das Beschwerdegericht hat sich in seinem "Phonak/ReSound"-Beschluss vom (OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 2069) ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Befreiung vom Vollzugsverbot des § 41 Abs. 1 GWB ausschließlich vom Bundeskartellamt erteilt werden kann oder ob diese Befugnis im Beschwerdeverfahren auf das Beschwerdegericht übergeht. Bis zur Umgestaltung der Bestimmungen über die Zusammenschlusskontrolle im Zuge der 6. GWB-Novelle war eine entsprechende Befugnis in Ermangelung einer ausdrücklichen Regelung über die Befreiung vom Vollzugsverbot, wie sie heute in § 41 Abs. 2 GWB zu finden ist, daraus hergeleitet worden, dass das Bundeskartellamt im Fusionskontrollverfahren einstweilige Anordnungen treffen kann (§ 56 Nr. 3 GWB a.F., § 60 Nr. 1 GWB n.F.). War bereits eine Untersagungsverfügung ergangen und dagegen Beschwerde eingelegt worden, hatte das Kammergericht diese Befugnis zur Befreiung vom Vollzugsverbot unter Hinweis darauf, dass die Kompetenz zum Erlass von einstweiligen Anordnungen auf das Beschwerdegericht übergeht (§ 63 Abs. 3 GWB a.F., § 64 Abs. 3 Satz 1 GWB n.F.), für sich in Anspruch genommen (KG WuW/E OLG 2419, 2420; WuW/E OLG 2571, 2572). Dabei hatte es aber sachlich hohe Anforderungen an eine Befreiung vom Vollzugsverbot gestellt (KG WuW/E OLG 2419). Das Beschwerdegericht hat sich daran gehindert gesehen, diese Rechtsprechung auf die Rechtslage ab der 6. GWB-Novelle zu übertragen. Vielmehr habe der Gesetzgeber mit der neuen Vorschrift des § 41 Abs. 2 GWB eine eigenständige Grundlage für die Befreiung vom Vollzugsverbot geschaffen, die eine entsprechende Befugnis nur dem Bundeskartellamt zuweise und für einstweilige Anordnungen nach § 60 GWB keinen Raum lasse. Dementsprechend könne auch dem Beschwerdegericht nach § 64 Abs. 3 Satz 1 GWB keine solche Befugnis zukommen (OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 2069, 2071 ff.).

b)

Demgegenüber wird in der Literatur überwiegend die Auffassung vertreten, das Beschwerdegericht sei nach Anfechtung einer Untersagungsverfügung nach § 40 Abs. 2 GWB befugt, im Wege der einstweiligen Anordnung die Befreiung vom Vollzugsverbot unter den in § 41 Abs. 2 GWB genannten Voraussetzungen zu erteilen (Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker aaO § 41 Rdn. 24 und 31; Karsten Schmidt ebd. § 60 Rdn. 20; Mäger in MünchKomm.GWB, § 41 Rdn. 29; Bechtold, GWB, 5. Aufl., § 60 Rdn. 4a und § 64 Rdn. 10; Birmanns in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht aaO § 64 GWB Rdn. 42; Zimmer/Logemann, ZWeR 2008, 122, 128 ff.; Bremer/Wünschmann/Wolf, WuW 2008, 28 ff.; zurückhaltend Kollmorgen in Langen/Bunte aaO § 64 GWB Rdn. 6). Diese Auffassung wird teilweise auf eine unmittelbare Anwendung des § 64 Abs. 3 Satz 1 GWB gestützt (Birmanns in Frankfurter Kommentar zum GWB aaO; Bechtold aaO), teilweise auf eine entsprechende Anwendung dieser Bestimmung (Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker aaO § 41 Rdn. 24 und 31). Die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts für die Anordnung wird dabei vor allem damit begründet, dass im Rahmen der Abwägung auch eine Prognose über den Ausgang des Beschwerdeverfahrens erforderlich und hierzu in erster Linie das Beschwerdegericht berufen sei (Mestmäcker/Veelken aaO § 41 Rdn. 24; Mäger in MünchKomm.GWB, § 41 Rdn. 29). Die ausschließliche Zuständigkeit des Bundeskartellamts für Anordnungen nach § 41 Abs. 2 GWB führe praktisch zur Versagung jeden vorläufigen Rechtsschutzes (Bechtold aaO § 64 Rdn. 10; Jaeger, WuW 2007, 851).

c)

Der Senat folgt der zuletzt dargestellten Auffassung, nach der das Beschwerdegericht nach Anfechtung der Untersagungsverfügung über den Antrag auf Befreiung vom Vollzugsverbot zu befinden hat.

aa)

Die geltende gesetzliche Regelung schließt eine Befugnis des Beschwerdegerichts nicht aus, im Rahmen seiner Kompetenz zum Erlass einstweiliger Anordnungen (§ 64 Abs. 3 Satz 1, § 60 Nr. 1 GWB) unter den sachlichen Voraussetzungen des § 41 Abs. 2 GWB eine Befreiung vom Vollzugsverbot zu erteilen. Auch wenn die ausdrückliche Erwähnung der fusionskontrollrechtlichen Untersagungsverfügung in § 60 Nr. 1 GWB ("bis zur endgültigen Entscheidung über eine Verfügung nach § 40 Abs. 2 ...") kein zwingendes Argument darstellt, eröffnet sie doch die Möglichkeit, die in Rede stehende Befugnis ohne Notwendigkeit einer analogen Anwendung unmittelbar dem Gesetz zu entnehmen. Zwar bedarf es - solange das Verfahren noch beim Bundeskartellamt anhängig ist - für die Befreiung vom Vollzugsverbot keines Rückgriffs auf diese Norm. Dies schließt es indessen nicht aus, die entsprechende Befugnis des Beschwerdegerichts auf § 64 Abs. 3 Satz 1 und § 60 Nr. 1 GWB zu stützen.

bb)

Die Gesetzgebungsgeschichte, auf die sich das Beschwerdegericht für seine Auffassung beruft, gibt kein eindeutiges Bild. Insbesondere lässt sich den Materialien kein Hinweis darauf entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung einer ausdrücklichen Befugnis des Bundeskartellamts zur Befreiung vom Vollzugsverbot die aufgrund der Rechtsprechung des Kammergerichts bislang bestehende korrespondierende Befugnis des Beschwerdegerichts abschaffen wollte. Die Begründung des Regierungsentwurfs zur 6. GWB-Novelle weist allein darauf hin, dass die (ausdrückliche) Ermächtigung des Bundeskartellamts zur Befreiung vom Vollzugsverbot in Anlehnung an Art. 7 Abs. 4 FKVO a.F. (Art. 7 Abs. 3 FKVO n.F.) erfolge (BT-Drucks. 13/9720, S. 60).

cc)

Für die Kompetenz des Beschwerdegerichts zur Befreiung vom Vollzugsverbot spricht entscheidend der Umstand, dass nach Erlass der Untersagungsverfügung das Beschwerdegericht in erster Linie dazu berufen ist, die nach § 41 Abs. 2 GWB gebotene Abwägung auch unter Berücksichtigung des Umstandes zu treffen, dass die angefochtene Entscheidung möglicherweise unter schweren formellen oder materiellen Fehlern leidet (vgl. KG WuW/E OLG 2419). Hinzu kommt, dass der Rechtsschutz der Zusammenschlussbeteiligten erheblich beschränkt wäre, wenn stets zunächst das Bundeskartellamt über den Antrag auf Befreiung vom Vollzugsverbot entscheiden müsste und diese Entscheidung vom Beschwerdegericht nur überprüft werden könnte. Denn dem Bundeskartellamt steht bei der Entscheidung über einen Antrag auf Befreiung vom Vollzugsverbot ein Ermessen zu. Eine Überprüfung seiner Entscheidung durch das Beschwerdegericht in einem gesonderten Verpflichtungsbeschwerdeverfahren wäre auf die Überprüfung beschränkt, ob die Kartellbehörde ihr Ermessen pflichtgemäß ausgeübt und alle für die Ermessensausübung maßgebenden Gesichtspunkte hinreichend in die Erwägungen einbezogen hat.

IV.

Die Sache ist danach an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Dieses wird zunächst zu prüfen haben, ob dem auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 65 Abs. 3 Satz 3 GWB gerichteten Antrag der Betroffenen das Begehren auf Befreiung vom Vollzugsverbot entnommen werden kann. Gegebenenfalls haben die Betroffenen Gelegenheit, nunmehr unter Berufung auf die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts zum Erlass einstweiliger Anordnungen (§ 64 Abs. 3 Satz 1, § 60 Nr. 1 GWB) eine solche Befreiung zu beantragen. Im Rahmen seiner Entscheidung wird das Beschwerdegericht die nach § 41 Abs. 2 Satz 1 GWB gebotene Abwägung zu treffen haben. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, dass - anders als bei § 65 Abs. 3 Satz 3 GWB - ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung nicht ausreichen. Auch wenn das Beschwerdegericht nach vorläufiger Prüfung zu dem Schluss gelangt, dass es in der Hauptsache zu einer Aufhebung der Untersagungsverfügung kommen werde, darf es nicht außer Acht lassen, dass das Vollzugsverbot grundsätzlich selbst im Falle der Aufhebung der Untersagungsverfügung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsmittelverfahrens weitergilt. Eine Befreiung setzt, auch wenn sie vom Beschwerdegericht angeordnet wird, stets voraus, dass die Zusammenschlussbeteiligten hierfür wichtige Gründe geltend machen und insbesondere dartun, dass sie - auch im Hinblick auf die zu erwartende Dauer des Beschwerde- sowie eines möglichen Rechtsbeschwerdeverfahrens - geboten ist, um schweren Schaden von ihnen oder von Dritten abzuwenden (§ 41 Abs. 2 Satz 1 GWB). Die Erfolgsaussichten der Beschwerde stellen dabei lediglich einen Faktor der Abwägung dar. Im Rahmen dieser Abwägung kann für eine Befreiung sprechen, dass die Untersagungsverfügung aus der Sicht des Beschwerdegerichts an schweren formellen oder materiellen Fehlern leidet. Gegen eine Befreiung kann demgegenüber sprechen, dass durch einen vorläufigen Vollzug Fakten geschaffen werden, die im Falle einer Bestätigung der Untersagungsverfügung nicht mehr oder nur eingeschränkt rückgängig gemacht werden können.

Der Senat sieht danach im jetzigen Verfahrensstadium keine Veranlassung, zur Frage Stellung zu nehmen, ob im Streitfall neben dem vom Zielunternehmen bedienten Markt Langenthal auch der räumlich benachbarte Markt Kirchheimbolanden betroffen ist und die dort erzielten Umsätze den auf dem Markt Langenthal erzielten Umsätzen bei der Anwendung der Bagatellmarktklausel hinzuzurechnen sind.

Fundstelle(n):
DB 2009 S. 1012 Nr. 19
NJW 2009 S. 1611 Nr. 22
WM 2009 S. 371 Nr. 8
IAAAD-03620

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: ja; BGHR: ja