Änderung eines Verwaltungsakts mehr als zehn Jahre nach dessen Bekanntgabe; Rechtsfolgen eines widerrufenen Verzichts nach § 9 UStG
Gesetze: AO § 174 Abs. 4, UStG § 9, UStG § 15, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über die Rechtsfolgen eines widerrufenen Verzichts nach § 9 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1991. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hatte zunächst den Vorsteuerabzug aus einem Grundstückserwerb, bei dem der Veräußerer nach § 9 UStG 1993 auf die Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG verzichtet hatte, geltend gemacht. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erstellte am für das Streitjahr 1992 eine Umsatzsteuerjahreserklärung, die beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) am einging und der das FA mit dem Umsatzsteuerjahresbescheid vom zustimmte. Der Bescheid war an die Zwangsverwalter der Klägerin als Adressat gerichtet.
Im Januar 1995 machte die Veräußerin des Grundstücks den Verzicht nach § 9 UStG durch schriftliche Erklärung rückgängig und berichtigte die zuvor mit gesondertem Steuerausweis erstellte Rechnung entsprechend. Aufgrund dieser Berichtigung ging das FA davon aus, dass der Vorsteuerabzug nach § 14 Abs. 2 i.V.m. § 17 UStG für das Jahr der Rechnungsberichtigung (1995) zu korrigieren sei.
Die gegen den Umsatzsteuerbescheid für 1995 gerichtete Klage hatte Erfolg. Mit Urteil vom V R 8/04 (BFH/NV 2006, 835) entschied der Bundesfinanzhof (BFH), dass die Rückgängigmachung des Verzichts nach § 9 UStG dazu führe, dass der Umsatz rückwirkend steuerfrei werde und der Leistungsempfänger daher den Vorsteuerabzug rückwirkend für das Jahr der Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts verliere und deshalb der entsprechende Umsatzsteuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) zu ändern sei.
Aufgrund dieses Urteils änderte das FA mit Bescheid vom den Umsatzsteuerbescheid für 1992 und machte den ursprünglich in diesem Jahr vorgenommenen Vorsteuerabzug aus der Grundstückslieferung rückgängig. Die Änderung wurde auf § 174 AO gestützt. In den Erläuterungen zu dem Bescheid vom wies das FA auf den Ausgangsbescheid hin: „Der Bescheid ändert den Bescheid vom .”
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) stützte die Klageabweisung darauf, dass das FA zur Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 1992 nach § 174 Abs. 4 AO berechtigt gewesen sei.
II. Die Beschwerde ist unbegründet, da die geltend gemachten Zulassungsgründe (§ 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) nicht vorliegen.
1. Das FG weicht von den von der Klägerin zitierten Entscheidungen des BFH nicht ab.
a) Nach dem (BFH/NV 2005, 1751) erfasst § 174 Abs. 4 AO „auch die Fälle, in denen die Finanzbehörde darüber irrt, in welchem Jahr die steuerrechtlichen Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt zu ziehen sind”. Ob es sich um einen Fehler im tatsächlichen oder rechtlichen Bereich handelt, ist dabei unerheblich. Dabei hat der BFH seinem Urteil in BFH/NV 2005, 1751 den Rechtssatz zugrunde gelegt, dass ein FA, das Folgerungen aus einem Ereignis unter Verkennung der steuerlichen Wirkung für die Vergangenheit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zunächst in dem Jahr erfasst, in dem das Ereignis eingetreten ist, bei Änderung oder Aufhebung des für dieses Jahr ergangenen Steuerbescheides aufgrund eines Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen nach § 174 Abs. 4 AO berechtigt ist, nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen für das Jahr zu ziehen, auf das das rückwirkende Ereignis zurückwirkt, wenn dies im Zeitpunkt des Erlasses des aufgrund des Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen geänderten oder aufgehobenen Bescheides verfahrensrechtlich möglich gewesen wäre.
Einen hiervon abweichenden Rechtssatz hat das FG nicht gebildet. Das FG ist vielmehr unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 1751 davon ausgegangen, dass das FA irrig davon ausging, dass die Rückgängigmachung der Option wie eine Korrektur nach § 17 UStG zu berücksichtigen sei, nicht aber als rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und daher nach Aufhebung des rechtsirrig aufgrund von § 17 UStG ergangenen Bescheides für 1995 die zutreffenden Folgen für das Streitjahr 1992 gezogen werden konnten.
b) Es liegt auch keine Abweichung zum (BFH/NV 2001, 814) vor. Denn ein Rechtssatz zu der Frage, ob eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO erfolgen kann, wenn das FA unter Verkennung des rückwirkenden Charakters eines Ereignisses zunächst rechtsirrig einen Steuerbescheid für einen anderen Besteuerungszeitraum erlässt, ist dieser Entscheidung nicht zu entnehmen.
2. Es besteht auch kein Erfordernis einer Revisionszulassung zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) im Hinblick auf das Rechtsinstitut der Verwirkung. Durch die Rechtsprechung des BFH ist geklärt, dass eine Verwirkung nur dann in Betracht kommt, wenn neben dem bloßen Zeitablauf auch ein durch das Verhalten der konkreten Finanzbehörde begründeter Vertrauenstatbestand vorliegt, aus dem der Steuerpflichtige bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen darf, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden soll (vgl. z.B. , BFH/NV 1999, 1186, und vom II R 9/01, BFH/NV 2006, 478). Auf den Zeitpunkt des Eintritts der Festsetzungsverjährung kommt es dabei nicht an. Ein derartiger Vertrauenstatbestand ist im Streitfall nicht ersichtlich.
Eine Abweichung zum Senatsurteil in BFH/NV 2006, 835 liegt offensichtlich nicht vor, weil diese Entscheidung nur die rechtlichen Folgerungen bei Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung nach § 9 UStG betrifft, nicht aber die Frage, welche Folgerungen bei Änderung eines fehlerhaften Bescheides aufgrund des Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen zu ziehen sind.
3. Die Frage, ob „dem Finanzamt erfolgreich die Einrede der Verwirkung entgegengehalten werden (kann), wenn es einen Verwaltungsakt mehr als zehn Jahre nach dessen Bekanntgabe gemäß § 174 AO ändert” hat, wie das FA in seiner Beschwerdeerwiderung zutreffend erläutert, keine grundsätzliche Bedeutung.
4. Schließlich ergibt sich aus dem von der Beschwerde behaupteten Fehler bei der Bekanntgabe des Ausgangsbescheides für das Streitjahr 1992 vom kein Verfahrensfehler. Die in der Beschwerde aufgestellte Behauptung, der Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe von dem Bescheid vom erst aufgrund einer Akteneinsicht in die Behörden- und Gerichtsakten erfahren, so dass ein Verfahrensfehler vorliege, übersieht, dass der vom Prozessbevollmächtigten für die Klägerin angefochtene Änderungsbescheid vom in seinen Erläuterungen ausdrücklich auf den Ausgangsbescheid vom hinwies. Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, wie ein Hinweis des FG auf den Bescheid vom ausgehend von der für die Beurteilung eines Verfahrensfehlers maßgeblichen Rechtsauffassung des FG (vgl. z.B. , BFH/NV 2007, 751) zu einer anderen Entscheidung in der Sache hätte führen können. Im Übrigen enthält die Beschwerde hierzu entgegen der BFH-Rechtsprechung (vgl. z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 751) auch keine Ausführungen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
PAAAD-02180