BFH Urteil v. - V R 32/07 BStBl 2009 II S. 429

Gutachtertätigkeit einer Krankenschwester für Zwecke der Pflegeversicherung nicht umsatzsteuerbefreit

Leitsatz

Erstellt eine Krankenschwester (mit entsprechender Zusatzausbildung) im Auftrag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung für Zwecke der Pflegeversicherung Gutachten zur Feststellung von Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit der Versicherten, ist diese Tätigkeit weder nach dem UStG noch nach der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei (Ergänzung zum , BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554).

Gesetze: UStG 1999 § 4 Nr. 14, Nr. 15 Buchst. a, Nr. 16 Buchst. d und eRichtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c und g

Instanzenzug: (EFG 2007, 1045) (Verfahrensverlauf),

Gründe

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist ausgebildete Krankenschwester mit einer Zusatzausbildung für medizinische Gutachtertätigkeit zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.

Sie erstellte im Streitjahr 2003 im Auftrag des Medizinischen Dienstes einer Krankenversicherung Gutachten, in denen Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit von Versicherten festgestellt wurden. Die auf einem Vordruck zu erstellenden Gutachten sind in neun Punkte untergliedert, in dem sich der Gutachter u.a. zu den Punkten „Derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation”, „Pflegerelevante Vorgeschichte und Befunde”, „Krankheit(en)/Behinderungen und ihre Auswirkung(en) auf die Aktivitäten des täglichen Lebens” und „Pflegebegründende Diagnose(n)” äußert. Die Gutachten, die gegenüber der Krankenkasse erstellt werden, enden u.a. mit der Beurteilung, ob eine Pflegebedürftigkeit vorliegt und ggf. der Empfehlung einer Pflegestufe.

Nachdem die Klägerin dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt —FA—) auf Anfrage mitgeteilt hatte, dass sie lediglich steuerfreie Umsätze erziele, erließ das FA anhand der Gewinn- und Verlustrechnung der Klägerin einen Umsatzsteuerbescheid für 2003, in dem es die Umsätze der Klägerin als steuerpflichtig ansah und die abziehbaren Vorsteuerbeträge schätzte.

Nach Zurückweisung des Einspruchs wies das Finanzgericht (FG) die Klage mit dem in „Entscheidungen der Finanzgerichte” 2007, 1045 veröffentlichten Urteil ab. Zur Begründung führte das FG aus, die Leistungen der Klägerin an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung seien nicht nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) steuerfrei, weil die Gutachten keinem therapeutischen Ziel dienten, sondern der Einordnung in die richtige Pflegestufe. Auch die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG befreie nur die Leistungen der Medizinischen Dienste selbst, nicht aber diejenigen selbständig tätiger Dritter, die im Auftrag des Medizinischen Dienstes handelten (Hinweis auf , BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554). Insoweit habe der Gesetzgeber Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) ermessensfehlerfrei umgesetzt. Der Klägerin sei nicht der Status einer „Einrichtung” im Sinne dieser Richtlinienvorschrift zuzubilligen. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer liege nicht vor, da Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG die Steuerbefreiung nur bestimmten Einrichtungen vorbehalte, zu denen die Klägerin nicht gehöre.

Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie ist der Auffassung, im Streitfall sei § 4 Nr. 14 UStG anwendbar. Sie habe vor dem FG ausführlich vorgetragen, wie die Gutachtertätigkeit in der Praxis ablaufe und welche Vorgaben nach einem Handbuch (120 Seiten) zu beachten seien, insbesondere welchen Umfang im Formulargutachten die Bereiche „Erhebung zur Versorgungs- und Befundsituation”, „Bewertung dieser Befundsituation” und „abschließende Empfehlungen” hätten. Das FG habe nicht gewürdigt, dass nur zwei Punkte des Gutachtens sich mit der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung und sieben Punkte sich mit der Behandlungspflege der kranken bis schwerstkranken Menschen befassten. Das BFH-Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554 beruhe auf der „Grundaussage”, dass im dort entschiedenen Streitfall die Gutachten nicht eine evtl. notwendige Behandlungspflege zum Gegenstand gehabt hätten. Für die Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 UStG komme es darauf an, ob sich ein Gutachten zu mehr als der Hälfte mit der Behandlungspflege befasse.

Zudem habe das FG § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG unrichtig angewendet, weil diese Vorschrift bei zutreffender Auslegung unter Beachtung des Grundsatzes der steuerrechtlichen Neutralität nicht nur die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung, sondern auch diejenigen von der Umsatzsteuer befreie, die als Subunternehmer für die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung Gutachten erstellten. Dies entspreche auch dem Zweck der Steuerbefreiung, die Sozialversicherungsträger nicht mit Umsatzsteuer zu belasten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung sowie den Umsatzsteuerbescheid für 2003 vom und die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Anfertigung eines Gutachtens, in dem sich der Gutachter zur Pflegebedürftigkeit und ggf. zur Einstufung in eine Pflegestufe nach § 18 Abs. 6 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) äußert, keine Heilbehandlung i.S. des § 4 Nr. 14 UStG ist.

a) Gemäß § 4 Nr. 14 UStG sind steuerfrei die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut (Krankengymnast), Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit. Dies entspricht Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG, die „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin” begünstigen will. Demgemäß sind z.B. Gutachten, die der Feststellung der Vaterschaft, der Gewährung einer Invaliditätspension, eines Kriegsrentenanspruchs, der Haftung wegen eines ärztlichen Kunstfehlers oder zur Anfertigung eines Rentengutachtens dienen, keine Heilmaßnahme nach § 4 Nr. 14 UStG (, BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862, m.w.N.; , BFHE 217, 94, BStBl II 2008, 35). Dies entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften —EuGH— (Urteile vom C-212/01 —Margarete Unterpertinger—, Slg. 2003, I-13859, BFH/NV Beilage 2004, 111, und vom C-307/01 —Peter d'Ambrumenil—, Slg. 2003, I-13989, BFH/NV Beilage 2004, 115).

b) Nach diesen Rechtsgrundsätzen ist die Anfertigung von Gutachten für Zwecke der Einstufung von Versicherten in der Pflegeversicherung nicht nach § 4 Nr. 14 UStG steuerbefreit. Denn die Gutachtertätigkeit dient ihrem Hauptzweck nach weder der Behandlung, Linderung oder Vorbeugung einer Krankheit, sondern der Feststellung, in welcher Höhe dem Versicherten ein Anspruch auf Ersatz von Kosten nach dem Gesetz über die Pflegeversicherung zusteht. Aufgabe des Medizinischen Dienstes ist die Begutachtung für Zwecke der Sozialversicherung, nicht die Therapie (BFH-Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 1.; Tehler in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 15a Rz 41).

c) Entgegen dem Revisionsvorbringen hat das FG nicht verfahrensfehlerhaft entscheidungserheblichen Sachvortrag übergangen, weil es nicht gewürdigt habe, ob sich das Gutachten überwiegend mit der Behandlungspflege befasst hat.

Denn das FG hat diesen Sachvortrag nicht übergangen, sondern ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Gutachtertätigkeit der Klägerin auch einen Bezug zur Behandlungspflege gehabt habe; denn Hauptziel des Gutachtens sei es gewesen, dem Medizinischen Dienst eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, in welche Pflegestufe die begutachtete Person einzustufen sei (Urteil S. 10).

Nach dieser —revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden— Würdigung des FG diente das Gutachten im Wesentlichen nicht —wie in § 4 Nr. 14 UStG vorausgesetzt— medizinischen Zwecken. Dies widerspricht auch dem Senatsurteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 1. e nicht.

2. Wie der Senat ferner bereits in seinem Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 2. entschieden hat, fällt die Tätigkeit der Klägerin auch nicht unter die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 Buchst. d oder Buchst. e UStG, weil die Klägerin keine Einrichtungen der Altenheime, Altenwohnheime oder eines Pflegeheimes unterhält. Dass die Klägerin Leistungen an den Medizinischen Dienst einer Krankenversicherung erbringt, die ihrerseits im Zusammenhang mit Leistungen an Pflegeheime stehen können, reicht nicht aus.

3. Die Gutachtertätigkeit der Klägerin zur Einstufung von Versicherten in die Pflegeversicherung ist auch nicht nach § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG befreit. Nach dieser Vorschrift sind steuerbefreit die auf Gesetz beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung und des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen untereinander und für die gesetzlichen Träger der Sozialversicherung und deren Verbände.

Die Voraussetzungen dieser Befreiung liegen nach deren Wortlaut nicht vor, denn befreit sind nur die auf Gesetz beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste selbst. Zwar darf der Medizinische Dienst —wie beispielsweise in § 18 Abs. 6 SGB XI vorgesehen— die gesetzlich vorgesehene Begutachtung auch Personen überlassen, die nicht selbst dem Medizinischen Dienst angehören. Dies allein rechtfertigt jedoch nicht, die Befreiung auch auf deren Leistungen auszudehnen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 3.).

Der Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer führt zu keiner anderen Beurteilung (a.A. Tehler in Rau/Dürrwächter, a.a.O., § 4 Nr. 15a Rz 118), denn er gebietet nicht, dass unterschiedlich ausgestaltete rechtliche Gestaltungen umsatzsteuerrechtlich gleich behandelt werden müssen (vgl. Senatsurteil vom V R 2/06, BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634, unter II. 2. c dd).

4. Schließlich ist die Tätigkeit der Klägerin auch nicht aufgrund unmittelbarer Anwendung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG befreit.

Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Steuerbefreiung für „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen” zu gewähren, wenn sie durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder „andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen” erfolgen. Die Anfertigung von Pflegegutachten für den Medizinischen Dienst einer Krankenkasse ist zwar eine „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit” verbundene Leistung. Die Klägerin ist jedoch nicht als „anerkannte Einrichtung” im Sinne dieser Vorschrift anzusehen.

a) Nach der Rechtsprechung des EuGH kann der Einzelne die Eigenschaft einer „Einrichtung mit sozialem Charakter” nicht schon dadurch erlangen, dass er sich auf diese Bestimmung beruft. Vielmehr ist es Sache der nationalen Behörden, nach dem Gemeinschaftsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte, insbesondere unter Berücksichtigung der Praxis der zuständigen Verwaltung in ähnlichen Fällen zu bestimmen, welche Einrichtungen als Einrichtungen mit sozialem Charakter i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG anzuerkennen sind. So kann insbesondere gewürdigt werden:

- das Bestehen spezifischer Vorschriften, gleich ob es sich dabei um nationale oder regionale, um Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, um Steuervorschriften oder im Bereich der sozialen Sicherheit handelt,

- das mit den betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse,

- die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen sowie

- der Umstand, dass die Kosten der Leistung zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden

( —Kingscrest Associates Ltd. und Montecello Ltd.—, Slg. 2005, I-4427, BFH/NV Beilage 2005, 310 Rz 53 ff., m.w.N.; , BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849).

b) Nach diesen Grundsätzen ist die Klägerin keine „anerkannte Einrichtung” i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG räumt den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Frage ein, ob sie bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen (vgl. z.B. , BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143, 146, unter II. 2. d cc (2)). Der nationale Gesetzgeber hat die Steuerbefreiung in § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG ermessensfehlerfrei lediglich für die Leistungen des Medizinischen Dienstes selbst vorgesehen, den er als soziale Einrichtung i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG angesehen hat (so ausdrücklich BTDrucks 13/3084, S. 25), nicht aber für Leistungen Dritter (Subunternehmer), die an den Medizinischen Dienst Leistungen erbringen (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634 mit krit. Anmerkung Hölzer in Umsatzsteuer-Rundschau 2008, 234 zu § 4 Nr. 25 UStG).

Eine hinreichende Anerkennung i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG ergibt sich deshalb auch nicht daraus, dass in § 18 Abs. 7 Satz 2 SGB XI dem Medizinischen Dienst die Befugnis erteilt wird, den nicht dem Medizinischen Dienst angehörenden Pflegefachkräften die für deren

jeweilige Beteiligung erforderlichen personenbezogenen Daten zu übermitteln.

Fundstelle(n):
BStBl 2009 II Seite 429
BFH/NV 2009 S. 100 Nr. 1
BFH/PR 2009 S. 65 Nr. 2
BStBl II 2009 S. 429 Nr. 11
DB 2008 S. 2812 Nr. 51
DStRE 2009 S. 164 Nr. 3
DStZ 2009 S. 60 Nr. 3
GStB 2009 S. 6 Nr. 2
HFR 2009 S. 162 Nr. 2
KÖSDI 2009 S. 16326 Nr. 1
NWB-Eilnachricht Nr. 50/2008 S. 4702
SJ 2009 S. 11 Nr. 3
StB 2009 S. 9 Nr. 1
StBW 2008 S. 5 Nr. 25
StuB-Bilanzreport Nr. 3/2009 S. 122
UR 2009 S. 22 Nr. 1
UVR 2009 S. 68 Nr. 3
DAAAC-97814