BFH Urteil v. - XI R 67/07 BStBl 2009 II S. 552

Innergemeinschaftliche Lieferung; Ort der Lieferung bei Versendung; Freigabeerklärung nach Zahlungseingang

Leitsatz

1. Eine Lieferung gilt auch dann bei Beginn der Versendung in einem anderen Mitgliedstaat als dort ausgeführt (§ 3 Abs. 6 Satz 1 UStG), wenn die Person des inländischen Abnehmers dem mit der Versendung Beauftragten im Zeitpunkt der Übergabe der Ware nicht bekannt ist, aber mit hinreichender Sicherheit leicht und einwandfrei aus den unstreitigen Umständen, insbesondere aus Unterlagen abgeleitet werden kann (Änderung der Rechtsprechung).

2. Dem steht nicht entgegen, dass die Ware von dem mit der Versendung Beauftragten zunächst in ein inländisches Lager gebracht und erst nach Eingang der Zahlung durch eine Freigabeerklärung des Lieferanten an den Erwerber herausgegeben wird.

Gesetze: UStG § 3 Abs. 6

Instanzenzug: (EFG 2007, 1282) (Verfahrensverlauf), , , ,

Gründe

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist in Großbritannien ansässig. Sie lieferte im Streitjahr 1998 Waren an den in Deutschland ansässigen Abnehmer HS, indem sie diese aus Großbritannien durch Einschaltung eines Spediteurs in das Inland transportierte.

Aufgrund einer Bestellung des HS vom beauftragte die Klägerin die Spedition M, die Ware in das Inland nach X zu befördern. Der Speditionsauftrag erfolgte unter der Referenz „Ship to hold Our Ref 980422 HS”. Empfänger der Sendung war die D-GmbH, eine Schwestergesellschaft der Klägerin. Mit Schreiben vom beauftragte die Klägerin die D-GmbH, die Ware erst nach einer gesondert zu erteilenden Freigabe an HS zu übergeben. Nach Bezahlung der Ware durch HS erteilte die Klägerin die Freigabe gegenüber der D-GmbH, die die Ware im Anschluss hieran an HS übergab.

Eine zweite Bestellung des HS vom ergänzte die erste Lieferung. Die Versendung erfolgte wiederum über die Spedition M aus Großbritannien in das Lager der D-GmbH im Inland. Die Klägerin erteilte die Freigabe wiederum nach Eingang der von HS geschuldeten Zahlung.

Auch aufgrund einer dritten Bestellung vom versendete die Klägerin Ware aus Großbritannien in das Inland.

Die Klägerin ging davon aus, dass es sich um innergemeinschaftliche Lieferungen aus Großbritannien handele, die gegen Entgelt an den Abnehmer HS erfolgt seien. Demgegenüber lagen nach Auffassung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt —FA—) steuerpflichtige Inlandslieferungen der Klägerin vor. Die Versendung an den Abnehmer habe erst im Inland begonnen.

Einspruch und Klage waren erfolglos. Das Finanzgericht (FG) stützte die Klageabweisung darauf, dass die Versendung an den Abnehmer nicht in Großbritannien, sondern erst im Inland begonnen habe. Da die Aushändigung der Ware im Anschluss an den Transport in das Inland von einer durch die Klägerin zu erteilenden Freigabe abhängig gewesen sei, habe die Klägerin auch nach Beginn der Versendung den Zugriff auf die Ware behalten. Die Ware habe erst nach der Bezahlung durch den Abnehmer an diesen ausgehändigt werden dürfen. Die Übergabe der Ware habe letztlich nur Zug um Zug gegen Zahlung des Kaufpreises erfolgen sollen.

Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 1282 veröffentlicht.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 3 Abs. 6 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) in der im Streitjahr geltenden Fassung. Die Versendung einer verkauften Ware in ein sicheres Lager am Ende der Warenbewegung und die Herausgabe der Ware nach Sicherung der Kaufpreiszahlung stehe der Annahme einer Versendungslieferung nicht entgegen. Bei einem vereinbarungsgemäßen Verlauf des Geschehens habe sie die Freigabe erteilen müssen, da HS verpflichtet gewesen sei, den Kaufpreis zu zahlen. An ihrem Vortrag zur fehlenden Steuerpflicht einer weiteren Lieferung aufgrund einer dritten Bestellung des HS vom , die nach dem Urteil des FG gleichfalls zu einer steuerpflichtigen Inlandslieferung führte, hat die Klägerin im Revisionsverfahren nicht festgehalten.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und den Umsatzsteuerbescheid 1998 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahingehend zu ändern, dass Umsatzsteuer in Höhe von 108 274,45 € festgesetzt wird.

Das FA tritt der Revision entgegen und beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist das FA im Wesentlichen auf das nach seiner Auffassung zutreffende FG-Urteil.

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet; das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage ist im Wesentlichen stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz sind die beiden in der Revision streitigen Lieferungen im Inland nicht steuerbar, da die Versendung der gelieferten Gegenstände in Großbritannien begann.

1. Nach § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG gilt die Lieferung im Fall der Beförderung oder Versendung des gelieferten Gegenstands durch den Lieferer, den Abnehmer oder durch einen von diesen beauftragten Dritten dort als ausgeführt, wo die Beförderung oder Versendung „an den Abnehmer” oder in dessen Auftrag an einen Dritten beginnt. Daraus folgt, dass der Abnehmer bei Beginn der Versendung oder Beförderung feststehen muss (vgl. z.B. , BFHE 165, 312, BStBl II 1991, 937). Die Versendung beginnt gemäß § 3 Abs. 6 Satz 4 UStG mit der Übergabe des Gegenstands an den Beauftragten. Danach muss im Falle der Versendung der Abnehmer bereits im Zeitpunkt der Übergabe des Liefergegenstands feststehen.

a) Zwar hat der BFH mit dem vom FG zitierten Urteil vom V 73/64 (BFHE 87, 162, BStBl III 1967, 101) zur Rechtslage nach § 5 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz —UStDB— (BGBl I 1951, 796) entschieden, dass eine Versendung an den Abnehmer nur vorliegt, wenn der Frachtführer verpflichtet ist, den Gegenstand der Lieferung an den Abnehmer auszuhändigen und dieser dem Beförderungsunternehmer gegenüber berechtigt ist, den Gegenstand der Lieferung in Empfang zu nehmen. Für diese Verpflichtung und Berechtigung komme es auf die anlässlich der Beförderung ausgestellten Papiere und Urkunden an. Nur bei Bezeichnung des Abnehmers im Ladeschein läge entsprechend dem Wortlaut und dem Sinn des § 5 Abs. 2 UStDB eine Versendung an den Abnehmer vor, da nur dann dem Abnehmer aufgrund der im Zusammenhang mit der Beförderung ausgestellten Urkunden die Verfügungsmacht an dem Gegenstand verschafft werde.

An dem zu § 5 UStDB ergangenen BFH-Urteil in BFHE 87, 162, BStBl III 1967, 101 ist für die nach dem UStG bestehende Rechtslage aber nicht festzuhalten. Nach § 5 Abs. 1 UStDB konnte eine Versendung nur durch einen Frachtführer, wie z.B. die Eisenbahn oder die Post, oder einen Verfrachter, wie z.B. einen Reeder, erfolgen. Gleichgestellt war das Besorgen einer derartigen Beförderung durch einen Spediteur. Bei der Versendung an den Abnehmer galt die Lieferung nach § 5 Abs. 2 UStDB mit der Übergabe an den Spediteur, Frachtführer oder Verfrachter als ausgeführt. Demgegenüber kann die Versendung gemäß § 3 Abs. 6 Satz 3 UStG mit beliebigen Beauftragten und nicht nur mit Spediteuren, Frachtführern und Verfrachtern durchgeführt werden. Daher kommt es anders als nach § 5 UStDB für das Vorliegen einer Versendung gemäß § 3 Abs. 6 UStG nicht zwingend auf das Vorliegen und den Inhalt von Frachtdokumenten etc. an. Eine Versendungslieferung kann somit auch vorliegen, wenn dem selbständigen Beauftragten nur ein mündlicher Auftrag zur Beförderung an den Abnehmer erteilt wird.

Kann an der Rechtsprechung, dass sich die Person des Abnehmers aus den Frachtdokumenten ergeben muss, nicht mehr festgehalten werden, ist auch die Rechtsauffassung des V. Senats in dem Urteil vom V R 35/91 (BFH/NV 1995, 555), bei einer Versendung müsse dem Beauftragten im Zeitpunkt der Übergabe des Gegenstands der Name des Abnehmers bekannt sein, in Frage gestellt. Denn der V. Senat hat sich zur Begründung dieser Auffassung auf das BFH-Urteil in BFHE 87, 162, BStBl III 1967, 101 berufen. Es sind keine zwingenden Gründe dafür ersichtlich, bei einer Versendung für den Nachweis, dass der Abnehmer bei der Übergabe der Ware an den Beauftragten festgestanden habe, ausnahmslos zu verlangen, dass der Abnehmer dem Beauftragten bekannt sein muss. Vielmehr reicht es aus, wenn sich aus den unstreitigen Umständen, insbesondere aus Unterlagen mit hinreichender Sicherheit leicht und einwandfrei ableiten lässt, dass der Abnehmer zum maßgeblichen Zeitpunkt festgestanden hat (vgl. auch Nieskens in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 3122 ff.).

b) Gegen die Annahme, der Abnehmer habe bei der Übergabe der Ware festgestanden, spricht auch nicht eine „shipment on hold"-Klausel, die der Sicherung des Kaufpreises dient.

Nach § 3 Abs. 6 UStG sind Beförderung und Versendung für Zwecke der Lieferortbestimmung gleichgestellt. Beförderung und Versendung unterscheiden sich nur im Hinblick auf die Person, die die Beförderung durchführt. Daher sind an das Vorliegen einer Versendung keine strengeren Anforderungen als an eine Beförderung zu stellen.

Im Fall der Beförderung ist es dem Lieferer auch nach Beginn der Beförderung möglich, über den Gegenstand der Lieferung neu zu disponieren und den Gegenstand wie im Fall einer sog. Umkartierung an einen anderen Abnehmer zu liefern. Die bloße Möglichkeit zur Umkartierung steht aber dem Vorliegen einer Beförderungslieferung, deren Ort sich am Beginn der Beförderung befindet, nicht entgegen (vgl. hierzu z.B. Martin in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 3 Rz 462). Dementsprechend kommt es für das Vorliegen einer Versendung nach § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG entgegen dem zu § 5 UStDB ergangenen BFH-Urteil in BFHE 87, 162, BStBl III 1967, 101 nicht darauf an, ob der Beauftragte verpflichtet ist, den Gegenstand der Lieferung an den Abnehmer auszuhändigen. Aufgrund der Gleichrangigkeit von Versendung und Beförderung für Zwecke der Lieferortbestimmung gilt eine Lieferung daher bei einer Versendung auch dann am Ort der Übergabe an den Beauftragten als ausgeführt, wenn der Gegenstand erst nach Erteilung einer durch den Lieferer gesondert zu erklärenden Freigabe („shipment on hold”) an den Abnehmer übergeben werden darf.

Dient die „shipment on hold"-Klausel darüber hinaus dazu, die Kaufpreiszahlung zu sichern, führt dies im Übrigen nur dazu, dass der Lieferung der Charakter einer Nachnahmelieferung zukommt. Auch bei einer Versendungslieferung per Nachnahme, bei der die Übergabe an den Abnehmer davon abhängt, dass dieser den Kaufpreis entrichtet, gilt die Lieferung bereits an dem Ort als ausgeführt, an dem die Ware an den Beauftragten übergeben wird, ohne dass der Vorbehalt der Kaufpreiszahlung dem entgegensteht.

c) An der sich nach nationalem Recht ergebenden Rechtslage bestehen keine Zweifel im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht und das Gebot richtlinienkonformer Auslegung. Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern gilt als Ort der Versendung für den Fall, dass der Gegenstand vom Lieferer, vom Erwerber oder von einer dritten Person versandt oder befördert wird, der Ort, an dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung an den Erwerber befindet. Hieraus ergibt sich keine abweichende Beurteilung.

d) Der V. Senat hat auf Anfrage einer Abweichung von seiner Rechtsprechung in den Urteilen in BFHE 87, 162, BStBl III 1967, 101 und in BFH/NV 1995, 555 zugestimmt.

2. Danach sind im Streitfall entgegen der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung die beiden in der Revision streitigen Lieferungen nach § 3 Abs. 6 UStG im Inland nicht steuerbar. Denn bereits bei der Übergabe an die Spedition und damit bei Beginn der Versendung stand fest, dass HS Abnehmer der Lieferungen ist. Dies ergibt sich aus den unstreitigen Gesamtumständen, insbesondere aus der Übergabe der von HS zuvor bestellten Ware an die Spedition sowie aus der in zeitlichem Zusammenhang mit dieser Übergabe erfolgten Weisung an die D-GmbH, die zu ihr transportierte Ware nach einer gesondert zu erteilenden Freigabe an HS herauszugeben. Unerheblich ist demgegenüber, ob der Spedition M bereits bei Beginn der Beförderung in Großbritannien bekannt war, dass die Ware über die ihr als Empfänger benannte D-GmbH letztlich an HS zu übergeben war.

3. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, war sein Urteil aufzuheben. Die Sache ist spruchreif, so dass der Senat in der Sache selbst entscheiden kann (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Steuerpflichtig war im Inland nur die dritte Lieferung, deren Steuerpflicht in der Revision nicht mehr angezweifelt wurde. Die hierfür entstehende Steuer beläuft sich auf 215 106 DM (109 981,95 €). Die Wechselkursumrechnung beruht auf § 16 Abs. 6 UStG und dem für den Kalendermonat der verbleibenden steuerpflichtigen Lieferung geltenden (BStBl I 1998, 383).

Fundstelle(n):
BStBl 2009 II Seite 552
BB 2009 S. 649 Nr. 13
BFH/NV 2008 S. 2147 Nr. 12
BFH/PR 2009 S. 28 Nr. 1
BStBl II 2009 S. 552 Nr. 13
DB 2008 S. 2463 Nr. 45
DStRE 2008 S. 1487 Nr. 23
GStB 2009 S. 3 Nr. 1
HFR 2009 S. 55 Nr. 1
KÖSDI 2008 S. 16285 Nr. 12
NWB-Eilnachricht Nr. 45/2008 S. 4187
RIW 2008 S. 887 Nr. 12
SJ 2008 S. 10 Nr. 24
StB 2008 S. 433 Nr. 12
StBW 2008 S. 6 Nr. 23
StC 2009 S. 12 Nr. 1
UR 2008 S. 847 Nr. 22
UVR 2009 S. 66 Nr. 3
AAAAC-94779