Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: AsylbLG § 2 Abs 1
Instanzenzug: LSG Niedersachsen-Bremen, L 11 AY 61/07 vom SG Lüneburg, S 26 AY 26/06
Gründe
I
Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 1. Mai bis . Der Kläger begehrt insbesondere statt der Leistungen nach §§ 3 ff AsylbLG (so genannte Grundleistungen) Leistungen nach § 2 AsylbLG (so genannte AnalogLeistungen) unter entsprechender Anwendung des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Der 1969 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste am unter dem Namen "N Al S " in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte die Anerkennung als Asylberechtigter. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im Mai 2002 erklärte er, dass er Al S heiße und dieses sein Stamm sei. Im Irak habe er eine Staatsangehörigkeitsurkunde, einen Personalausweis, einen Wehrpass, einen Führerschein und Lebensmittelkarten gehabt; wegen der Eile habe er diese Unterlagen jedoch nicht mitbringen können. Sonstige Dokumente besitze er nicht. Der Asylantrag wurde abgelehnt (Bescheid vom ; Urteil des Verwaltungsgerichts <VG> Lüneburg vom ). Der Kläger ist seitdem im Besitz einer Duldung. Nach Aufforderung des Klägers durch den Beklagten, an den für die Passbeschaffung notwendigen Handlungen durch Vorsprache bei seiner Botschaft mitzuwirken (Schreiben vom ), überreichte der Kläger am Kopien einer irakischen Staatsbürgerurkunde und einer Identitätskarte auf den Namen "N Z H " und legte am einen auf diesen Namen ausgestellten irakischen Reisepass vor.
Der Kläger erhielt Leistungen nach dem AsylbLG, zuletzt, nachdem er zuvor 36 Monate Grundleistungen bezogen hatte, Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG (Bescheid vom ) für die Zeit "ab ". Ab bewilligte die Beklagte erneut Leistungen nach § 2 AsylbLG in derselben Höhe, verfügte aber gleichzeitig die Einstellung der Analog-Leistungen mit Ablauf des (zwei Bescheide vom ) und bewilligte für die Zeit ab nur noch (niedrigere) Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, weil der Kläger bisher keine Heimreisedokumente beschafft und durch die in der Vergangenheit vorgenommene Verschleierung seiner tatsächlichen Identität rechtsmissbräuchlich verhindert habe, dass bereits zu einem früheren Zeitpunkt die notwendigen Papiere für eine freiwillige Ausreise hätten beschafft werden können (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat die auf Analog-Leistungen "ab " gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat den Beklagten entsprechend einem geänderten Klageantrag verurteilt, "dem Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom und vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom für den Zeitraum vom bis zum Leistungen nach § 2 Abs 1 Asylbewerberleistungsgesetz unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren" (Urteil vom ). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Kläger habe die Dauer seines Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei ihm eine Rückkehr in den Irak in dem streitigen Zeitraum nicht zumutbar gewesen. Den dem Kläger drohenden Lebensgefahren sei ein deutlich höheres Gewicht als dem Verhalten des Klägers beizumessen, der im Asylverfahren zumindest zur Schreibweise seines Namens Angaben gemacht habe, die nicht der Schreibweise seines Namens in den irakischen Personaldokumenten entspreche.
Der Beklagte rügt einen Verstoß gegen § 2 Abs 1 AsylbLG. Er ist der Ansicht, zu Unrecht habe das LSG das rechtsmissbräuchliche Verhalten des Klägers in der Vergangenheit wegen einer zwischenzeitlichen Integration für unbeachtlich gehalten. Durch diese Auslegung der Vorschrift werde rechtsmissbräuchliches Verhalten geradezu gefördert. Der Kläger habe die Aufenthaltsdauer sowohl dadurch rechtsmissbräuchlich beeinflusst, dass er nicht freiwillig ausgereist sei, als auch dadurch, dass er nicht bereit gewesen sei, eine Namenskorrektur vorzunehmen bzw die Angaben hierzu zu vervollständigen.
Der Beklagte hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG abzuweisen.
Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
II
Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen (§ 163 SGG) kann der Senat nicht entscheiden, ob dem Kläger im streitigen Zeitraum vom 1. Mai bis - auf diesen Zeitraum wurde die Klage beim LSG beschränkt - höhere Leistungen, insbesondere Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG, zustehen.
Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel, die einer Sachentscheidung entgegenstünden, liegen nicht vor. Der Kläger hat zwar zunächst am entsprechend der Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG Berufung eingelegt, diese dann aber auf Hinweis des LSG, dass die Berufungssumme von 500 Euro nicht erreicht sei und keine wiederkehrenden Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen seien, zurückgenommen und mit einer Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Berufung beantragt. Diesem Antrag hat das LSG stattgegeben (Beschluss vom ). Das Revisionsgericht ist an diese Zulassung aus Gründen der Rechtssicherheit sowie des gebotenen Vertrauensschutzes des Rechtsmittelklägers, bei dem mit der Zulassungsentscheidung Gewissheit darüber herrschen soll, dass das zugelassene Rechtsmittel statthaft ist, gebunden (BSGE 86, 86, 88 = SozR 3-6855 Art 10d Nr 1 S 3; BSG SozR 4-1500 § 144 Nr 1 RdNr 6). Diese Wirkung besteht auch dann, wenn die Beschwerde unstatthaft war und die Berufung keiner Zulassung bedurft und deshalb nicht hätte zugelassen werden dürfen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl 2005, § 145 RdNr 11). Damit hat der Senat nicht mehr zu prüfen, ob das Urteil des SG durch die Berufungsrücknahme bereits rechtskräftig geworden war (§ 141 SGG). Zwar bewirkt die Zurücknahme der Berufung eigentlich den Verlust des Rechtsmittels (§ 156 Abs 2 Satz 1 SGG); die Vorschrift des § 145 Abs 5 SGG, nach der das Beschwerdeverfahren nach der Berufungszulassung durch das LSG als Berufungsverfahren fortgesetzt wird, geht jedoch der Regelung des § 156 Abs 2 Satz 1 SGG vor ( - juris, RdNr 15).
Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Bescheide vom und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom (§ 95 SGG). Der Bescheid vom , der die Leistungsbewilligung mit Wirkung ab regelte und von dem Kläger gesondert mit Widerspruch angefochten wurde, ist schon wegen der Beschränkung des streitigen Zeitraums durch den Kläger nicht Gegenstand des Verfahrens. Als Klageart genügt die Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 SGG, weil die angefochtenen Bescheide vom und - diese sind als rechtliche Einheit zu sehen (vgl hierzu etwa BSG SozR 4-4300 § 140 Nr 2 RdNr 5) - den zuvor ergangenen, ausdrücklich erwähnten Bewilligungsbescheid (vom ) in der Sache bei der erforderlichen Auslegung nach dem Empfängerhorizont (vgl nur Engelmann in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, § 31 RdNr 26 mwN) mit Wirkung ab aufgehoben haben, mit dem Leistungen nach § 2 AsylbLG ohne zeitliche Begrenzung über den hinaus bewilligt worden waren, und durch eine Neubewilligung ersetzt haben. In diesem Fall bedarf es regelmäßig keiner Leistungsklage, weil mit der Aufhebung der abändernden Bescheide der ursprüngliche Bescheid seine Wirkung wieder entfaltet, der Kläger sein Ziel also bereits mit der Anfechtungsklage verwirklichen kann (stRspr; Senatsurteil vom - B 8/9b AY 1/07 R - RdNr 11).
Die Begründetheit der Revision des Landkreises Uelzen als des richtigen Beklagten (§ 2 Abs 1 des Gesetzes zur Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen und zur Durchführung des AsylbLG - Aufnahmegesetz <AufnG> - vom - Gesetz- und Verordnungsblatt <GVBl> 100 -, zuletzt geändert durch Gesetz vom - GVBl 710) kann sich, selbst wenn der Beklagte seine Entscheidung nicht ausdrücklich hierauf gestützt hat, nur an § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) messen, der eine wesentliche Änderung nach Erlass eines früheren Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung - wie vorliegend des Bescheides vom - voraussetzt. Die Anwendbarkeit des § 48 SGB X ergibt sich dabei aus § 9 Abs 3 AsylbLG, der ausdrücklich auf die §§ 44 bis 50 SGB X Bezug nimmt (BSG SozR 4-3520 § 2 Nr 1 RdNr 12; vgl zur Anwendbarkeit der §§ 44 bis 50 SGB X auf das Leistungsrecht des AsylbLG auch Senatsurteil vom - B 8/9b AY 1/07 R). Auf § 45 SGB X kann demgegenüber die Rücknahme des Bescheides vom selbst dann nicht gestützt werden, wenn die Leistungsbewilligung zu Unrecht erfolgt sein sollte. § 45 Abs 1 und 2 SGB X setzen nämlich neben einer Vertrauensschutzabwägung die Ausübung von Ermessen voraus. Ermessen hat der Beklagte vorliegend erkennbar nicht ausgeübt, sondern eine gebundene "Neubewilligung" vorgenommen, die nicht in eine Rücknahme nach § 45 SGB X umdeutbar ist (§ 43 Abs 3 SGB X). Als wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X könnte allerdings auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG zu berücksichtigen sein, dass sich der Kläger im Jahre 2006, also nach Erlass des Bewilligungsbescheids vom , nicht in dem erforderlichen Maße um die Beschaffung der Ausreisedokumente bemüht hat. Dem stünde eine rechtswidrige Bewilligung der Leistung mit Bescheid vom nicht entgegen; § 48 SGB X kann auch bei rechtswidrigem Ausgangsbescheid zur Anwendung kommen (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 47 S 105).
Ob eine Aufhebung des Bewilligungsbescheids mit Wirkung für die Zukunft gerechtfertigt ist, ob dem Kläger also ab Leistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG iVm dem SGB XII nicht mehr, sondern nur noch Grundleistungen zustehen, kann der Senat nicht abschließend entscheiden, weil das LSG keine ausreichenden Feststellungen zu den insoweit erforderlichen Voraussetzungen des § 2 Abs 1 AsylbLG getroffen hat. Danach ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII nur auf diejenigen Leistungsberechtigten (des § 1 AsylbLG) entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten - wie vorliegend der Kläger - Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Zur Beurteilung eines Rechtsmissbrauchs nach den vom Senat aufgestellten Maßstäben (vgl dazu näher das Senatsurteil vom - B 8/9b AY 1/07 R) fehlen allerdings tatsächliche Feststellungen. Eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung ist nicht bereits darin zu sehen, dass der Kläger, sofern ihm die Ausreise überhaupt zumutbar war, nicht freiwillig ausgereist ist (BSG aaO). Zu fordern ist ein über die Nichtausreise (bzw die Stellung eines Asylantrages) hinausgehendes sozialwidriges Verhalten unter Berücksichtigung des Einzelfalls (BSG aaO), das nicht nur eine objektive, sondern auch eine subjektive Komponente (Vorsatz, bezogen auf die die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung, mit dem Ziel der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer) enthält (BSG aaO). Ein Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, könnte sich hier zwar daraus ergeben, dass der Kläger bei seiner Anhörung im Verfahren zur Anerkennung als Asylberechtigter einen Namen ("N Al S ") angegeben hat, der nicht mit demjenigen in den amtlichen irakischen Dokumenten ("N Z H ") übereinstimmt (vgl insoweit die in der Gesetzesbegründung beispielhaft aufgeführte Angabe einer falschen Identität <BT-Drucks 15/420 S 121>). Allerdings kann hierauf im Rahmen der Anwendung des § 48 SGB X nicht mehr zurückgegriffen werden, weil dies schon die Rechtswidrigkeit des Bescheids vom zur Folge hätte. Eine andere Frage ist es, ob dem Kläger nach Erlass dieses Bescheids, insbesondere zu Beginn des Jahres 2006, der Vorwurf gemacht werden kann, gegen Mitwirkungspflichten nach dem Asylverfahrensgesetz bzw dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG), etwa § 15 Asylverfahrensgesetz oder §§ 48, 49, 82 AufenthG, verstoßen zu haben. Hierzu fehlen nähere Feststellungen des LSG. Soweit es das Tatbestandsmerkmal "Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts" betrifft, ist auf den gesamten Zeitraum nach dem vorwerfbaren Verhalten abzustellen. In diesem Zusammenhang ist nicht entscheidend, ob der Missbrauchstatbestand aktuell andauert oder die Annahme rechtfertigt, er sei noch kausal für den derzeitigen Aufenthalt des Ausländers; dies gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn der Kläger auch ohne das Fehlverhalten in der gesamten maßgeblichen Zeit nicht hätte abgeschoben werden können (Senatsurteil vom - B 8/9b AY 1/07 R). Ansonsten genügt die generelle Geeignetheit, die Aufenthaltsdauer zu verlängern (BSG aaO).
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden und bei der Tenorierung die Klageart zu beachten haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
JAAAC-94669