Leitsatz
Der im gerichtlichen Disziplinarverfahren geltende Grundsatz der unmittelbaren Beweiserhebung durch das Verwaltungsgericht verbietet es, eine bestrittene, beweisbedürftige Tatsache statt im Wege des Zeugenbeweises durch Verlesen von Vernehmungsprotokollen des behördlichen Disziplinarverfahrens oder anderer gesetzlich geordneter Verfahren festzustellen.
Das Verwaltungsgericht darf die in einem anderen gesetzlich geordneten Verfahren getroffenen tatsächlichen Feststellungen nach § 57 Abs. 2 BDG seiner Entscheidung nur dann ohne erneute Prüfung zugrunde legen, wenn sie nicht bestritten werden.
Gesetze: GG Art. 103 Abs. 1; BDG § 13 Abs. 1; BDG § 13 Abs. 2; BDG § 57 Abs. 2; BDG § 58 Abs. 1; BDG § 58 Abs. 2; BDG § 65 Abs. 1; BDG § 65 Abs. 3; BDG § 69; VwGO § 86 Abs. 1; VwGO § 130a
Instanzenzug: VG München, VG M 13B DK 05.5514 vom VGH München, VGH 16b D 06.942 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein
Gründe
Die Beschwerde der Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil der Beschluss des Berufungsgerichts den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO und das Gebot der unmittelbaren Beweisaufnahme gemäß § 58 Abs. 1 BDG verletzt.
1. Die Beklagte wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit Unterschlagung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 30 € verurteilt. Als Tathandlungen wurden das zweimalige unberechtigte Kassieren von Beträgen (19,45 € von der Zeugin P. und 15,95 € von der Zeugin H.-A.) bei der Paketzustellung gegen Quittung mit dem Namenskürzel des am selben Tag im Zustellbezirk eingesetzten Briefzustellers und die Unterschlagung eines Fangbriefes mit 50 € Bargeld zugrunde gelegt. Das Verwaltungsgericht hat im sachgleichen Disziplinarklageverfahren die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis entfernt und dabei die im Strafbefehl zugrunde gelegten Tathandlungen als erwiesen erachtet. Die Beklagte müsse die Indizwirkung des Strafbefehls gegen sich gelten lassen, weil sie nach den Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht ihren Einspruch gegen den Strafbefehl zurückgenommen habe. Eine Beweisaufnahme hat das Verwaltungsgericht nicht durchgeführt.
Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach § 130a VwGO zurückgewiesen. Dabei hat es aus prozessökonomischen Gründen den Vorfall "Fangbrief" ausgeklammert und ist im Übrigen der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts beigetreten. Das Vorbringen der Beklagten biete keinen Anlass, weitere Ermittlungen anzustellen.
2. Unter der unrichtigen Bezeichnung als Divergenzrüge, aber sachlich zutreffend rügt die Beklagte, das Berufungsgericht sei gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO, § 58 Abs. 1 BDG verpflichtet gewesen, den beantragten Zeugenbeweis zu erheben. Da die Beklagte den Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in der Sache hinreichend substanziiert dargelegt hat, ist dessen unzureichende rechtliche Qualifizierung als Divergenz unschädlich (vgl. BVerwG 2 B 50.05 -).
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidungsfindung in Erwägung zu ziehen. Demnach muss das Gericht einem Beweisangebot nachgehen, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachenbehauptung nach seinem Rechtsstandpunkt erheblich ist und die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots im Prozessrecht keine Stütze findet ( BVerwG 2 B 108.04 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 1 m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben durfte das Berufungsgericht die Beweisangebote der Beklagten zu den beiden Vorgängen nicht übergehen. Die Beklagte hat das ihr zur Last gelegte Dienstvergehen bestritten und mit ihren Beweisanträgen das Ziel verfolgt, durch die Zeugenaussagen entlastet zu werden. Da der Berufungsentscheidung die beiden Vorgänge tragend zugrunde liegen, lag die Entscheidungserheblichkeit der beantragten Beweisaufnahme auf der Hand.
Gemäß § 58 Abs. 1 BDG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Demnach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind (vgl. auch BTDrucks 14/4659 S. 49, zu § 58 BDG). Entsprechend § 86 Abs. 1 VwGO folgt daraus die Verpflichtung, diejenigen Maßnahmen zur Sachaufklärung zu ergreifen, die sich nach Lage der Dinge aufdrängen. Dies gilt gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für die Berufungsinstanz (vgl. dazu Beschlüsse vom a.a.O., vom - BVerwG 2 B 9.07 - juris und vom - BVerwG 2 B 34.07 - juris). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung, der an die Stelle des früher gemäß § 75 Abs. 2 Satz 1 BDO geltenden Grundsatzes der mittelbaren Beweiserhebung getreten ist, verpflichtet das Verwaltungsgericht, alle erforderlichen Beweise selbst zu erheben. Es kann deshalb grundsätzlich nicht mehr eine bestrittene, beweisbedürftige Tatsache durch Verlesen von Vernehmungsprotokollen des behördlichen Disziplinarverfahrens oder anderer gesetzlich geordneter Verfahren feststellen. Von Zeugen hat es sich in der mündlichen Verhandlung selbst einen unmittelbaren persönlichen Eindruck zu verschaffen.
Diese Aufklärungspflicht wird durch § 58 Abs. 2, § 65 Abs. 3 BDG begrenzt, die die Ablehnung verspätet gestellter Beweisanträge ermöglichen. Ferner kann das Berufungsgericht nach § 65 Abs. 4 BDG vom Verwaltungsgericht erhobene Beweise seiner Entscheidung ohne erneute Beweisaufnahme zugrunde legen. Das Berufungsgericht hat seine Ablehnung der Beweisanträge aber nicht auf § 65 Abs. 3 oder 4 BDG gestützt, sondern auf § 57 Abs. 2 BDG. Danach sind die in einem anderen gesetzlich geordneten Verfahren getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht bindend, können aber der Entscheidung ohne erneute Prüfung zugrunde gelegt werden. Diese Vorschrift rechtfertigt es nur dann, von einer gerichtlichen Beweisaufnahme abzusehen, wenn die anderweitig festgestellten Tatsachen im gerichtlichen Disziplinarverfahren nicht mehr bestritten werden. Dieser eingeschränkte Bedeutungsgehalt des § 57 Abs. 2 BDG wird durch das im Wortlaut angelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis und den systematischen Zusammenhang mit dem nachfolgenden § 58 Abs. 1 BDG vorgegeben (ebenso bereits die stRspr des Disziplinarsenats zu § 18 Abs. 2 BDO: BVerwG 1 D 176.85 - BVerwGE 83, 221 und vom - BVerwG 1 D 11.91 - BVerwGE 93, 255 <259>). Danach ist im vorliegenden Fall für die Anwendung des § 57 Abs. 2 BDG kein Raum.
Das Berufungsgericht durfte die Beweisanträge der Beklagten zudem nicht unter Verweis auf die Beweiswürdigung in dem erstinstanzlichen Urteil und seine Ausführungen im Anhörungsschreiben ablehnen: Dort heißt es pauschal, dass das Gericht die von der Beklagten aufgezeigten Widersprüche in den Aussagen der Zeuginnen nicht sehe. Sodann werden hierzu andere Passagen aus deren Aussagen in der Verhandlung vor dem Strafgericht solchen aus den Vernehmungen bei der Polizei oder der Konzernsicherheit gegenübergestellt.
Ob Aufklärungsmaßnahmen den beabsichtigten Erfolg haben werden, lässt sich erst nach ihrer Durchführung beurteilen. Das Absehen von einer weiteren Sachaufklärung mit der Begründung, etwa in Betracht kommende Beweismittel würden voraussichtlich nicht den gewünschten Aufschluss erbringen, stellt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung und damit eine Verletzung der Verpflichtung des Gerichts gemäß § 86 Abs. 1 VwGO, § 58 Abs. 1 i.V.m. § 65 Abs. 1 BDG dar, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (vgl. BVerwG 2 C 5.97 - BVerwGE 106, 263 <265 f.>). Die nach Einschätzung des Gerichts geringe Wahrscheinlichkeit, dass Aufklärungsmaßnahmen zu weiteren Erkenntnissen führen werden, begrenzt nicht die Amtsermittlungspflicht (Beschlüsse vom - BVerwG 2 B 29.00 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 310, vom a.a.O. und vom a.a.O.). Dies gilt erst recht, wenn ein Gericht jegliche Beweisaufnahme ablehnt, weil es bereits vorher vom Gegenteil überzeugt ist. Das Berufungsgericht wird daher die Zeugen auch zu den von der Beklagten aufgezeigten Widersprüchen zu befragen haben.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
In Disziplinarklageverfahren nach dem Bundesdisziplinargesetz darf das Berufungsgericht nicht - wie geschehen - gemäß § 130a VwGO auf eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, Aberkennung des Ruhegehalts oder Zurückstufung erkennen oder eine solche Entscheidung bestätigen. Diese Vorschrift ist wegen der Sonderregelung des § 59 BDG nicht anwendbar, der über die Verweisungsnorm des § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG im Berufungsverfahren Anwendung findet ( BVerwG 2 C 43.07 - Buchholz 235.1 § 65 BDG Nr. 2).
Bei einer Ablehnung der Beweisanträge zum "Fangbrief" aus prozessökonomischen Gründen könnte nicht - wie geschehen - mit einem Verweis auf die Urteilsgründe des Verwaltungsgerichts eine Entfernung aus dem Dienst begründet werden. Denn der vom Verwaltungsgericht verneinte Milderungsgrund der Geringwertigkeit wäre dann als entlastender Umstand zu berücksichtigen und die zum "Fangbrief" vom Verwaltungsgericht aufgeführten weiteren belastenden Umstände, mit denen es die Dienstentfernung begründet hat, wären dann hinfällig. Eine solche Begründung ließe nicht erkennen, welche Rechtssätze für das Berufungsgericht überhaupt leitend sind und welche Feststellungen es im Hinblick darauf als entscheidungserheblich ansieht, so dass sie gegen die Begründungsanforderungen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 3 BDG verstößt (stRspr, vgl. BVerwG 2 B 5.05 - Buchholz 235.1 § 66 BDG Nr. 1 m.w.N.).
Es spricht zudem vieles dafür, dass auch der Nachweis der beiden ersten Vorgänge nicht ausreicht, um die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 und 3 BDG nach der Schwere des nachgewiesenen Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis setzt gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG voraus, dass der Beamte durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Die Schwere des Dienstvergehens beurteilt sich nach objektiven Handlungsmerkmalen wie Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung, Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens, subjektiven Handlungsmerkmalen wie Form und Gewicht des Verschuldens des Beamten und Beweggründen für sein Verhalten sowie den unmittelbaren Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte. Ein endgültiger Vertrauensverlust gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist eingetreten, wenn die Gesamtwürdigung der bedeutsamen Umstände ergibt, dass der Beamte auch künftig seinen Dienstpflichten nicht nachkommen wird oder die Ansehensschädigung nicht wiedergutzumachen ist ( BVerwG 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252 <258 ff.> und vom - BVerwG 2 C 9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3, vgl. auch Urteil vom a.a.O.).
Die Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG gelten auch für die Fallgruppe der Zugriffsdelikte, d.h. für die Veruntreuung dienstlich anvertrauter Gelder und Güter einschließlich der Gebührenüberhebung. Aufgrund der Schwere dieser Dienstvergehen ist hier die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die Beträge oder Gegenstände insgesamt die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigen (Urteile vom a.a.O., vom a.a.O. und vom a.a.O.). Daher muss das Berufungsgericht durch Erhebung der erforderlichen Beweise feststellen, ob der Beklagten die Unterschlagung des Geldbetrags in dem Fangbrief zur gerichtlichen Überzeugung nachgewiesen werden kann. Der Nachweis kann nicht durch Plausibilitätserwägungen auf der Grundlage des Akteninhalts geführt werden.
Fundstelle(n):
EAAAC-92572