Leitsatz
[1] Die beantragte Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens zum Beweis des Ursachenzusammenhangs zwischen einem Unfall und vorhandenen Beschwerden ist nur dann nicht erforderlich, wenn auszuschließen ist, dass die Partei damit den Beweis der Unfallursächlichkeit führen kann.
Gesetze: ZPO § 286 B
Instanzenzug: AG München, 331 C 14009/04 vom LG München I, 19 S 4629/06 vom
Tatbestand
Die Parteien streiten um restliche Schadensersatzansprüche aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am gegen 9:30 Uhr ereignete. Als die Klägerin mit ihrem PKW VW Golf an einer Kreuzung vor einer Lichtzeichenanlage, die für sie Rotlicht zeigte, hielt, fuhr ein Mercedes Kombi, dessen Halterin die Beklagte zu 1 und dessen Haftpflichtversicherer die Beklagte zu 2 ist, von hinten auf ihr Fahrzeug auf. Die volle Haftung der Beklagten steht dem Grunde nach außer Streit. An dem PKW der Klägerin entstand ein Sachschaden von 786,04 €, an dem anderen Fahrzeug ein solcher von 1.810,35 €.
Die Klägerin behauptet, sie habe bei dem Unfall ein HWS-Schleudertrauma und eine schwere Kniegelenksdistorsion rechts erlitten und sei deshalb vom 6. März bis arbeitsunfähig gewesen. Sie begehrt ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 2.000,00 €, Ersatz von Heilbehandlungskosten in Höhe von 646,19 € und Ausgleich eines Verdienstausfallschadens in Höhe von 2.208,64 €.
Das Amtsgericht hat ein biomechanisches Sachverständigengutachten des Diplom-Ingenieurs und Humanbiologen Dr. A. eingeholt und die Klage abgewiesen. Das Landgericht hat die Berufung der Klägerin nach Einholung eines Ergänzungsgutachtens und persönlicher Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Gründe
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass die von der Klägerin geklagten Beschwerden nicht auf den Verkehrsunfall zurückzuführen seien. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei das Beklagtenfahrzeug mit einer Kollisionsgeschwindigkeit von etwa 5 bis 8 km/h aufgefahren. Dadurch sei der PKW der Klägerin um ca. 5 bis 6 km/h beschleunigt worden. 6 km/h sei aufgrund des Schadensbildes an beiden Fahrzeugen die maximal mögliche Geschwindigkeitsänderung des klägerischen Fahrzeugs. Dieses sei mit einer Spitzenbeschleunigung von gerundet ca. 2,4 bis 3,5 g nach vorne beschleunigt worden. Wenn die Klägerin, die zum Unfallzeitpunkt mit beiden Füßen das Kupplungs- und das Bremspedal bedient habe, aufgrund der unfallbedingten Beschleunigung mit ihrem rechten Knie in der vom Sachverständigen beschriebenen dritten Bewegungsphase (sog. Rebound) die Lenkradsäule berührt haben sollte, hätte dies allenfalls mit einer Relativgeschwindigkeit von 2 bis maximal 3 km/h erfolgen können. Ein derart leichter Anstoß reiche nicht aus, um eine Kontusion oder gar eine Kniegelenksdistorsion herbeizuführen. Auch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und der HWS-Distorsion sei nicht mit hinreichender Sicherheit nachweisbar. Bei der von den behandelnden Ärzten gestellten Diagnose handele es sich um eine nicht objektivierbare Verdachtsdiagnose. Morphologisch fassbare Befunde lägen nicht vor. Die unfallbedingte Belastung der Halswirbelsäule habe für das Entstehen einer HWS-Distorsion nicht ausgereicht. Die im Bereich des Kopf-Hals-Systems aufgetretene maximale Spitzenbeschleunigung von 2,5 g habe dazu geführt, dass zwischen Kopf und Hals Spitzenkräfte der Größenordnung von 30 Newton und im Bereich zwischen Hals- und Brustwirbelsäule Spitzenkräfte von maximal 55 Newton eingewirkt hätten. Dies seien Belastungen des täglichen Lebens. Die Klägerin verfüge über eine normale Konstitution und eine normal ausgebildete Muskulatur im Halsbereich. Degenerative Vorschäden seien nicht vorhanden.
Der Sachverständige Dr. A. verfüge als Biomechaniker über die zur Beurteilung der maßgeblichen Fragen erforderliche Sachkunde. Wenn ein biomechanisches Gutachten - wie hier - zu dem Ergebnis komme, dass eine Kausalität zwischen den behaupteten Verletzungen und dem Unfallgeschehen nicht hinreichend nachweisbar oder gar auszuschließen sei, sei eine weitere Begutachtung nicht erforderlich. Insbesondere sei in einem solchen Fall kein fachmedizinisches Gutachten einzuholen. Ein solches könne im besten Fall vorhandene Beschwerden verifizieren, es könne aber nicht bewerten, ob diese auf dem Unfall beruhen. Die Unfallursächlichkeit könne vorliegend auch weder durch Vernehmung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen noch durch Vernehmung des Ehemannes, von Arbeitskollegen und Freunden als Zeugen geklärt werden. Diesen Beweisanträgen der Klägerin sei deshalb ebenso wenig nachzugehen wie ihrem Antrag auf Parteivernehmung oder Anhörung.
II.
Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Im Ansatz zutreffend legt das Berufungsgericht allerdings der von ihm vorgenommenen Prüfung, ob die von der Klägerin geklagten Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen sind, die strengen Anforderungen des Vollbeweises gemäß § 286 ZPO zugrunde, denn die Frage, ob sich die Klägerin überhaupt eine Verletzung zugezogen hat, betrifft den nach dieser Vorschrift zu führenden Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität (BGHZ 4, 192, 196; - VersR 1968, 850, 851; vom - VI ZR 129/73 - VersR 1975, 540, 541 und vom - VI ZR 15/85 - VersR 1987, 310, jeweils m.w.N.).
Danach hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (st. Rspr.; vgl. BGHZ 53, 245, 256; - VersR 1977, 721 und Senatsurteil vom - VI ZR 268/88 - VersR 1989, 758, 759). Die Würdigung von Sachverständigengutachten ist als Bestandteil der Beweiswürdigung grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., vgl. z.B. BGHZ 160, 308, 317 m.w.N.; Senatsurteil vom - VI ZR 10/96 - VersR 1997, 362, 364).
2. Diese Grundsätze zieht die Revision nicht in Zweifel. Sie rügt jedoch eine unzureichende Sachaufklärung durch das Berufungsgericht und beanstandet, dass dieses seine Beurteilung, die Ursächlichkeit des Unfalls für die von der Klägerin geklagten Beschwerden sei nicht nachgewiesen, allein auf die Bewertung des Sachverständigen Dr. A. gestützt und von einer weiteren Sachaufklärung abgesehen hat.
a) Dabei wendet sich die Revision nicht dagegen, dass eine Vernehmung der behandelnden Ärzte in den Tatsacheninstanzen unterblieben ist. Sie rügt vielmehr, das Berufungsgericht habe die in den von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Attesten dokumentierten Diagnosen nicht in ausreichendem Maße gewürdigt.
aa) Welche Bedeutung der medizinischen Erstuntersuchung nach einem Verkehrsunfall zukommt, ist umstritten. So wird in der Rechtsprechung die Frage, inwieweit aus dem Ergebnis einer Erstuntersuchung - wie z.B. der hiernach erfolgten ärztlichen Verordnung einer so genannten Schanz'schen Krawatte - Schlüsse auf den damaligen Befund gezogen werden können, unterschiedlich beurteilt (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 2001, 511; OLG Hamm, VersR 2002, 992, 994; OLG München, r+s 2002, 370, 371; a.A. OLG Bamberg, NZV 2001, 470). Da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt, steht für ihn die Notwendigkeit einer Therapie im Mittelpunkt, während die Benennung der Diagnose als solche für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung ist. Deshalb sind zeitnah nach einem Unfall erstellte ärztliche Atteste für den medizinischen Sachverständigen eher von untergeordneter Bedeutung (Mazzotti/Castro, NZV 2008, 113, 114). Eine ausschlaggebende Bedeutung wird solchen Diagnosen im Allgemeinen jedenfalls nicht beizumessen sein (so aber OLG Bamberg, aaO). Im Regelfall wird das Ergebnis einer solchen Untersuchung nur als eines unter mehreren Indizien für den Zustand des Geschädigten nach dem Unfall Berücksichtigung finden können (Müller, VersR 2003, 137, 146; ebenso v. Hadeln, NZV 2001, 457, 458 f.). Eine Vernehmung der behandelnden Ärzte als Zeugen oder sachverständige Zeugen ist zudem entbehrlich, wenn das Ergebnis ihrer Befundung schriftlich niedergelegt, vom Sachverständigen gewürdigt und in die Beweiswürdigung einbezogen worden ist, denn bei der Frage nach einem Zusammenhang der geltend gemachten Beschwerden mit dem Unfallgeschehen kommt es allein auf die Beurteilung durch Sachverständige und nicht auf die Aussagen von Zeugen an ( - VersR 2000, 372, 373 und vom - VI ZR 254/05 - VersR 2008, 235, 237 f.).
bb) Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht den Beweiswert der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Atteste nicht verkannt. Dass es die dort dokumentierten Befunde wie Übelkeit, Kopfschmerzen, Bewegungseinschränkungen, Druckschmerzhaftigkeit und Muskelverhärtungen als wenig aussagekräftig gewürdigt hat, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Die genannten Befunde, die teilweise allein auf Schilderungen der Klägerin beruhen, sind im Wesentlichen unspezifisch, da sie sowohl bei unfallunabhängigen als auch bei unfallabhängigen Beschwerdebildern insbesondere der Halswirbelsäule vorliegen können. Sie sind, wie klinische Erfahrungen und Studien ergeben haben, ebenso wenig verletzungstypisch wie etwa auch ein röntgenologischer Befund einer Steilstellung der Halswirbelsäule (Mazzotti/Castro, aaO m.w.N.).
b) Die Revision beanstandet jedoch mit Erfolg, dass das Berufungsgericht den Beweis eines Ursachenzusammenhangs zwischen dem Verkehrsunfall der Klägerin und den von ihr danach beschriebenen Beschwerden, deren Vorhandensein es für sein Urteil als wahr unterstellt hat, auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. A. als nicht geführt angesehen hat.
aa) Der gerichtliche Sachverständige verneint einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den geklagten Beschwerden im Halsbereich mit der Begründung, dass die im Streitfall anzunehmende kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 5 bis 6 km/h zu einer Relativbewegung der Fahrzeuginsassin gegenüber der Fahrgastzelle geführt habe, dieser Bewegungsbeginn aber noch kein verletzungsmechanisch relevantes Potenzial gehabt haben könne, es sei denn, es hätten gravierende degenerative Veränderungen vorgelegen, was nach den ärztlichen Feststellungen aufgrund der durchgeführten Röntgenuntersuchung bei der Klägerin aber gerade nicht der Fall gewesen sei. Die Belastungen, denen diese ausgesetzt gewesen sei, hätten sich lediglich in einem Bereich bewegt, wie er auch im täglichen Leben vorkomme, so beispielsweise, wenn man sich in einen Stuhl hineinfallen lasse oder wenn man bei sportlicher Betätigung angerempelt werde. Diese biomechanisch ausgerichtete Betrachtungsweise wird den an die Beurteilung des Kausalitätszusammenhangs zu stellenden Anforderungen nicht gerecht. Das gilt auch für die Bewertung, wonach ein Anstoß des Knies mit einer Relativgeschwindigkeit von 2 bis 3 km/h nicht ausreiche, um eine Kontusion oder gar eine schwere Kniegelenksdistorsion herbeizuführen.
bb) Wie der Sachverständige Dr. A. bei der mündlichen Erläuterung seiner Gutachten selbst eingeräumt hat, gibt es auch unter biomechanischen Gesichtspunkten keine starre Grenze hinsichtlich der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung für die Verursachung einer Verletzung an der Halswirbelsäule. Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine solche Verletzung verursacht hat, sind vielmehr stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Gegen die schematische Annahme einer "Harmlosigkeitsgrenze" spricht, dass die Beantwortung der Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, sondern daneben von einer Reihe anderer Faktoren abhängt, wobei u.a. auch der Sitzposition des betreffenden Fahrzeuginsassen Bedeutung beizumessen sein kann (Senatsurteil vom - VI ZR 139/02 - VersR 2003, 474, 475 m.w.N.). Die Klägerin hat zum Beweis der Ursächlichkeit des Unfalls für ihre Beschwerden die Einholung eines fachmedizinischen Sachverständigengutachtens beantragt. Diesem Beweisantrag hätte das Berufungsgericht unter den Umständen des Falles nachgehen müssen. Seine Erwägung, wonach ein medizinisches Gutachten im Streitfall keine weiteren Aufschlüsse liefern könne, beruht, wie die Revision mit Recht geltend macht, auf einer unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung.
cc) Die Einholung eines medizinischen Gutachtens wäre nur dann nicht erforderlich, wenn auszuschließen wäre, dass die Klägerin damit den Beweis der Unfallursächlichkeit führen könnte. Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall und kann entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht im Hinblick auf die Beurteilung des Sachverständigen Dr. A. bejaht werden, denn nach den getroffenen Feststellungen verfügt dieser als Biomechaniker nicht über die erforderliche medizinische Fachkompetenz (vgl. hierzu Mazzotti/Castro, NZV 2008, 16 und 113, 114). Die Aussagekraft seiner Beurteilung leidet auch darunter, dass seine Begutachtung notgedrungen ohne eine eigene medizinische Untersuchung der Klägerin erfolgt ist, sodass sich seine Aussagen zur Konstitution der Klägerin und zur Belastbarkeit ihres Kopf-Hals-Bereichs als problematisch erweisen. Deshalb war die Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens im Streitfall auch nicht etwa mit Rücksicht darauf entbehrlich, dass sich Dr. A. als Biomechaniker auf Verletzungen aufgrund von Verkehrsunfällen spezialisiert und an der medizinischen Fakultät einer Hochschule über Toleranzgrößen von Schädel-Hirn-Traumen promoviert hat. Seine auf diesem Gebiet erworbenen Spezialkenntnisse lassen, wie die Revision mit Recht geltend macht, keinen Rückschluss darauf zu, ob er für die hier zu beurteilenden Fragen über den Kenntnisstand eines Fachmediziners verfügt. Das Berufungsgericht legt auch nicht dar, dass es selbst über ausreichende eigene Sachkunde verfügt und deshalb die Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens entbehrlich gewesen wäre.
3. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit dieses die erforderlichen Feststellungen nachholen kann.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW-RR 2008 S. 1380 Nr. 19
NAAAC-85253
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja