BVerwG Beschluss v. - 1 C 20.07

Leitsatz

Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Klärung insbesondere der Frage, ob das gemäß Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 als Familienangehöriger erworbene Beschäftigungs- und Aufenthaltsrecht des Ehegatten einer türkischen Arbeitnehmerin auch nach Scheidung der Ehe fortbesteht.

Gesetze: AufenthG § 55; AufenthG § 56; Richtlinie 64/221/EWG Art. 9; Richtlinie 2004/38/EG Art. 13; Richtlinie 2004/38/EG Art. 16; Verordnung Nr. 1612/68 des Rates der EWG Art. 10; Verordnung Nr. 1612/68 des Rates der EWG Art. 11; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - Art. 6; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - Art. 7; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - Art. 14; Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei - ZP - Art. 59

Instanzenzug: VG Stuttgart, VG 16 K 2801/05 vom VGH Mannheim, VGH 13 S 2292/06 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein

Gründe

I

Der im Jahr 1959 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland.

Er reiste im April 1992 nach Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Im September 1993 heiratete er eine ebenfalls türkische Staatsangehörige, die dauerhaft einer unselbständigen Erwerbstätigkeit als Verkäuferin nachging und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaß. Daraufhin erhielt er im Oktober 1993 eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die im Oktober 1998 unbefristet verlängert wurde. Seinen Asylantrag nahm der Kläger nach der Eheschließung zurück. Seit Juni 2000 lebte er von seiner Ehefrau getrennt; die Ehe wurde im November 2003 rechtskräftig geschieden. Die Ehefrau war bereits im Jahr 1999 eingebürgert worden.

Während seines Aufenthalts in Deutschland ging der Kläger einer Beschäftigung bei verschiedenen Arbeitgebern nach. Die genauen Zeiten der Beschäftigung konnten nicht festgestellt werden, da der Kläger trotz entsprechender Aufforderung des Beklagten hierzu keine konkreten Angaben gemacht und auch keine Belege vorgelegt hat. Seit Anfang 2000 war der Kläger für 18 Monate krankgeschrieben und musste sich in Frankreich einer Operation wegen eines Tumors im Kopf unterziehen. Diese verlief zwar weitgehend erfolgreich, doch litt der Kläger auch in der Folgezeit noch unter Kopfschmerzen und Ohnmachtsanfällen. Er verlor seinen Arbeitsplatz durch Kündigung des Arbeitgebers zum Ende der Krankschreibung. Seitdem ist er beschäftigungslos und bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, nunmehr nach dem Sozialgesetzbuch Teil II (SGB II). Von Juni 2000 an war er obdachlos und in einer städtischen Obdachlosenunterkunft untergebracht. Seit November 2005 wohnt er in einer möblierten Kleinwohnung, die ihm sein Bruder vermietet.

Der Kläger wurde mehrfach wegen Straftaten verurteilt. Im Mai 1996 wurde gegen ihn eine Freiheitsstrafe von vier Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung, im November 2000 eine Freiheitsstrafe von acht Monaten wegen Körperverletzung, versuchter gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung verhängt. Im Mai 2004 wurde er wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und Bedrohung verurteilt. Das Strafmaß wurde in zweiter Instanz auf zwei Jahre festgesetzt und das Strafverfahren wegen Bedrohung eingestellt. Nach den strafgerichtlichen Feststellungen reiste der Kläger im Juli 2002 mit seiner getrennt von ihm lebenden Ehefrau nach Istanbul, um dort ein gemeinsames Bankkonto aufzulösen. Vor dem Termin bei der Bank zwang er sie zum Geschlechtsverkehr, indem er sie auf sein Bett warf, ihren Widerstand mit seiner überlegenen Kraft brach und ihr dabei mit der Faust ins Gesicht schlug und verletzte. Die Vollstreckung der Strafe wurde in zweiter Instanz zur Bewährung ausgesetzt. Im Januar 2005 wurde der Kläger aus der Untersuchungshaft entlassen.

Mit Bescheid vom wies ihn der Beklagte unter Anordnung des Sofortvollzuges aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger erfülle wegen seiner letzten Verurteilung den Tatbestand einer Ermessensausweisung nach § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Zwar genieße er besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, er erfülle jedoch die erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Die in mehreren Straftaten gezeigte Gewaltbereitschaft rechtfertige die Annahme, dass von ihm auch zukünftig eine hohe Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Das öffentliche Interesse am Schutz hochrangiger Rechtsgüter habe höheres Gewicht als die schutzwürdigen persönlichen Interessen des Klägers. Eine Rechtsposition nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei (ARB 1/80) habe der Kläger nicht, weil er seit Verlust des letzten Arbeitsplatzes nicht in angemessener Frist eine neue Arbeit gefunden habe und sich auch nicht ernsthaft darum bemühe.

Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag des Klägers im September 2005 die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Ausweisung wiederhergestellt und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung angeordnet. Mit Urteil vom hat es die Ausweisungsverfügung aufgehoben.

Die hiergegen eingelegte Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat er im Wesentlichen damit begründet, dass sich der Kläger auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 berufen könne. Er habe daher nur unter Beachtung der für freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger geltenden verfahrensrechtlichen Maßstäbe ausgewiesen werden können. Es fehle an der in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vorgeschriebenen Beteiligung einer zweiten Stelle vor Erlass der Ausweisungsverfügung. Ein dringender Fall, der ein Absehen von der Beteiligung einer zweiten Stelle rechtfertigen könne, habe nicht vorgelegen. Der angefochtene Bescheid sei daher rechtswidrig. Der Kläger habe die von ihm erworbene Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 auch nicht dadurch verloren, dass er nach 2000 arbeitslos wurde, wegen Krankheit wohl auch endgültig aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden ist und etwa neun Monate inhaftiert war. Das Aufenthaltsrecht sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vielmehr vom Fortbestehen der Erwerbsvoraussetzungen unabhängig. Dem Kläger sei auch nicht verwehrt, sich auf seine Rechtsposition aus dem ARB 1/80 zu berufen.

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision. Er beruft sich im Wesentlichen darauf, dass der Kläger der Ausweisung aus zwei Gründen nicht die nach Art. 7 ARB 1/80 erworbene Rechtsposition entgegenhalten könne. Zum einen besitze er die Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 nicht mehr, weil er endgültig aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sei. Auch nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften sei nicht davon auszugehen, dass Art. 7 ARB 1/80 einen vom Zugang zur Beschäftigung völlig losgelösten Aufenthalt einräume. Zum anderen sei es - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs - dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers verwehrt, sich auf Art. 7, 14 ARB 1/80 zu berufen, wenn er wie hier den die Rechtsstellung vermittelnden Stammberechtigten massiv in seiner körperlichen Unversehrtheit verletzt habe.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom (Bl. 116) der Sache nach beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom und das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich an dem Verfahren und hält die Revision für begründet. Er schließt sich der Argumentation des Beklagten an, dass sich der Kläger nicht mehr auf das aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht berufen könne, dieses vielmehr wegen des Ausscheidens des Klägers aus dem Arbeitsmarkt erloschen sei.

II

Der Senat hat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom (ARB 1/80) einzuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3 EG). Da es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig (1.). Die vorgelegten Fragen zur Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei sind entscheidungserheblich (2.) und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof (3.).

1. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom zum Gegenstand einer Vorabentscheidung nach Art. 234 EG gemacht werden kann. Denn die Bestimmungen eines vom Rat gemäß den Artikeln 300 und 310 EG (früher: Artikel 228 und 238 EWG-Vertrag) geschlossenen Abkommens - hier: des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei vom - bilden von dessen Inkrafttreten an einen integralen Bestandteil der Gemeinschaftsordnung. Dies gilt auch für Beschlüsse des Assoziationsrates wegen ihres unmittelbaren Zusammenhangs mit dem ihnen zugrunde liegenden Abkommen (vgl. Urteil vom Sevince C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Rn. 7 - 12).

2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich.

Die auf § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 und § 56 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) gestützte Ausweisungsverfügung verstößt - einschließlich der darin getroffenen Ermessensentscheidung - nicht gegen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts.

Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es darauf an, ob sich der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung auf eine geschützte Rechtsposition nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 berufen konnte. Denn dann durfte die Verfügung nicht - wie hier geschehen - ohne Beteiligung einer unabhängigen Stelle erlassen werden. Das ergibt sich aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom (ABl 1964, Nr. 56, S. 850), dessen Verfahrensanforderungen auch für Inhaber eines aus dem ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts gelten. Das Bundesverwaltungsgericht folgt damit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (vgl. Urteil vom , Dörr und Ünal, C-136/03, Slg. 2005, I-4759, Rn. 66 bis 69). Der beschließende Senat hat in seinem BVerwG 1 C 7.04 - (BVerwGE 124, 217 <221 ff.>) näher ausgeführt, dass die Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG auch auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige anwendbar sind, weil die gerichtlichen Rechtsmittel gegen Ausweisungen nach der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung "nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen" und keine Zweckmäßigkeitsprüfung eröffnen, wie sie der Gerichtshof verlangt. Der Senat hat weiter entschieden, dass nach Abschaffung des behördlichen Widerspruchsverfahrens bei Ausweisungen im Zuständigkeitsbereich des Beklagten die gemeinschaftsrechtlich geforderte Beteiligung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde entfallen ist und deshalb Ausweisungen der begünstigten Ausländer wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig sind, es sei denn, es hätte ein "dringender Fall" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG vorgelegen.

Mit Recht ist das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass hier kein "dringender Fall" vorlag, der die Beteiligung der unabhängigen Stelle hätte entbehrlich machen können (UA S. 12 - 14). Die zur Begründung der Ausweisung maßgeblich herangezogene Straftat des Klägers gegen seine damalige Ehefrau wurde im Juli 2002 begangen. Die erstinstanzliche Verurteilung datiert vom Mai 2004, das zweitinstanzliche Urteil vom Januar 2005, das auch im gleichen Monat rechtskräftig wurde und zur Haftentlassung des Klägers auf Bewährung führte. Es ist kein Grund ersichtlich, warum in den knapp sechs Monaten zwischen Haftentlassung () und Ausweisungsverfügung () die Beteiligung einer unabhängigen Stelle nicht möglich gewesen sein sollte. Die Revision greift die diesbezügliche Würdigung des Berufungsgerichts auch nicht an.

Der Verstoß gegen die Verfahrensanforderungen des Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG ist hier rechtlich beachtlich, obwohl die Richtlinie 64/221/EWG gemäß Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG (ABl L 158 vom , S. 77) mit Ablauf des außer Kraft getreten ist. Der Senat hat in seinem BVerwG 1 C 47.06 - (BVerwGE 129, 162) im Einzelnen ausgeführt, dass sich nach den Grundsätzen des intertemporalen Verfahrensrechts die Rechtmäßigkeit eines Ausweisungsverfahrens nach den zum Zeitpunkt seiner Durchführung - hier im Jahr 2005 - geltenden Verfahrensregeln bestimmt und nicht nach den nach Abschluss des Verfahrens erst in Kraft getretenen Regelungen (BVerwG 1 C 47.06 a.a.O. Rn. 26 - 30).

a) Der Kläger kann den von ihm beanspruchten erhöhten Ausweisungsschutz nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei nicht aus Art. 6 ARB 1/80 ableiten. Zwar ging der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bei verschiedenen Arbeitgebern einer Beschäftigung nach. Die genauen Zeiten der Beschäftigung konnten vom Berufungsgericht aber nicht festgestellt werden, da der Kläger trotz entsprechender Aufforderung des Beklagten hierzu keine konkreten Angaben gemacht und auch keine Belege vorgelegt hat (UA S. 2). Ohne eine entsprechende Mitwirkung des Klägers lässt sich jedoch nicht feststellen, ob er eine Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 erworben und infolge seiner mehrjährigen Arbeitslosigkeit möglicherweise wieder verloren hat.

b) Der Kläger hat hingegen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts den Rechtsstatus nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben, weil er durch seine Heirat im September 1993 Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt in Deutschland angehörenden türkischen Arbeitnehmerin geworden ist und mehr als 5 Jahre mit ihr zusammengelebt hat (Trennung im Jahr 2000). Der Kläger hatte im Rahmen des Familiennachzugs auch die Genehmigung erhalten, zu seiner damaligen Ehefrau zu ziehen (vgl. Ausweisungsbescheid S. 5).

Mit Recht ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger die erworbene Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht dadurch verloren hat, dass er seit seiner vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung im Jahr 2000 zum Ende der 18-monatigen Krankschreibung keiner Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt mehr nachgegangen ist. Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften können die Aufenthaltsrechte nach Art. 7 ARB 1/80 nur unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. Urteile vom , Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Rn. 45, 46 und 48; vom , Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Rn. 36 und 38; vom , Aydinli, C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Rn. 27, vom , Torun, C-502/04, Slg. 2006, I-1563, Rn. 21; vom , Derin, C-325/05, Slg. 2007, I-06495, Rn. 54). Dabei ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter der beiden genannten Verlustgründe auszugehen. Während der Gerichtshof in seiner früheren Rechtsprechung die beiden Verlusttatbestände nannte, ohne ausdrücklich von ihrem abschließenden Charakter zu sprechen (vgl. die oben genannten Urteile in den Sachen Ergat, Cetinkaya und Aydinli), betont er in neueren Entscheidungen, das Recht aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 könne "nur" unter diesen Voraussetzungen eingeschränkt werden (vgl. die Urteile in den Sachen Torun und Derin).

Hier liegt keiner der beiden vom Gerichtshof anerkannten Verlustgründe vor. Im Übrigen hat das Berufungsgericht auch nicht das endgültige Ausscheiden des Klägers aus dem Arbeitsmarkt festgestellt, auf das sich die Revision als Verlustgrund beruft. Es versieht seine diesbezügliche Feststellung vielmehr mit dem relativierenden Zusatz, er sei wegen Krankheit "wohl" endgültig aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden (UA S. 9). Zudem bezieht der 49 Jahre alte Kläger Arbeitslosengeld II und nicht Sozialhilfe, was gegen sein endgültiges Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt spricht.

3. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung von Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.

a) Durch die Frage 1 soll geklärt werden, ob das gemäß Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 als Familienangehöriger erworbene Beschäftigungs- und Aufenthaltsrecht des Ehegatten auch nach Scheidung der Ehe mit dem Stammberechtigten erhalten bleibt. Für die Kinder eines die Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 vermittelnden türkischen Arbeitnehmers hat der Gerichtshof entschieden, dass diese ihr aus dem Beschäftigungsanspruch abgeleitetes Aufenthaltsrecht, wenn sie es rechtmäßig erworben haben, auch dann behalten, wenn sie nicht mehr bei dem Stammberechtigten wohnen, sondern ein eigenständiges Leben führen (vgl. Urteile vom , Aydinli, C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Rn. 32; vom , Derin, C-325/05, a.a.O. Rn. 57; vom , Polat, C-349/06, Rn. 21). Für geschiedene Ehepartner hat der Gerichtshof - soweit für den Senat ersichtlich - eine vergleichbare Entscheidung bisher nicht getroffen. Zwar finden sich in den genannten Entscheidungen Ausführungen, die von der selbständigen Stellung "des Familienangehörigen" nach Erwerb der Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 sprechen, ohne dies auf die Kinder eines Stammberechtigten zu beschränken. So führt der Gerichtshof etwa in seinem Urteil vom in der Sache, Derin, Rn. 49 - 53 Folgendes aus:

49 Wie, erstens, der Gerichtshof hierzu bereits entschieden hat, steht der Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf diese Art von Fällen nicht entgegen, dass der Betroffene zum Zeitpunkt des Ausgangssachverhalts volljährig ist und nicht mehr in häuslicher Gemeinschaft mit seiner Familie zusammenlebt, sondern im betreffenden Mitgliedstaat ein von dem Arbeitnehmer unabhängiges Leben führt (vgl. u. a. Urteile Aydinli, Rn. 22, und entsprechend Torun, Rn. 27 und 28).

50 Ein solcher türkischer Staatsangehöriger verliert daher ein nach Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworbenes Recht nicht deshalb, weil Umstände der in der vorstehenden Randnummer genannten Art eintreten. Denn das Recht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, nach einer gewissen Zeit Zugang zu einer Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat zu haben, soll gerade ihre Stellung in diesem Staat festigen, indem ihnen die Möglichkeit gegeben wird, unabhängig zu werden (vgl. Urteil Aydinli, Rn. 23).

51 Darüber hinaus verlangt zwar Art. 7 Satz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 grundsätzlich, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers mit diesem während des Zeitraums von drei Jahren, in dem der Betroffene selbst nicht die Voraussetzungen für einen Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllt, eine tatsächliche Lebensgemeinschaft führt (vgl. Urteile vom , Kadiman, C-351/95, Slg. 1997, I-2133, Rn. 33, 37, 40, 41 und 44, vom , Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Rn. 36 und 37, vom , Eyüp, C-65/98, Slg. 2000, I-4747, Rn. 28 und 29, sowie Cetinkaya, Rn. 30), doch sind die Mitgliedstaaten nicht befugt, den Aufenthalt eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers auch noch nach Ablauf dieses Dreijahreszeitraums von Voraussetzungen abhängig zu machen; das gilt erst recht für einen türkischen Migranten, der die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich erfüllt (vgl. Urteile Ergat, Rn. 37 bis 39, Cetinkaya, Rn. 30, und Aydinli, Rn. 24).

52 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 30 und 31 sowie 120 bis 123 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Gerichtshof insoweit bezüglich der in Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Familienangehörigen, die wie Herr Derin nach fünfjährigem ordnungsgemäßem Wohnsitz gemäß dem zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung ein Recht auf freien Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat erworben haben, entschieden, dass aus der unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung nicht nur folgt, dass die Betroffenen hinsichtlich der Beschäftigung ein individuelles Recht unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 herleiten können, sondern dass die praktische Wirksamkeit dieses Rechts außerdem notwendig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraussetzt, das vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist (vgl. insbesondere Urteile Ergat, Rn. 40, Cetinkaya, Rn. 31, und Aydinli, Rn. 25).

53 Folglich kann der Umstand, dass die Voraussetzung für die Gewährung des fraglichen Rechts, im vorliegenden Fall die während einer gewissen Dauer bestehende Lebensgemeinschaft mit dem türkischen Arbeitnehmer, nicht mehr vorliegt, nachdem das Familienmitglied dieses Arbeitnehmers das in Rede stehende Recht erworben hat, dieses Recht nicht in Frage stellen (vgl. Urteil Aydinli, Rn. 26). Eine andere Auslegung des Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 entspräche nicht der Systematik und dem Zweck dieses Beschlusses, der die allmähliche Integration der türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen einer der Bestimmungen dieses Beschlusses erfüllen und damit in den Genuss der darin vorgesehenen Rechte kommen, im Aufnahmemitgliedstaat fördern soll (vgl. u.a. Urteil vom , Wählergruppe Gemeinsam, C-171/01, Slg. 2003, I-4301, Rn. 79).

Es fehlt jedoch eine ausdrückliche Entscheidung des Gerichtshofs, dass die für volljährige, von den Eltern getrennt lebende Kinder türkischer Arbeitnehmer getroffenen Aussagen auch für geschiedene Ehepartner des Stammberechtigten gelten. Zwar hat der Gerichtshof in der Rechtssache Eyüt (Urteil vom , C-65/98, Slg. 2000, I-4747) Zeiten des außerehelichen Zusammenlebens zunächst verheirateter, dann aber geschiedener Eheleute, die anschließend erneut die Ehe geschlossen haben, bei der Berechnung des für das Entstehen eines Anspruchs nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 maßgeblichen Zeitraums berücksichtigt. Er hat seine Entscheidung aber mit der zu keinem Zeitpunkt unterbrochenen Lebensgemeinschaft der Partner begründet, die in eine erneute Eheschließung mündete (Rn. 34 - 36). Zudem erkannte der Gerichtshof der Klägerin die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu einem Zeitpunkt zu, als sie bereits wieder mit dem Stammberechtigten verheiratet war. Die Entscheidung trifft hingegen keine Aussage zu einer Fallgestaltung wie der vorliegenden, in der die Lebensgemeinschaft zwischen den Eheleuten aufgrund ihrer Scheidung aufgelöst wurde und es darum geht, ob der geschiedene Ehepartner auch unter dieser Voraussetzung noch als Familienangehöriger im Sinne von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 angesehen werden kann.

aa) Gegen eine Übertragung der in dem Urteil in der Rechtssache Derin wiedergegebenen allgemein formulierten Aussagen auf geschiedene Eheleute könnte der Umstand sprechen, dass der frühere Ehepartner nach der Scheidung nicht mehr "Familienangehöriger" des Stammberechtigten im strengen Wortsinn ist - anders als die Kinder, die auch nach einer Trennung von den Eltern Mitglieder der Familie bleiben. Die Wortwahl in Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 spricht insofern eher gegen die Übertragung der Grundsätze. Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Ayaz (Urteil vom , C-275/02, Slg. 2004, I-8765, Rn. 38) zugleich klargestellt, dass Art. 7 ARB 1/80 keine Definition des "Familienangehörigen" eines Arbeitnehmers enthält. Bei der Bestimmung der Bedeutung des Begriffs in Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 soll nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf die Regelungen abzustellen sein, die den gleichen Begriff im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten verwenden; insbesondere auf die in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68 (Rn. 45). In der Rechtssache Reed (Urteil vom , C-59/85, Slg. 1986, 1283, Rn. 15 f.) hat er ausgeführt, dass "mangels eines Hinweises auf eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, die eine weite Auslegung rechtfertigen würde, und mangels eines gegenteiligen Hinweises in der Verordnung [1612/68] festzustellen [ist], dass Art. 10 der Verordnung durch die Verwendung des Wortes ,Ehegatte' ausschließlich auf eine Beziehung verweist, die auf der Ehe beruht".

Gegen eine Übertragung der Grundsätze, die der Gerichtshof für die Kinder türkischer Arbeitnehmer entwickelt hat, könnte ferner maßgeblich die Tatsache sprechen, dass zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Assoziationsratsbeschlusses 1/80 im September 1980 im Gemeinschaftsrecht kein eigenständiges Aufenthaltsrecht für geschiedene Ehegatten von Gemeinschaftsangehörigen existierte, wie es jetzt durch Art. 13 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG eingeführt worden ist. Auf die damalige, für die Gemeinschaftsangehörigen und ihre Familienangehörigen geltende Rechtslage dürfte insoweit abzustellen sein, da das Assoziationsabkommen und die zu seiner Umsetzung erlassenen Rechtsakte eine Angleichung der Rechtslage türkischer Arbeitnehmer an die damals gewährten Freizügigkeitsrechte der Gemeinschaftsangehörigen und nicht etwa eine dynamische Verweisung auf die zukünftige Entwicklung der Freizügigkeitsrechte erstrebten. Ziel der Vertragsparteien war es auch nicht, den Assoziationsberechtigten weitergehende Freizügigkeitsrechte einzuräumen als den Angehörigen der Gemeinschaft. Dies würde vielmehr die Frage nach dem Besserstellungsverbot nach Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei vom (BGBl II 1972, 385) - ZP - aufwerfen, dessen Inhalt der Gerichtshof in seinem Urteil vom in der Sache Derin näher präzisiert hat.

Unter Berücksichtigung dieser Auslegungsgrundsätze ist der Begriff des Familienangehörigen nach Auffassung des vorlegenden Gerichts auf der Grundlage der Vorstellungen der Vertragsparteien im Zeitpunkt der Fassung des Beschlusses ARB 1/80 im Jahr 1980 zu bestimmen. Nach damaligem Verständnis musste der Ehegatte eines Unionsbürgers, sofern er nicht selbst Freizügigkeit genoss oder aufgrund nationalen Rechts ein Aufenthaltsrecht erhielt, nach der Scheidung in sein Heimatland zurückkehren. Drittstaatsangehörige Ehepartner eines Gemeinschaftsangehörigen konnten nach Scheidung vom Stammberechtigten aus Art. 10 oder 11 der damals maßgeblichen Verordnung Nr. 1612/68 des Rates der EWG vom (ABl L 257 vom , S. 2) kein eigenständiges Aufenthaltsrecht ableiten (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom , C-291/05, Eind, Rn. 23 = NVwZ 2008, 402; Urteil vom , C-10/05, Mattern, Slg. 2006, I-3145, Rn. 25). Das den Familienangehörigen in den Artikeln 10 und 11 der Verordnung 1612/68 eingeräumte Aufenthalts- und Beschäftigungsrecht diente vielmehr dem Wanderarbeitnehmer, zu dessen Familie ein Drittstaatsangehöriger als Ehegatte oder unterhaltsberechtigtes Kind gehörte (Rn. 25). Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehepartners nach Auflösung der Ehe, wie es inzwischen in Art. 13 der Richtlinie 2004/38/EG enthalten ist, war den Vertragsparteien bei Abschluss des Assoziierungsabkommens ebenso fremd wie ein unbefristetes eigenständiges Aufenthaltsrecht, wie es inzwischen in Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG enthalten ist.

Dass ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Auflösung der Ehe Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht entnommen werden kann, zeigt ein Änderungsvorschlag der Kommission aus dem Jahre 1998. Die Kommission unterbreitete am sowohl einen Vorschlag für eine Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 (ABl EG C 344 vom , S. 9) als auch einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 68/360/EWG (ABl EG C 344 vom , S. 12). Ziel der Änderungsvorschläge war u.a. die Schaffung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten nach Auflösung der Ehe. Art. 10 Abs. 4 des Entwurfs zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 sah insoweit vor, dass drittstaatsangehörige Ehegatten im Fall der Auflösung der Ehe ihr Aufenthaltsrecht im Aufenthaltsmitgliedstaat behalten, wenn sie dort während dreier aufeinanderfolgender Jahre aufgrund des Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 ansässig waren.

Die näheren Voraussetzungen, unter denen das eigenständige Aufenthaltsrecht verliehen werden sollte, waren in dem neuen Art. 4a Abs. 2 und 3 des Entwurfs zur Änderung der Richtlinie 68/360/EWG geregelt. Familienangehörigen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, sollte das Aufenthaltsrecht gewährt werden, wenn sie nachweisen konnten, dass sie für sich und die Personen, denen sie Unterhalt gewähren, über ausreichende Existenzmittel sowie über eine Krankenversicherung verfügten, die alle Risiken im Aufenthaltsmitgliedstaat abdeckt (Art. 4a Abs. 2 des Entwurfs zur Änderung der Richtlinie 68/360/EWG). Familienangehörigen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, sollte das Aufenthaltsrecht bei Vorlage eines Arbeitsvertrags, einer Arbeitsbescheinigung oder der Erklärung, dass eine selbständige Tätigkeit ausgeübt werde, gewährt werden (Art. 4a Abs. 3 des Entwurfs zur Änderung der Richtlinie 68/360/EWG).

Dieser Entwurf, der später von der Kommission zurückgezogen wurde (ABl EG C 75 vom , S. 10 i.V.m. KOM (2004) 542 vom ), verdeutlicht, dass ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten nach Auflösung der ehelichen Gemeinschaft aus Art. 10 der Verordnung 1612/68/EWG nicht abgeleitet werden kann.

Aber auch eine dynamische Interpretation des Begriffs des Familienangehörigen, der zukünftige Entwicklungen des Freizügigkeitsrechts der Gemeinschaftsangehörigen einschließt, dürfte im vorliegenden Fall nicht zu einem assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrecht führen. Selbst wenn auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Scheidung im Jahr 2003 abzustellen wäre, hätte der Kläger seine Rechtsstellung als Familienangehöriger verloren. Denn die Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Stellung geschiedener Ehepartner von Unionsbürgern durch Art. 13 Abs. 2 oder Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG trat erst mit Wirkung zum Umsetzungstermin ein. Eine Übertragung dieser neuen Rechtsposition auf türkische Assoziationsberechtigte zum könnte am Eintritt des Rechtsverlusts im Jahr 2003 wohl nichts mehr ändern.

bb) Die Grundsätze, die der Gerichtshof zum Erhalt der einmal begründeten Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 bei Kindern nach Trennung vom Stammberechtigten aufgestellt hat, könnten dagegen auch auf den geschiedenen Ehepartner übertragen werden, wenn man auch beim Ehepartner davon ausginge, dass sich mit dem Erwerb eines eigenständigen Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechts nach drei- oder fünfjährigem Zusammenleben der zunächst nur auf den Stammberechtigten bezogene Aufenthaltszweck der Familienzusammenführung in ein eigenständiges Beschäftigungs- und Aufenthaltsinteresse des Ehepartners wandelte, das auch ohne Fortbestehen der familiären Lebensgemeinschaft geschützt werden soll.

b) Sofern der Gerichtshof die Frage 1 bejaht, soll durch die Frage 2 geklärt werden, ob unter den Voraussetzungen des vorliegenden Falles die Berufung des Klägers auf das aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 von seiner früheren Ehefrau abgeleitete Aufenthaltsrecht rechtsmissbräuchlich ist.

Die Frage ist bei einem Fortbestehen der Rechtsstellung als Familienangehöriger nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 auch im Fall der Scheidung entscheidungserheblich, denn dann wäre die vom Kläger angegriffene Ausweisungsverfügung wegen fehlender Beteiligung einer unabhängigen Stelle rechtswidrig. Die Verfügung würde hingegen nicht unter einem solchen Verfahrensmangel leiden, wenn sich der Kläger wegen Rechtsmissbrauchs nicht auf Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 berufen könnte.

Die aufgeworfene Frage bedarf der Klärung durch den Gerichtshof. Denn aus dessen bisheriger Rechtsprechung ergibt sich zwar, dass die Geltendmachung einer durch Täuschung oder fehlerhafte Angaben erwirkten Rechtsstellung - z.B. eine Scheinehe - zwecks Erlangung einer verbesserten aufenthaltsrechtlichen Stellung rechtsmissbräuchlich und daher geeignet sein kann, dem Betroffenen die Berufung auf eine solche Rechtsposition zu versagen. Es fehlt jedoch nach Kenntnis des vorlegenden Gerichts bislang eine Entscheidung des Gerichtshofs zu der Frage, ob die Berufung auf eine Rechtsposition auch nach deren rechtmäßigem Erwerb noch rechtsmissbräuchlich sein kann, weil sich der Berechtigte nachträglich als unwürdig erwiesen hat, diese Rechtsposition in Anspruch zu nehmen. Wegen des grundsätzlichen Unterschieds eines Rechtsmissbrauchs bei der Entstehung einer Rechtsposition und ihres Verlusts nach rechtmäßigem Erwerb ersucht das Bundesverwaltungsgericht den Gerichtshof insoweit um eine Klärung. Dabei ist sich das vorlegende Gericht bewusst, dass es grundsätzlich den nationalen Gerichten obliegt, ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Einzelfall festzustellen. Das schließt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aber nicht aus, diesbezügliche Fragen auch im Wege der Vorabentscheidung vorzulegen, wenn sie eine über den Einzelfall hinausgehende allgemeine Bedeutung haben und damit dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung geben (vgl. Halifax u.a., C-255/02, Slg. 2006, I-1609, Rn. 76 f.).

Der Gerichtshof hat sich in mehreren Verfahren mit der Frage der missbräuchlichen Berufung auf eine durch Ehe vermittelte Rechtsstellung, insbesondere auch durch Schließung einer Scheinehe, befasst (vgl. Urteile vom , Akrich C-109/01, Slg. 2003, I-9607, vom , Singh C-370/90, Slg. 1992, I-4265, vom , Kadiman C-351/95, Slg. 1997, I-2133 und vom , Kol C-285/95, Slg. 1997, I-3069). All diesen Fällen ist gemeinsam, dass ein Rechtsmissbrauch bei der durch eine Ehe vermittelten aufenthaltsrechtlichen Rechtsstellung bereits beim Erwerb der Rechtsstellung vorliegt. Keine der Entscheidungen betrifft die rechtsmissbräuchliche Ausnutzung einer rechtmäßig erworbenen Rechtsstellung. Das gilt auch für das Urteil des Gerichtshofs vom (Tum u. Dari, C-16/05, Rn. 64, NVwZ 2008, 61).

Unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs neigt der Senat zu der Auffassung, im vorliegenden Fall keinen Rechtsmissbrauch in der Berufung auf die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu sehen. Der Kläger hat die Rechtsstellung rechtmäßig erworben. Der Gerichtshof hebt in ständiger Rechtsprechung hervor, dass die aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleitete Rechtsstellung vom Fortbestehen ihrer Entstehungsvoraussetzungen unabhängig ist (vgl. Urteil vom , Derin, C 325/05, Rn. 52; Urteile Aydinli, a.a.O. Rn. 25, Ergat, a.a.O. Rn. 40 und Cetinkaya a.a.O. Rn. 31). Wird die Vorlagefrage 1 bejaht, führt auch eine Scheidung des Familienangehörigen von dem ihm die Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 vermittelnden Stammberechtigten nicht zum Verlust der rechtmäßig erworbenen Rechtsstellung. Den Sinn dieser Regelung wird man mit dem Gerichtshof dann darin zu sehen haben, dem Familienangehörigen nach Erwerb der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu ermöglichen, ein vom Stammberechtigten unabhängiges Leben zu führen (vgl. Aydinli a.a.O. Rn. 22 und Derin a.a.O. Rn. 49 - jeweils entschieden für das Verhältnis Kind - Eltern). Hat sich die Rechtsstellung aber verselbständigt, lässt sich die Auffassung vertreten, dass dann ein die Ausweisung (mit)begründendes Fehlverhalten gegenüber dem Stammberechtigten nicht anders zu bewerten ist als ein entsprechendes Fehlverhalten gegenüber einem Dritten. Denn die Ausweisung dient öffentlichen Zwecken; die vom Fehlverhalten des Ausländers ausgehenden Gefahren für die öffentliche Ordnung werden aber nicht dadurch größer, dass sein die Ausweisung (mit)verursachendes Fehlverhalten sich gegen die Stammberechtigte gerichtet hat ("Beziehungstat"). Im Fall des Rechtsmissbrauchs bei Eingehen einer Scheinehe oder anderweitiger Täuschung der Ausländerbehörde werden andere öffentliche Belange berührt als bei einem strafbaren Fehlverhalten gegenüber Privatpersonen, da die Ausländerbehörde in diesen Fällen auf falscher Grundlage entscheidet, während es im vorliegenden Fall an einer Täuschung der Behörde fehlt. Die Straftat gegenüber dem stammberechtigten Ehepartner dürfte vielmehr - wie eine sonstige Straftat - nur dann zum Verlust der Rechtsposition führen, wenn von dem Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 14 ARB 1/80 ausgeht und der Aufnahmestaat den Aufenthalt deshalb unter Beachtung der materiell- und verfahrensrechtlichen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts beendet.

Es ist aber auch die Auffassung vertretbar, dass sich ein Ausländer wie der Kläger mit einer schweren Straftat gegen die sein Aufenthaltsrecht ursprünglich vermittelnde Stammberechtigte als unwürdig erweist, eine privilegierte Rechtsstellung aus der geschiedenen Ehe mit der Stammberechtigten abzuleiten oder dass - wie der Beklagte meint - die Berufung auf eine solche Rechtsstellung - auch unter Berücksichtigung der Interessen des Tatopfers - gegen den ordre public verstößt.

Fundstelle(n):
JAAAC-84401