Leitsatz
[1] Zum Umfang der Bindungswirkung und zur Pflicht des Zivilgerichts zur Aussetzung seines Verfahrens.
Gesetze: SGB VII § 108
Instanzenzug: AG Weiden, 1 C 1294/06 vom LG Weiden i.d. OPf., 2 S 37/07 vom
Tatbestand
Der Kläger begehrt Ersatz immateriellen Schadens wegen einer am erlittenen Nasenbeinfraktur. Der bei einer Spedition beschäftigte Kläger hielt sich auf dem Betriebsgelände der Beklagten auf. Er hatte den von ihm gefahrenen LKW zum Beladen vor der Lagerhalle abgestellt. Als er mit einem Hubwagen Paletten auflud, stieß er im Bereich des mit einem Plastiklamellenvorhang verhängten Zugangs zur Lagerhalle mit einem von dem Mitarbeiter S. der Beklagten gesteuerten Gabelstapler zusammen.
Der Kläger hat behauptet, er sei von S. aufgefordert worden, mit dem Beladen zu beginnen, weil dieser zunächst noch andere Fahrzeuge habe beladen müssen. Nachdem er zwei Paletten aus der Halle herausgefahren und auf den LKW geladen habe, habe er wieder in die Halle gehen wollen. Dabei sei er von dem Gabelstapler angefahren worden. Aufgrund der erlittenen Verletzung sei er acht Tage lang arbeitsunfähig gewesen.
Die Beklagte hat vorgetragen, S. sei mit einem Warnton rückwärts von innen an das Tor herangefahren, wobei der Kläger wohl von dem Vorhang getroffen worden sein müsse. Der Kläger habe den Unfall selbst verschuldet, denn die Halle dürfe, wie ein dort befindliches Schild deutlich mache, durch das betreffende Tor zu Fuß nicht betreten werden.
Das Amtsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, eine Haftung der Beklagten sei gemäß §§ 104, 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII ausgeschlossen, weil sich der Unfall auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet habe. Das Landgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen, mit der der Kläger sein Klagebegehren weiterverfolgt.
Gründe
I.
Das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob sich der Unfall auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet hat. Es meint, eine Haftung der Beklagten sei jedenfalls nach § 104 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ausgeschlossen, denn der Kläger sei wie ein Beschäftigter der Beklagten tätig geworden, weil die Ladetätigkeit allein deren Aufgabe gewesen sei. Ob dem Kläger dadurch möglicherweise Unfallversicherungsschutz bei zwei Berufsgenossenschaften gewährt werde, sei unerheblich, weil er vorliegend lediglich einen Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens geltend mache, den er gegenüber der Berufsgenossenschaft seines Stammbetriebs nicht erheben könne.
II.
Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Die Revision ist unbeschränkt zugelassen, auch wenn das Berufungsgericht die Zulassung mit der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage begründet hat (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 292/03 - NJW 2005, 594, 596 m.w.N.; - NJW 2004, 2745, 2746; Thomas/Putzo-Reichold, ZPO, 28. Aufl., § 543 Rn. 10).
2. Das Berufungsgericht hat die Tatbestandsvoraussetzungen des § 104 SGB VII unter Verstoß gegen die Bestimmung des § 108 SGB VII für gegeben erachtet.
a) Nach dieser Vorschrift sind Gerichte außerhalb der Sozialgerichtsbarkeit bei Entscheidungen über die in den §§ 104 bis 107 SGB VII genannten Ansprüche hinsichtlich der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist, an unanfechtbare Entscheidungen der Unfallversicherungsträger und der Sozialgerichte gebunden. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf die Entscheidung darüber, ob ein Verletzter einen Unfall als Versicherter aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder Abs. 2 Satz 1 SGB VII erlitten hat (Senatsurteil BGHZ 166, 42, 44). Diese Bindung hat das Zivilgericht von Amts wegen zu berücksichtigen (Senatsurteil vom - VI ZR 70/06 - VersR 2007, 1131, 1132; Wussow/Schneider, Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl., Kap. 79, Rn. 5). Sie setzt der eigenen Sachprüfung - auch des Revisionsgerichts - Grenzen (Senatsurteile BGHZ 158, 394, 397; vom - VI ZR 158/93 - VersR 1993, 1540, 1541; vom - VI ZR 70/06 - aaO und vom - VI ZR 244/06 - VersR 2008, 255, 256). Das Zivilgericht ist an die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers bzw. des Sozialgerichts gebunden, und zwar unabhängig davon, ob es die von dem Sozialversicherungsträger getroffene Entscheidung inhaltlich für richtig hält (vgl. BAG, NZA 2007, 262, 265; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl., § 108 SGB VII, Rn. 6; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Rolfs, 8. Aufl., § 108 SGB VII, Rn. 1). Da das Zivilgericht die Bindung von Amts wegen zu berücksichtigen hat, sind Feststellungen dazu, in welchem Umfang die Bindungswirkung eingetreten ist, zwingend erforderlich (vgl. Senatsurteil BGHZ 158, 394, 396 f.).
Der Eintritt der Bindungswirkung nach § 108 Abs. 1 SGB VII setzt voraus, dass die Entscheidung für die Betroffenen unanfechtbar ist. Dies ist der Fall, wenn der Bescheid gemäß § 77 SGG bestandskräftig geworden oder das Sozialgerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist (Senatsurteil vom - VI ZR 244/06 - aaO). Den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, ob im Streitfall eine Entscheidung eines Unfallversicherungsträgers mit Bindungswirkung für die Parteien ergangen ist. Die Bestandskraft wäre gegenüber der Beklagten nur dann eingetreten, wenn diese in gebotener Weise an dem Verfahren beteiligt worden wäre, denn ihre Rechte dürfen durch die Bindungswirkung nach § 108 SGB VII nicht verkürzt werden. Um das rechtliche Gehör von Personen, für die der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung hat, zu gewährleisten, bestimmt § 12 Abs. 2 SGB X, dass sie zu dem Verfahren hinzuzuziehen sind. Für die Anwendung dieser Vorschrift reicht es aus, dass der Bescheid ihre Rechtsstellung berührt oder berühren kann (Senatsurteile BGHZ 129, 195, 200 noch zu § 638 RVO; 158, 394, 397; vom - VI ZR 70/06 - aaO; BSGE 55, 160, 162; BVerwGE 18, 124, 129). Diese Voraussetzungen liegen bei der Beklagten vor. Wird der Unfall nämlich nicht als Versicherungsfall anerkannt, muss sie, wenn keine Haftungsprivilegierung eingreift, gegebenenfalls für den Personenschaden des Klägers selbst aufkommen.
Hätte ein Verfahren zwischen dem Kläger und einem Unfallversicherungsträger stattgefunden, an dem die Beklagte nicht in der gebotenen Weise beteiligt war, so wäre das Verfahren mit einem Fehler behaftet, was zur Folge hätte, dass ein Bescheid an den Kläger der Beklagten gegenüber nicht bindend geworden wäre. In diesem Fall wäre das Berufungsgericht an einer Entscheidung über die Klage gehindert (vgl. Senatsurteile BGHZ 129, 195, 202; 158, 394, 397 f.; und vom 12. Juni 2007 - VI ZR 70/06 - aaO).
b) Eine eigenständige Prüfung, ob der Kläger gesetzlich oder freiwillig unfallversichert ist, sowie ob die Beklagte zwar grundsätzlich zivilrechtlich haftet, aber nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haftungsprivilegiert ist, ist dem Berufungsgericht vor Abschluss eines sozialrechtlichen Verfahrens grundsätzlich verwehrt (Senatsurteil vom - VI ZR 244/06 - aaO). Nach § 108 Abs. 2 SGB VII hat das Zivilgericht sein Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung nach Absatz 1 ergangen ist. Falls ein solches Verfahren noch nicht eingeleitet ist, bestimmt es dafür eine Frist, nach deren Ablauf die Aufnahme des ausgesetzten Verfahrens zulässig ist. Die Aussetzung steht nicht im Ermessen des Gerichts (Senatsurteil BGHZ 158, 394, 397).
Im Falle einer bestandskräftigen Entscheidung des Unfallversicherungsträgers des Stammbetriebs des Klägers wäre das Berufungsgericht nach § 108 Abs. 1 SGB VII gehindert, den Kläger als Wie-Beschäftigten der Beklagten nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII anzusehen und zu deren Gunsten die Haftungsfreistellung aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII eingreifen zu lassen. An die in einer solchen Entscheidung enthaltene Zurechnung des Arbeitsunfalls zum Stammbetrieb des Versicherten ist das Zivilgericht gebunden, weil sich die Bindungswirkung auch auf die Entscheidung über die Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers erstreckt (vgl. BSGE 17, 153, 155; - VersR 1990, 1161, 1162; vom - VI ZR 70/06 - VersR 2007, 1131, 1132; Kasseler Kommentar/Ricke, Sozialversicherungsrecht, 56. Erg. Lfg., § 108 SGB VII, Rn. 5). Es darf dann zum einen nicht mehr selbst prüfen, ob der Geschädigte als Versicherter für das Unternehmen tätig wurde, zu dem das Beschäftigungsverhältnis in der im sozialrechtlichen Verfahren ergangenen Entscheidung angenommen wurde (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 70/06 - aaO m.w.N.). Zum anderen darf es das Unfallereignis nicht mehr zugleich als einen infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII begründenden Tätigkeit erlittenen Arbeitsunfall ansehen mit der möglichen Folge der Haftungsprivilegierung auch des Unternehmers des Unfallbetriebs nach § 104 SGB VII. Nach dem Sinn und Zweck der in § 135 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII getroffenen Konkurrenzregelung soll es eine Doppelzuständigkeit von zwei Unfallversicherungsträgern nämlich regelmäßig nicht geben (BSG, NZS 2007, 38 f.; Wannagat/Waltermann, SGB, 102. Lfg., § 108 SGB VII, Rn. 4; Meike Lepa, Haftungsbeschränkungen bei Personenschäden nach dem Unfallversicherungsrecht, 2004, S. 73). Erst wenn eine im gegebenen Fall auch gegenüber der Beklagten bestandskräftige Entscheidung eines Sozialversicherungsträgers oder Sozialgerichts nicht erreicht werden kann, wird eine eigene Entscheidung des Zivilgerichts in Betracht zu ziehen sein.
Fundstelle(n):
NJW-RR 2008 S. 1239 Nr. 17
TAAAC-79870
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja