Leitsatz
Eine rechtswidrige bestandskräftige Ausweisung führt regelmäßig nicht zu einem Anspruch auf Rücknahme, sondern nur zu einem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung des Rücknahmebegehrens (Bestätigung des BVerwG 1 C 10.07 -).
Gesetze: EMRK Art. 8; LVwVfG BaWü § 48; VwVfG § 48; RL 90/364/EWG Art. 9
Instanzenzug: VG Stuttgart, VG 9 K 2997/05 vom VGH Mannheim, VGH 13 S 1045/07 vom Fachpresse: nein BVerwGE: nein
Gründe
I
Der Kläger, ein 1942 geborener italienischer Staatsangehöriger, erstrebt die Verpflichtung des Beklagten, seine Ausweisung zurückzunehmen.
Der Kläger heiratete im Jahr 1958 und ist Vater von acht mittlerweile volljährigen Kindern. Er zog im Jahr 1967 ohne seine Familie in das Bundesgebiet und ging verschiedenen Berufstätigkeiten nach.
Während seines Aufenthalts fiel er strafrechtlich insbesondere wegen Körperverletzungs- und Vermögensdelikten auf. Im Oktober 1982 wurde er wegen des Versuchs der beabsichtigten schweren Körperverletzung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Davon hat der Kläger zwei Drittel verbüßt; die Vollstreckung der Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt und später erlassen. Nach einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung im März 1991 zu drei Monaten Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, wurde er im Dezember 1998 erneut wegen eines derartigen Delikts zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Nach Verbüßung von zwei Dritteln wurde die Vollstreckung der Reststrafe durch Beschluss des Landgerichts Tübingen vom zur Bewährung ausgesetzt.
Das Regierungspräsidium Stuttgart wies den Kläger mit Bescheid vom aus und drohte ihm die Abschiebung an. Es ging zu seinen Gunsten davon aus, dass er Freizügigkeit genieße und § 12 AufenthG/EWG Anwendung finde. Den drei Verurteilungen wegen der Gewalttaten hätten nahezu identische Anlässe zugrunde gelegen; der Kläger habe es nicht hinnehmen können, dass sich seine jeweilige Partnerin von ihm getrennt habe. Wegen der Häufigkeit und Schwere der Taten bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr; diese Prognose werde auch durch den Aussetzungsbeschluss des Landgerichts Tübingen nicht widerlegt. Angesichts der strafrechtlichen Verurteilungen lägen die Voraussetzungen für eine Regel-Ausweisung vor. Umstände, die ausnahmsweise ein Absehen von der Regelausweisung rechtfertigten, ergäben sich weder aus den den Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten noch aus den persönlichen Verhältnissen des Klägers. Schließlich wäre selbst bei Annahme eines Ausnahmefalls eine Ermessensausweisung gerechtfertigt; auf die weitere Begründung wird Bezug genommen. Der Kläger hat den Bescheid nicht angefochten und reiste im Oktober 2000 nach Italien aus.
Nachdem er unerlaubt eingereist war und sich am selbst bei der Polizei gestellt hatte, wurde er am nach Italien abgeschoben.
Nach erneuter Wiedereinreise beantragte der Kläger am die Befristung und am die Rücknahme der Ausweisung. Diese sei als Regel-Ausweisung erlassen worden und schon deshalb zurückzunehmen.
Mit Bescheid vom lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart den Antrag auf Rücknahme der Ausweisung ab. Zur Begründung führte es aus, die wegen häufiger und schwerwiegender Straftaten insbesondere im Bereich der Gewaltkriminalität verfügte Ausweisung sei rein spezialpräventiv begründet und unter Beachtung des § 12 AufenthG/EWG ergangen. Hilfsweise sei zudem Ermessen ausgeübt worden. Nachdem der Kläger einen italienischen Strafregisterauszug ohne Eintragung vorgelegt hatte, wurden die Wirkungen der Ausweisung am mit sofortiger Wirkung befristet.
Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid vom aufgehoben und das beklagte Land verpflichtet, über den Antrag auf Rücknahme der Ausweisung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom zurückgewiesen. Der Senat könne offenlassen, ob die Ausweisung - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - nur aus formellen Gründen wegen Verstoßes gegen Art. 9 RL 64/221/EWG als rechtswidrig anzusehen sei oder ob darüber hinaus auch ein Verstoß gegen materielles Gemeinschaftsrecht vorliege. In jedem Fall stehe dem Kläger nur der vom Verwaltungsgericht zugesprochene Bescheidungs-, nicht aber ein Rücknahmeanspruch zu. Die bestandskräftige Ausweisung sei nicht durch das Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes am unwirksam geworden. Eine Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme ergebe sich weder aus nationalem Recht noch aus Europäischem Gemeinschaftsrecht oder Art. 8 EMRK. Schließlich habe der Kläger auch keinen Anspruch auf ein unbedingtes Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 LVwVfG.
Der Kläger erstrebt mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision die Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung. Er führt zur Begründung im Wesentlichen an, dass die Rücknahme der Ausweisung gemäß § 48 VwVfG wegen Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht zwingend geboten sei. Die Verpflichtung zur Rücknahme ergebe sich zudem aus Art. 8 EMRK, denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestehe die Pflicht, schon bei Erlass einer Ausweisung deren Befristung mit zu prüfen. Schließlich gebiete eine Interessenabwägung die Rücknahme, denn der Kläger könne ein Bleiberecht als Rentner nur beanspruchen, wenn die Ausweisung zurückgenommen werde.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
II
Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) entschieden, dass der Kläger - über den bereits zugesprochenen Bescheidungsanspruch hinaus - keinen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung hat. Der Senat folgt der Auffassung des Berufungsgerichts, dass sich das Rücknahmeermessen im vorliegenden Fall nicht derart verdichtet hat, dass nur die Rücknahme der Ausweisung ermessensfehlerfrei wäre.
Das in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen belegt, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch des Betroffenen bildet. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Facetten des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist ( BVerwG 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 <710>). Das ist vorliegend nicht der Fall; denn es gibt keinen Grund für die Annahme, das Ermessen bei der Entscheidung über die Rücknahme einer Ausweisung erweise sich durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes bzw. des Freizügigkeitsgesetzes/EU nach Sinn und Zweck als positiv intendiert ( BVerwG 1 C 10.07 - NVwZ 2008, 326 <328>, zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE bestimmt - Rn. 32).
Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht aber ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" erscheint, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt ( BVerwG 6 C 32.06 - a.a.O. m.w.N.). Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet - wie bereits gesagt - keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Dafür geben die nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts keine Anhaltspunkte; zudem wäre zu berücksichtigen, dass der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hat.
Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich ( BVerwG 6 C 32.06 - a.a.O.). Indes war die Ausweisungsverfügung vom im Erlasszeitpunkt nicht offensichtlich rechtswidrig.
Die Konsequenzen der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens mit Blick auf Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, der für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts unmittelbar galt und bei Ausweisungen die Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde gebot ("Vier-Augen-Prinzip"; vgl. dazu BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 <221 ff.> und vom - BVerwG 1 C 47.06 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 49; zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE bestimmt), waren damals nicht evident (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom - 11 S 1270/02 - juris Rn. 88 ff.). Dass die verfahrensrechtlichen Mindestgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG über die von den Verwaltungsgerichten gewährleistete Prüfung aller Tat- und Rechtsfragen unter Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung hinaus eine "erschöpfende Prüfung ... einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme" gewährleisten sollten, wurde erst mit den Entscheidungen des Gerichtshofs vom ( und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri - Rn. 103 ff.) deutlich.
Ob die Ausweisung vom materiellrechtlich rechtmäßig war, bedarf vorliegend mit Blick auf den streitgegenständlichen Rücknahmeanspruch keiner abschließenden Entscheidung. Im Ansatz zutreffend hat der Beklagte über die Ausweisung zumindest hilfsweise nach Ermessen entschieden. Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Revisionsverfahren ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass die Gewichtung der privaten Belange des Klägers gegenüber dem spezialpräventiv motivierten Ausweisungszweck als offensichtlich unverhältnismäßig anzusehen war. Schließlich war die Ausweisung - entgegen der Rechtsauffassung des Klägers - nicht schon deshalb rechtswidrig, weil ihre Wirkungen von der Ausländerbehörde nicht bereits bei Erlass befristet worden sind ( BVerwG 1 C 10.07 - a.a.O. Rn. 18). Im Übrigen ist im Hinblick auf die vom Kläger beanstandete Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass die Ausweisung vom Beklagten am mit sofortiger Wirkung befristet worden ist, so dass sie dem weiteren Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet nicht entgegensteht.
Die Grundsätze zur Verdichtung des Rücknahmeermessens werden - einen Verstoß der Ausweisung gegen Gemeinschaftsrecht zugunsten des Klägers unterstellt - durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Auch insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die den Beteiligten bekannte Entscheidung vom - BVerwG 1 C 10.07 - a.a.O. Rn. 36 Bezug (vgl. darüber hinaus auch den BVerwG 1 B 57.07 - juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Fundstelle(n):
CAAAC-79802