BSG Urteil v. - B 2 U 36/06 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGB VII § 182

Instanzenzug: LSG Baden-Württemberg, L 10 U 1323/04 vom SG Karlsruhe, S 14 U 164/02 vom

Gründe

I

Die klagende Stadt ist als land- und forstwirtschaftliche Unternehmerin Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft. Sie wendet sich gegen den ihr erteilten Beitragsbescheid für das Jahr 2000.

2 An dem für die Beitragserhebung maßgebenden Stichtag war die Klägerin Eigentümerin von 16,02 ha landwirtschaftlicher und 2.268,83 ha forstwirtschaftlicher Nutzfläche. Mit Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , später ersetzt durch Änderungsbescheid vom , erhob die Beklagte von der Klägerin für das Jahr 2000 Beiträge in Höhe von 73.258,57 DM (37.456,51 Euro). Wegen des Wegfalls des Bundeszuschusses für kommunale landwirtschaftliche Unternehmen war dieser Betrag mehr als doppelt so hoch wie der Beitrag des Vorjahres, der sich auf umgerechnet 18.962,34 Euro (34.453,65 Euro abzüglich Bundesmittel) belaufen hatte.

Die gegen den Beitragsbescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Karlsruhe abgewiesen (Urteil vom ). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat auf die Berufung der Klägerin das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und der Anfechtungsklage stattgegeben (Urteil vom ). Diese sei zwar unbegründet, soweit sie sich gegen die Versagung der in früheren Jahren gewährten Fördermittel des Bundes richte. Der Bescheid vom sei aber rechtswidrig, weil die der Beitragsberechnung zugrunde liegenden, übergangsweise fortgeltenden Bestimmungen der Satzung der früheren Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (LBG) Württemberg (Rechtsvorgängerin der Beklagten) nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügten und deshalb unwirksam seien. Regelungsdefizite gebe es zum einen bei den normativen Vorgaben für die Festlegung des bei landwirtschaftlichen Lohnunternehmen anzuwendenden Hebesatzes, zum anderen bei den Vorschriften über die Beitragsberechnung bei Jagden und Imkereien, bei denen nicht alle Aufwendungen für die jeweiligen Unternehmen in die Ermittlung des Hebesatzes einflössen. Auch wenn die Klägerin davon nicht unmittelbar betroffen sei, wirke sich eine unzureichende Beitragserhebung bei den genannten Betrieben mittelbar auf alle anderen landwirtschaftlichen Unternehmen aus, weil die fehlenden Mittel von ihnen aufgebracht werden müssten. Zu beanstanden sei auch, dass es durch die Satzungsregelungen zu einer verdeckten Subventionierung der forstwirtschaftlichen durch die landwirtschaftlichen Betriebe komme, von der die Klägerin als ganz überwiegend forstwirtschaftliches Unternehmen allerdings im Ergebnis profitiere.

Für eine übergangsweise Aufrechterhaltung der unwirksamen Satzungsbestimmungen zur Vermeidung schwerwiegender hauswirtschaftlicher Nachteile, wie sie das (BSGE 94, 38 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1) in einem vergleichbaren Fall für zulässig gehalten habe, gebe es keine Grundlage. Eine untergesetzliche Rechtsvorschrift, die gegen übergeordnetes Gesetzes- oder Verfassungsrecht verstoße, sei von Anfang an ungültig und könne nicht Grundlage des Verwaltungshandelns sein. Die dem Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung formeller Gesetze eingeräumte Befugnis, statt der Nichtigkeit zunächst nur die Unvereinbarkeit der betreffenden Vorschrift mit dem Grundgesetz festzustellen, um dem Gesetzgeber Zeit zur Schaffung einer rechtlich unbedenklichen Regelung zu geben, sei auf die fachgerichtliche Kontrolle gesetzesnachrangiger Rechtsvorschriften nicht übertragbar. Die dargestellte Auffassung des BSG führe dazu, dass Verstöße einer Satzung gegen höherrangiges Recht folgenlos blieben.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 182 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII). Die Klägerin führe einen einheitlichen Betrieb der Land- und Forstwirtschaft, sodass eine gesonderte Betrachtung der Beitragsbelastung der einzelnen Betriebsteile nicht zulässig sei. Dass die Beitragsgestaltung in der Satzung zu einer Subventionierung bestimmter Zweige der Land- und Forstwirtschaft durch andere führe, sei durch das in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung geltende Solidarprinzip gerechtfertigt. Den weiteren Beanstandungen des LSG habe sie in ihrer neuen, seit geltenden Satzung durch eine genauere Festlegung der Berechnungsmodalitäten Rechnung getragen. Soweit einzelne Bestimmungen der im konkreten Fall noch maßgebenden Satzung der früheren LBG Württemberg im Lichte der neueren Rechtsprechung des BSG als nicht ermächtigungskonform zu bewerten sein sollten, müssten sie gleichwohl entgegen der Auffassung des LSG für eine Übergangszeit aufrechterhalten werden, da sonst unkalkulierbare finanzielle Risiken für die Gesamtheit der Beitragszahler drohten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.

Wegen der Zulässigkeit des Rechtsmittels bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Zwar genügen die Ausführungen, mit denen die Beklagte sich zur Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Satzungsbestimmungen und deren Vereinbarkeit mit revisiblem Bundesrecht äußert, nicht den Erfordernissen des § 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil sie sich in einer bloßen Bezugnahme auf frühere, außerhalb des Revisionsverfahrens eingereichte Schriftsätze erschöpfen (zu den Anforderungen an die Revisionsbegründung siehe BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 12; Meyer-Ladewig in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 164 RdNr 9a-9c mwN). Ihren Standpunkt, dass der angefochtene Beitragsbescheid entgegen der Ansicht des LSG auf einer wirksamen Rechtsgrundlage beruhe, begründet die Revision aber hilfsweise auch mit der Notwendigkeit, die Satzung trotz etwaiger Mängel aufrechtzuerhalten, um die im Falle der Nichtigkeit zu erwartenden unkalkulierbaren Haushaltsrisiken zu vermeiden. In diesem Punkt setzt sie sich mit den Gründen des Berufungsurteils eingehend auseinander, sodass jedenfalls insoweit von einer hinreichenden Durchdringung des Prozessstoffs auszugehen ist.

Streitbefangen ist allein noch der nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils, aber vor Einlegung der Berufung ergangene Bescheid vom , der den ursprünglich angefochtenen Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom sowie alle nachfolgenden Änderungsbescheide ersetzt hat und gemäß § 96 Abs 1 des SGG an ihrer Stelle Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist (vgl zu der in Rede stehenden prozessualen Konstellation: Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 96 RdNr 7a mwN). Da der Bescheid vom vollständig an die Stelle der früheren, bis dahin den Gegenstand der Anfechtungsklage bildenden Bescheide getreten ist, ist mit seinem Erlass auch das Urteil des SG gegenstandslos geworden. Das LSG hat deshalb zu Recht allein über die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage entschieden.

In der Sache selbst hat die Revision Erfolg. Der Klage hätte nicht stattgeben werden dürfen, denn der Beitragsbescheid vom für das Jahr 2000 ist rechtmäßig. Dem Berufungsgericht ist zwar darin zuzustimmen, dass die Satzung der Beklagten, soweit sie für den streitigen Zeitraum die Beitragserhebung bei den land- und forstwirtschaftlichen Unternehmen im Zuständigkeitsbereich der ehemaligen LBG Württemberg regelt, den gesetzlichen Anforderungen nicht genügt. Seiner rechtlichen Bewertung, dies führe unmittelbar zur Nichtigkeit und Unanwendbarkeit der Satzung und zur Rechtswidrigkeit aller darauf beruhender Beitragsbescheide, kann indes nicht gefolgt werden.

Grundlage für die Erhebung der Beiträge der Klägerin zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung im Jahr 2000 ist die mit dem Zusammenschluss der Badischen LBG und der LBG Württemberg zur jetzigen LBG Baden-Württemberg am in Kraft getretene Satzung der Beklagten. Darin war vorgesehen (§ 40 der Satzung in ihrer ursprünglichen Fassung), dass für die Aufbringung der Mittel während einer Übergangszeit bis zu einer Neuregelung zunächst die einschlägigen Satzungsbestimmungen der Badischen LBG und der LBG Württemberg in deren früheren Zuständigkeitsbereichen weitergelten sollten. Im vorliegenden Fall sind deshalb für die Beitragsberechnung die der Satzung der Beklagten als Anhang beigefügten Bestimmungen der §§ 32 bis 39 der Satzung der früheren LBG Württemberg heranzuziehen. Bei der Satzung der Beklagten einschließlich des Anhangs handelt es sich um nicht revisibles Recht, da sich ihr Geltungsbereich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt und weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass von anderen LBGen außerhalb Baden-Württembergs inhaltlich gleiche Vorschriften erlassen worden sind. Der Senat hat die maßgeblichen Bestimmungen deshalb mit dem Inhalt zugrunde zu legen, den das Berufungsgericht festgestellt hat (§ 162 SGG).

Zu Recht beanstandet das LSG, dass die Regelungen über die Erhebung fester Beiträge für land- und forstwirtschaftliche Lohnunternehmen, für Jagden und für gewerbsmäßige Imkereien in § 37 der Satzung der früheren LBG Württemberg inhaltlich unbestimmt sind und bundesrechtlichen Vorgaben für eine transparente Beitragsgestaltung nicht genügen. Der Beitrag für Lohnunternehmen war nach § 37 Abs 1 der Satzung aus der Anzahl der im Unternehmen eingesetzten Arbeitskräfte und Maschinen unter Berücksichtigung der umzulegenden Aufwendungen für diese Unternehmen und dem Hebesatz zu ermitteln. In welcher Weise und mit welchem Gewicht die genannten Kriterien in die Berechnung eingehen sollten, welche Aufwendungen in welchem Umfang berücksichtigt werden sollten und wie der Hebesatz zu ermitteln war, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen. Vergleichbares gilt für § 37 Abs 2 der Satzung der LBG Württemberg, der die Beitragserhebung bei Lohnunternehmen regelte, die in nicht bei der Beklagten versicherten Unternehmen tätig wurden. Der Beitrag für die in einem solchen Unternehmen geleisteten Arbeitstage war nach einem Tausendsatz der in § 36 der Satzung festgelegten, nach Gefahrklassen gestaffelten Beitragsberechnungswerte zu bemessen, ohne dass zu ersehen war, wie der Tausendsatz bestimmt werden sollte. Die Regelungen über Jagden und gewerbsmäßige Imkereien (§ 37 Abs 3 und Abs 5 der Satzung der LBG Württemberg) gaben vor, dass der feste Beitrag aus der bejagbaren Fläche bzw der Zahl der im Jahresdurchschnitt gehaltenen Bienenvölker und dem Hebesatz zu berechnen war. Ob und in welchem Umfang die Aufwendungen für Jagden und Imkereien zu berücksichtigen waren und nach welchen Kriterien der Hebesatz zu bestimmen war, blieb offen. Die Konkretisierung der unbestimmten Bemessungsfaktoren, insbesondere aber die Festlegung der Hebesätze, war letztlich dem freien Ermessen des nach § 38 Abs 2 der Satzung der LBG Württemberg für die Festsetzung der Beiträge zuständigen Vorstands der Beklagten überlassen. Für den Beitragspflichtigen war die zu erwartende finanzielle Belastung aufgrund dieser Vorschriften nicht absehbar.

Der Senat hat bereits entschieden, dass eine solche Beitragsgestaltung mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Gesetzesvorbehalts und der Bestimmtheit von Gesetzen nicht vereinbar ist (BSGE 94, 38 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1 RdNr 15 mwN). Eingriffsakte der Verwaltung bedürfen danach einer normativen Grundlage, die so formuliert ist, dass die Folgen der Regelung für den Normadressaten erkennbar und berechenbar sind. Der Beitragsschuldner muss aus den die Beitragspflicht regelnden Rechtsvorschriften ersehen können, wie sich der Beitrag zusammensetzt und welche Belastung ihn persönlich erwartet, soweit dies im Rahmen eines Umlageverfahrens mit nachfolgender Bedarfsdeckung möglich ist (§ 152 Abs 1 SGB VII). Die Merkmale, nach denen sich der Beitrag bemisst, müssen im Rahmen des Möglichen in der Satzung so genau bestimmt werden, dass die Beitragslast vorausberechnet werden kann. Von dieser Verpflichtung kann der weite Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum, den das Gesetz der Selbstverwaltung hinsichtlich der Beitragsgestaltung in § 182 Abs 2 SGB VII einräumt, nicht entbinden. Gerade weil speziell die landwirtschaftlichen BGen unter zahlreichen Beitragsmaßstäben wählen und diese nach ihrem Ermessen mit einem Grundbeitrag oder einem Mindestbeitrag kombinieren können, besteht die Notwendigkeit, die jeweils maßgebenden Berechnungsgrundlagen in der Satzung hinreichend klar festzulegen, damit die Beitragserhebung für die Betroffenen transparent und nachvollziehbar ist. Delegieren darf der Satzungsgeber solche Festlegungen, die er selbst nicht treffen kann, weil zB eine für die Beitragsberechnung benötigte Rechengröße im Vorhinein nicht bekannt ist und daran anknüpfende Entscheidungen deshalb erst am Ende des Umlagejahres getroffen werden können. Auch insoweit müssen aber die Berechnungsmodalitäten aus der Satzung ersichtlich sein und nur die Umsetzung darf der Vertreterversammlung oder, sofern es sich um eine reine Rechenoperation handelt, auch dem Vorstand überlassen werden. Diesen Maßstäben genügen die beanstandeten Satzungsnormen nicht, weil sie dem Vorstand weit über bloße Rechenoperationen hinausreichende Entscheidungsbefugnisse einräumen, ohne dass dies aus sachlichen Gründen geboten wäre.

Durch die Regelungen über die Beitragserhebung bei Lohnunternehmen, Jagden und Imkereien ist die Klägerin beschwert, obwohl sie selbst in keinem der genannten Bereiche tätig ist. Nach den Feststellungen des LSG hat die Handhabung durch den Vorstand der Beklagten dazu geführt, dass insbesondere bei den Lohnunternehmen und den Imkereien während der streitigen Zeit die Leistungsaufwendungen durch das Beitragsaufkommen nicht gedeckt wurden und die in das Restumlagesoll eingehenden Fehlbeträge von den Unternehmen getragen werden mussten, von denen vom Umlagesoll abhängige Flächenwertbeiträge und Flächenbeiträge erhoben wurden. Da die Klägerin als - auch - landwirtschaftliche Unternehmerin zu diesem Kreis gehört, wirken sich die genannten Regelungen auf ihre Beitragsbelastung aus.

Angesichts der Tatsache, dass sich eine die Klagebefugnis begründende Beschwer der Klägerin schon aus der Anwendung der rechtswidrigen Satzungsbestimmungen ergibt, kann auf sich beruhen, ob eine etwaige Nichtigkeit dieser Vorschriften die Unwirksamkeit der gesamten Beitragssatzung zur Folge hätte und der Beitragsforderung gegenüber der Klägerin damit von vornherein die Grundlage entzogen wäre. Das LSG hat dies bejaht und mit einer analogen Anwendung des § 139 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) begründet; ein komplexes Regelwerk wie die Beitragssatzung lasse sich nicht sinnvoll aufteilen und wäre im Zweifel ohne die unwirksamen Teile mit demselben Inhalt nicht erlassen worden. Abgesehen von rechtssystematischen Einwänden gegen eine Analogiebildung unter Heranziehung des Rechtsgedankens aus § 139 BGB (siehe dazu Schlaeger, SGb 2007, 593 ff) wird eine solche Lösung der Bedeutung der Satzung eines Sozialversicherungsträgers mit einem umfangreichen Regelwerk und einer großen Zahl von Normadressaten nicht gerecht. Dass die Nichtigkeit einzelner Vorschriften die Unwirksamkeit der gesamten Satzung nach sich zieht, kann schon wegen der gravierenden Auswirkungen auf die Tätigkeit des Versicherungsträgers und die Ansprüche der Versicherten nicht die Regel sein, sondern nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht kommen, wenn die verbleibenden Bestimmungen ohne den nichtigen Teil keine sinnvolle Verwaltungstätigkeit mehr ermöglichen. Diese Annahme liegt im vorliegenden Fall fern.

Letztlich kommt es darauf nicht an, weil die Satzung der Beklagten einschließlich der in Bezug genommenen Regelungen in § 37 der Satzung der LBG Württemberg trotz der aufgezeigten Mängel insgesamt als wirksame Rechtsgrundlage der für das Jahr 2000 erteilten Beitragsbescheide anzusehen ist.

Der Senat hält an seiner bereits im Urteil vom - B 2 U 43/03 R - (BSGE 94, 38 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1 RdNr 18) zu einem vergleichbaren Sachverhalt vertretenen Rechtsauffassung fest, dass es aus zwingenden Gründen geboten sein kann, gesetzes- oder verfassungswidrige Vorschriften einer Satzung - vergleichbar der Situation bei verfassungswidrigen Gesetzen - ausnahmsweise weiter anzuwenden.

Soweit das Berufungsgericht grundsätzliche, rechtsdogmatisch begründete Einwände gegen die Möglichkeit der Aufrechterhaltung gesetzes- oder verfassungswidriger untergesetzlicher Rechtsvorschriften durch die Fachgerichte erhebt, ist ihm nicht zu folgen. Zwar ist eine Rechtsvorschrift, die gegen höherrangiges Recht verstößt, regelmäßig nichtig, also von Anfang an unwirksam, und deshalb vom Richter bei der Entscheidung über ein Rechtsschutzbegehren unberücksichtigt zu lassen. Von diesem Grundsatz müssen jedoch Ausnahmen zugelassen werden, wenn die Nichtanwendung der Norm, insbesondere auf in der Vergangenheit bereits abgeschlossene Sachverhalte zu untragbaren Ergebnissen führen würde, die von der gesetzes- und verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt sind als ein Zustand, bei dem es dem Normunterworfenen zugemutet wird, die Anwendung einer rechtswidrigen Norm für eine begrenzte Zeit hinzunehmen. Auch wenn das SGG dies nicht ausdrücklich vorsieht, gibt es keine durchgreifenden Bedenken, die dem BVerfG bei der verfassungsrechtlichen Normenkontrolle eröffnete Möglichkeit einer abgestuften Unvereinbarkeits- bzw Nichtigkeitsfeststellung auf die Kontrolle gesetzesnachrangiger Rechtsvorschriften durch die Fachgerichte zu übertragen. Für die abstrakte Normenkontrolle durch die Verwaltungsgerichte ist das trotz des vordergründig entgegenstehenden Wortlauts des § 47 Abs 5 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung im Grundsatz weithin anerkannt (vgl etwa Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl 2007, § 47 RdNr 126 mwN; Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl 2006, § 47 RdNr 357; OVG Berlin NVwZ 1983, 416, 418; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2001, 742, 749). Für die inzidente Normenkontrolle durch Sozialgerichte im Rahmen eines von ihnen zu entscheidenden sozialrechtlichen Streitverfahrens kann nichts anderes gelten.

Die in § 31 Abs 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes kodifizierten Befugnisse sind aus verfassungsrechtlichen Prinzipien herzuleiten und müssen daher jedem zur Anwendung einer Rechtsnorm berufenen Gericht im Rahmen seiner Entscheidungskompetenz zustehen. Allerdings beschränkt sich die Befugnis zur Durchbrechung des Nichtigkeitsgrundsatzes auf eng begrenzte Ausnahmefälle, in denen angesichts der andernfalls zu erwartenden schwerwiegenden Konsequenzen eine zeitlich begrenzte Normerhaltung verfassungsrechtlich geboten ist. Im Beitragsrecht der Sozialversicherung kommt das, wie der Senat entschieden hat, im Wesentlichen bei haushaltswirtschaftlich bedeutsamen Normen in Betracht, bei denen eine Rückabwicklung aller betroffenen Rechtsverhältnisse faktisch unmöglich ist und unkalkulierbare Haushaltsrisiken bis hin zu einer drohenden Zahlungsunfähigkeit des Versicherungsträgers vermieden werden müssen (BSGE 94, 38 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1 RdNr 19). Diesen Ausnahmecharakter verkennt das LSG, wenn es meint, die Rechtsprechung des Senats bewirke, dass gegen höherrangiges Recht verstoßende Satzungsbestimmungen generell keine Fehlerfolgen hätten. Auch wird dabei zu Unrecht unterstellt, dass eine rechtswidrige Satzung ohne zeitliche Begrenzung weiter angewendet werden dürfe. Die Fortgeltung nicht gesetzeskonformer Vorschriften beschränkt sich vielmehr auf eine Übergangszeit, die dem Normgeber Gelegenheit gibt, die Satzung geltendem Recht anzupassen.

Nach den vorstehenden Grundsätzen müssen die rechtswidrigen Vorschriften der Satzung der Beklagten als wirksame Rechtsgrundlage der für das Jahr 2000 erteilten Beitragsbescheide angesehen werden. Würde dem Berufungsgericht gefolgt, wäre die gesamte Beitragssatzung, jedenfalls soweit sie die im Zuständigkeitsbereich der früheren LBG Württemberg gelegenen land- und forstwirtschaftlichen Unternehmen betrifft, rückwirkend unwirksam. Alle Beitragsbescheide für den inzwischen sieben Jahre zurückliegenden Umlagezeitraum und für nachfolgende Umlagejahre bis zum Erlass einer rechtskonformen Satzung wären rechtswidrig und müssten auch in bindend abgeschlossenen Verfahren von der Beklagten nach § 44 Abs 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) nachträglich aufgegriffen werden. Dabei würden wegen der ersichtlich nicht vorliegenden Voraussetzungen des § 45 SGB X bisher begünstigte Unternehmer von der rückwirkenden Umgestaltung ausgenommen. Die entstehenden Beitragseinbußen für die zurückliegenden Jahre hätten die heute beitragspflichtigen Unternehmer zu tragen. Die Beklagte macht zu Recht geltend, dass solche Konsequenzen, die die Existenz des Versicherungsträgers gefährden können, vermieden werden müssen, weil sonst ein Zustand eintritt, der mit der gesetzes- und verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger zu vereinbaren ist als eine übergangsweise Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Bestimmungen.

Der Revision der Beklagten war danach stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 1 und Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Fundstelle(n):
PAAAC-79799