Leitsatz
[1] Das Grundrecht auf ein faires Verfahren gebietet es nicht, dass das angegangene Berufungsgericht sich Akten, die für die abschließende Prüfung seiner Zuständigkeit erforderlich sind, schneller als dies im ordentlichen Geschäftsgang erwartet werden kann, vorlegen lässt, damit die Berufungsschrift gegebenenfalls noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist an das zuständige Berufungsgericht weitergeleitet werden kann.
Gesetze: GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3; GVG § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b
Instanzenzug: AG Berlin-Schöneberg, 9 C 480/03 vom KG Berlin, 8 U 207/05 vom
Gründe
I.
Die Kläger, von denen einer seinen Wohnsitz im Zeitpunkt der Erhebung der Klage in der Schweiz hatte, nehmen die Beklagten als ihre Mieter auf Zustimmung zu einer Mieterhöhung in Anspruch. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben; das Urteil ist dem erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Beklagten am zugestellt worden.
Am haben die Beklagten dagegen beim Landgericht Berufung eingelegt und diese begründet. Die Geschäftsstelle des Landgerichts hat am beim Amtsgericht die Akten angefordert und am - noch vor Eingang der Akten - dem Kammervorsitzenden die Berufungs- und Berufungsbegründungsschrift vorgelegt. Am sind die erstinstanzlichen Akten bei der Gemeinsamen Briefannahmestelle der Justizbehörden Mitte eingegangen. Am 6. Oktober haben sie auf der Geschäftsstelle vorgelegen und sind einen Tag später erstmals dem Kammervorsitzenden zugeleitet worden.
Nachdem der zweitinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Kläger unter Hinweis auf § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auf Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung zum Landgericht hingewiesen hatte, haben die Beklagten am (einem Montag) Berufung zum Kammergericht eingelegt, wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufung begründet.
Das Kammergericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - teilweise unter wörtlicher Übernahme der Gründe eines Beschlusses des Oberlandesgerichts Düsseldorf (ProzRB 2003, 215) - ausgeführt:
Die Voraussetzungen für die Bewilligung der Wiedereinsetzung gegen die versäumte Berufungsfrist nach § 233 ZPO lägen nicht vor, weil die Versäumung der Frist auf einem Verschulden des zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Beklagten beruhe, der die Bestimmung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG übersehen habe.
Die Beklagten könnten sich nicht darauf berufen, dass die Berufung bereits zwei Wochen vor Ablauf der Berufungsfrist beim - unzuständigen - Landgericht eingegangen sei. Zwar könne ein unzuständiges Gericht unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs der Partei auf ein faires Verfahren verpflichtet sein, von sich aus fristgebundene Schriftsätze an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Dies könne aber nur dann gelten, wenn das zunächst angegangene Gericht seine Unzuständigkeit habe erkennen müssen.
Auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das dasjenige Gericht, welches im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasst gewesen sei, zur Weiterleitung fehlerhaft bei ihm eingereichter Rechtsmittelschriften für verpflichtet erachte, könnten sich die Beklagten nicht stützen, weil sie Berufung bei dem zuvor mit der Sache nicht befassten Landgericht eingelegt hätten. Ein jedes Gericht für verpflichtet zu halten, bei ihm eingegangene Rechtsmittelschriftsätze umgehend darauf hin zu überprüfen, ob möglicherweise die Zuständigkeit eines anderen Gerichts gegeben sei, und dann alsbald Maßnahmen zur Weiterleitung zu ergreifen, würde eine Überspannung der Fürsorgepflicht bedeuten. Eine Partei könne zudem allenfalls dann auf eine Weiterleitung ihres Schriftsatzes innerhalb der jeweiligen Frist vertrauen, wenn die fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden könne.
Für das Landgericht habe vor Eingang der Sachakten am keine Möglichkeit bestanden, seine Unzuständigkeit festzustellen. Darauf, dass das angefochtene Urteil der Berufungsschrift beigefügt gewesen sei und sich aus dessen Tenor und dem Berufungsschriftsatz für den Kläger zu 4 eine Anschrift in der Schweiz ergeben habe, komme es nicht an. § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG stelle auf den Wohnsitz zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage ab. Diese Prüfung sei hier erst nach Vorlage der Sachakten möglich gewesen.
2. Die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zwar zulässig (§ 574 Abs. 2, § 575 ZPO), hat in der Sache aber keinen Erfolg.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden (Beschluss vom - 1 BvR 2558/05, NJW 2006, 1579, unter II 2; vgl. auch Senatsbeschluss vom - VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776, unter III 1 b bb), dass sich aus dem Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und aus der daraus sich ergebenden verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang einer Rechtsmittelschrift ableiten lässt. Dies enthöbe die Verfahrensbeteiligten und deren Prozessbevollmächtigte ihrer eigenen Verantwortung für die Einhaltung der Formalien und überspannte die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens. Es wäre mit dem Grundsatz nicht vereinbar, dass sich die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, nicht nur am Interesse des Rechtsuchenden an einer möglichst weit gehenden Verfahrenserleichterung orientieren kann, sondern auch berücksichtigen muss, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss.
Mit dieser Rechtsprechung steht die Entscheidung des Berufungsgerichts in Einklang. Der Vorsitzende der Berufungskammer beim Landgericht kann danach nicht als verpflichtet angesehen werden, bei einer noch innerhalb der Berufungsfrist an ihn erfolgenden Vorlage einer Berufungs- oder Berufungsbegründungsschrift, aus denen sich - wie im vorliegenden Fall - gewichtige Anhaltspunkte für einen Auslandsbezug ergeben, der eine Berufungszuständigkeit des Oberlandesgerichts nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG begründen kann, die abschließende Prüfung der Zuständigkeit so zu beschleunigen, dass gegebenenfalls die Berufungsschrift noch vor Fristablauf an das Oberlandesgericht weitergeleitet werden kann. Da es nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auf den allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit in erster Instanz, also regelmäßig im Zeitpunkt der Zustellung der Klageschrift nach § 253 Abs. 1, § 261 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO ankommt, der von der aktuellen Anschrift einer Partei im Zeitpunkt des Urteilserlasses und der Berufungseinlegung durchaus abweichen kann, reicht die Kenntnis der Berufungs- und der Berufungsbegründungsschrift sowie des angefochtenen Urteils in vielen Fällen - so auch hier - zur endgültigen Beurteilung der Zuständigkeit nicht aus, sondern bedarf es einer Kenntnis der Akten, insbesondere der Angabe des Wohnsitzes in der Klageschrift (BVerfG, aaO). Einer Verpflichtung des Vorsitzenden, sich diese Akten schneller, als dies im ordentlichen Geschäftsgang zu erwarten wäre, vorlegen zu lassen oder sich bei dem Berufungsführer oder dem Gericht erster Instanz nach dem Wohnsitz bei Zustellung der Klage zu erkundigen, wie sie die Rechtsbeschwerde annehmen möchte, würde die Verfahrensbeteiligten ihrer primären Verantwortung für die Bestimmung des zuständigen Rechtsmittelgerichts entheben.
b) Dass im ordentlichen Geschäftsgang vor dem mit einem Eingang der Akten beim Landgericht zu rechnen war, macht auch die Rechtsbeschwerde nicht geltend. Sie rügt lediglich, dass die Akte dem Vorsitzenden erst am , ausweislich der Akten sogar nicht vor dem , vorgelegt worden ist, als die Berufungsfrist bereits abgelaufen war. Ob damit die Prozessförderungspflicht des Gerichts verletzt worden ist, kann jedoch dahinstehen. Denn die Beklagten konnten in keinem Fall darauf vertrauen, dass die Akten nach Eingang bei der Briefannahmestelle des Landgerichts am dem Vorsitzenden so rechtzeitig vorgelegt werden würden, dass mit einem Eingang der Berufungsschrift beim Kammergericht noch vor Ablauf der zwei Tage später - am - endenden Berufungsfrist zu rechnen war.
Dafür waren ein Transport der Akten von der Briefannahmestelle zur zuständigen Geschäftsstelle des Landgerichts, sodann eine Vorlage der Akten an den Vorsitzenden, die abschließende Prüfung der Zuständigkeit jedenfalls durch den Vorsitzenden (wenn nicht durch die Kammer) und eine darauf beruhende Weiterleitungsverfügung des Vorsitzenden, die Ausführung dieser Verfügung durch die Geschäftsstelle und ein Transport der Akten zum Kammergericht erforderlich. Die Beklagten konnten nicht erwarten, dass dies im ordentlichen (nicht durch besondere Anordnungen beschleunigten) Geschäftsgang innerhalb von maximal drei Arbeitstagen abgeschlossen sein würde (vgl. , NJW 2005, 2137, unter II 2 c; Beschluss vom - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343, unter II 2). Es bedarf deshalb auch keiner Entscheidung, ob der Vorsitzende überhaupt berechtigt gewesen wäre, die von einer anwaltlich vertretenen Partei ausdrücklich zum Landgericht eingelegte Berufung wegen Unzuständigkeit ohne Weiteres an das Kammergericht weiterzuleiten, ohne der betroffenen Partei rechtliches Gehör zu gewähren und ihr Gelegenheit zu geben, die von ihr getroffene Wahl des Rechtsmittelgerichts zu begründen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
HFR 2008 S. 1082 Nr. 10
NJW 2008 S. 1890 Nr. 26
VAAAC-77574
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja